Chapter 6: FÜNFTES BUCH - Vom Winde verweht (2023)

FÜNFTES BUCH

Das Leben gefiel ihr jetzt gut, besser als je in der ganzen Zeit seit dem Frühling vor dem Kriege. New 0rleans war eine fremdartige, schillernde Stadt, und Scarlett genoß sie mit der ungestümen Freude eines lebenslänglichen Gefangenen, der begnadigt worden ist Die Schieber plünderten die Stadt aus, viele redliche Leute waren aus ihrem Heim vertrieben worden und wußten nicht, woher sie die nächste Mahlzeit nehmen sollten - und auf dem Stuhl des Gouverneurs saß ein Sklaven. Aber das New 0rleans, das Rhett ihr zeigte, war der vergnügteste 0rt, den sie je gesehen hatte. Die Leute, die sie traf, hatten offenbar so viel Geld, wie sie nur haben wollten, und überhaupt keine Sorgen. Rhett stellte sie Dutzenden von Damen vor, hübschen Frauen in prächtigen Gewändern, Frauen mit weichen Händen, die nichts von harter Arbeit wußten, Frauen, die über alles lachten und sich nie über dumme, ernste Fragen und schwere Zeiten unterhielten. Und die Männer, die sie traf, wie waren sie aufregend! Ganz anders als die Männer von Atlanta. Sie rissen sich darum, mit ihr zu tanzen und ihr die gewagtesten Höflichkeiten zu sagen, als sei sie eine gefeierte junge Schönheit.

Die Männer hatten denselben harten, rücksichtslosen Gesichtsaus druck wie Rhett. Ihre Augen waren immer auf der Hut wie bei Menschen, die schon zu lange in steter Gefahr gelebt haben, um wieder ganz arglos sein zu können. Keine Vergangenheit schienen sie zu haben und keine Zukunft Sie lenkten höflich ab, wenn Scarlett sie im Laufe der Unterhaltung fragte, wer, wie und wo sie gewesen wären, ehe sie nach New 0rleans kamen. Schon das war ihr fremd, denn in Atlanta hatte jeder neue Ankömmling, wenn er aus gutem Hause war, große Eile, sich auszuweisen, voller Stolz von Heimat und Familie zu erzählen und in dem verwickelten Netz von Verwandtschaft, das sich über den ganzen Süden breitete, seine Fäden aufzuweisen.

Aber hier war es eine schweigsame Gesellschaft, in der jeder seine Worte behutsam wählte. Zuweilen, wenn Rhett mit ihnen allein und Scarlett im Nebenzimmer war, hörte sie Gelächter und Bruchstücke von Unterhaltungen, die sie nicht verstand, halbe Worte und rätselhafte Namen. Von Kuba und Nassau in den Blockadetagen war die Rede, von Goldgraben, Waffenschmuggel und Freibeuterei. Einmal brach bei ihrem plötzlichen Erscheinen ein Gespräch über die Schicksale von Quantrills Guerillabande kurz ab, und sie erhaschte nur noch die Namen von Frank und Jesse James.

Alle aber hatten sie gute Manieren und einen noch besseren Sch neider. Und augenscheinlich zollten sie alle Scarlett große Bewunderung. Deshalb machte es ihr wenig aus, wenn sie darauf beharrten, ausschließlich in der Gegenwart zu leben. Worauf es wirklich ankam, war, daß sie Rhetts Freunde waren und große Häuser und schöne Equipagen hatten. Sie fuhren mit ihr und Rhett aus und gaben Gesellschaften ihnen zu Ehren. Scarlett hatte sie alle sehr gern. Rhett lachte, als sie ihm das sagte.

»Das habe ich mir gedacht«, erwiderte er belustigt.

»Warum denn nicht?« Wie immer, wenn er lachte, wurde sie argwöhnisch.

»Es sind alles fragwürdige, minderwertige Existenzen, schwarze Schafe, Gauner und Abenteurer, eine Aristokratie von Schiebern. Sie haben alle mit Nahrungsmittelspekulationen ihr Vermögen gemacht, genau wie dein dich liebender Gatte, mit zweifelhaften Regierungsaufträgen oder auf sonstigen dunklen Wegen, in die man lieber nicht hineinleuchtet.«

»Das glaube ich nicht, du ziehst mich nur auf. Es sind doch sehr anständige Leute.«

»Die anständigen Leute in der Stadt nagen am Hungertuch«, erwiderte Rhett, »und wohnen vornehm in ein paar Löchern, und nicht einmal dort würden sie mich empfangen. Siehst du, Kind, während des Krieges habe ich hier einige meiner ruchlosen Geschäfte abgewickelt, und die Leute haben ein verteufelt langes Gedächtnis! Scarlett, du bist mir ein wahres Labsal. Unfehlbar bringst du es fertig, dir die verkehrten Leute und verkehrten Dinge herauszusuchen.«

»Sie sind aber doch deine Freunde.«

»Ja, aber ich habe nun einmal an Schuften meine Freude. Meine frühe ste Jugend habe ich als Spieler auf einem Flußschiff verbracht, und ich verstehe solche Naturen. Aber mir ist auch klar, was sie sind. Du hingegen ...«, er lachte wieder, »du hast keine Witterung für Menschen und kannst wertlos und wertvoll nicht voneinander unterscheiden. Manchmal kommt es mir so vor, als wären die einzig vornehmen Damen, mit denen du überhaupt je umgegangen bist, deine Mutter und Miß Melly, und keine von ihnen scheint einen großen Eindruck auf dich gemacht zu haben.«

»Melly! Aber die ist doch alltäglich wie das liebe Brot und immer spießig angezogen und sagt nicht ein Wort, das von ihr selber stammt.«

»Ach, verschonen Sie mich mit Ihrer Eifersucht, Mylady. Schönheit macht noch keine Dame und Kleider keine Vornehmheit.«

»Nein, wirklich? Warte nur, Rhett, das will ich dir schon zeigen. Wir haben jetzt Geld, und ich werde die vornehmste Dame unter der Sonne sein.«

»Da bin ich aber neugierig«, sagte er.

Noch aufregender als ihr Umgang waren die Kleider, die Rhett ihr kaufte, und deren Farben, Stoffe und Muster er selber aussuchte. Reifröcke waren nicht mehr Mode. Die neuen Modelle waren reizend. Die Röcke waren vorn straff gezogen und hinten über eine Turnüre drapiert und mit Blumenkränzen, Schleifen und Spitzenfallen garniert. Sie dachte an die diskreten Reif rocke der Kriegsjahre und genierte sich ein bißchen, die neumodischen Röcke zu tragen, weil sich unleugbar der Bauch darin abzeichnete. Und die niedlichen kleinen Hüte, die in Wirklichkeit gar keine Hüte waren, sondern nur ein winziges flaches Etwas, mit Früchten, Blumen, wippenden Federn und flatternden Bändchen überladen, und tief über dem einen Auge getragen wurden.

Wäre Rhett doch nur nicht so töricht gewesen und hätte die falschen Löckchen verbrannt, mit denen sie ihrem Knoten aus dem indianerhaft glatten Haar, der hinten aus den kleinen Hüten hervorsah, etwas nachhelfen wollte!

Und die feine Wäsche, die in Klöstern genäht wurde! Bezaubernd war sie, und Scarlett hatte eine ganze Reihe Garnituren davon, Hemden, Nachthemden und Unterröcke aus feinstem Leinenbatist mit zierlicher Stickerei und winzigen Säumen. Und die Seidenschuhe, die Rhett ihr kaufte. Drei Zoll hohe Hacken hatten sie und riesige glitzernde Schnallen. Und seidene Strümpfe, ein Dutzend Paare und keins davon mit baumwollenemRand. Wasfür Reichtümer!

Verschwenderisch kaufte sie Geschenke für die Familie ein. Einen zottigen Bernhardinerhund für Wade, der sich schon immer einen gewünscht hatte, ein Angorakätzchen für Beau, ein Korallenarmband für die kleine Ella, einen schweren Halsschmuck mit Mondsteintropfen für Tante Pitty, eine vollständige Shakespeare-Ausgabe für Melanie und Ashley, eine vornehme Livree und einen seidenen Kutscherzylinder mit einer großen Kokarde an der Seite für 0nkel Peter, dazu Kleiderstoffe für Dilcey und Cookie und kostspielige Gaben für jedermann auf Tara.

»Was hast du denn für Mammy gekauft?« fragte Rhett, als er die Geschenke durchsah, die auf dem Bett in ihrem Hotelzimmer ausgebreitet lagen, und den Bernhardiner und das Kätzchen ins Ankleidezimmer brachte.

»Nicht ein Stück. Sie ist zu scheußlich. Warum soll ich ihr etwas mitbringen, wo sie uns Maultiere schimpft?«

»Daß du es immer krummnimmst, wenn dir jemand die Wahrheit sagt, mein Herz! Du mußt Mammy etwas mitbringen. Es bräche ihr das Herz, wenn du es nicht tätest, und ein Herz wie ihres ist zu kostbar, als daß es brechen dürfte.«

»Ich bringe ihr nicht ein Stück mit. Sie hat es nicht verdient.«

»Dann kaufe ich ihr etwas. Ich weiß noch, wie meine Mammy immer sagte, wenn sie in den Himmel komme, wolle sie einen Taftunterrock anhaben, der so steif sei, daß er allein stehen könne, und so raschelte, daß der Herrgott meinen würde, es seien die Engelsflügel. Ich kaufe Mammy roten Taft und laß einen eleganten Unterrock für sie machen.«

»Sie wird ihn von dir nicht annehmen und lieber sterben als ihn tragen.«

»Davon bin ich auch überzeugt, aber mir liegt daran, ihr etwas mitzubringen, und deshalb soll sie ihn haben.«

Die Läden in New 0rleans waren prunkvoll und aufregend. Mit Rhett Einkäufe zu machen, war ein richtiges Abenteuer. Auch mit ihm zu essen, war ein Abenteuer, noch aufregender als die Einkäufe.

Er wußte, was man bestellen mußte und wie es zubereitet sein sollte. Der Wein, die Schnäpse und der Sekt aus New 0rleans waren ihr neu und belebten sie. Sie kannte ja nur selbstgemachten Brombeer- und Fuchstraubenwein und den Branntwein aus Tante Pittys 0hnmachtsflasche. Ach, das herrliche Essen, das Rhett bestellen konnte! In New 0rleans waren die Mahlzeiten das Schönste von allem. Im Andenken an die g rausamen Hungertage von Tara und die Lebensmittelknappheit der späteren Zeit hatte Scarlett das Gefühl, sie könne von diesen üppigen Gerichten nie genug bekommen. Eibisch-Schoten und kreolische Langusten, Trauben in Wein, Austern in lockeren Pasteten mit sämiger Soße, Pilze, Schweser und Truthahnleber, pikant in Öl und Zitrone gebackener Fisch. Ihr Appetit versagte nie. Jedesmal, wenn sie an die ewigen Erdnüsse, getrockneten Erbsen und Süßkartoffeln auf Tara dachte, verspürte sie aufs neue den Drang, in kreolischen Leckerbissen zu schlemmen.

»Du ißt, als wäre jede Mahlzeit deine letzte«, sagte Rhett. »Iß den Teller nicht mit, Scarlett, in der Küche gibt es sicher mehr. Du brauchst es nur dem Kellner zu sagen. Wenn du ein solcher Vielfraß bleibst, wirst du so feist werden wie die kubanischen Damen, und ich lasse mich von dir scheiden.«

Aber sie streckte ihm nur die Zunge aus und bestellte noch mehr von der schweren Torte mit Schokoladenüberguß und Meringefüllung.

Es war eine Lust, so viel Geld auszugeben, wie man wollte, und nicht die Cents zu zählen, weil man sie sparen mußte, um Steuern zu zahlen und Maultiere zu kaufen; eine Lust, mit reichen, vergnügten Leuten zusammen zu sein und nicht mit vornehmen Armen wie in Atlanta. Eine Lust war es, rauschende Brokatkleider zu tragen, die die Taille vorteilhaft betonten und den ganzen Hals frei ließen, ebenso die Arme und nicht allzuwenig vom Busen, und von den Männern bewundert zu werden. Eine Lust, alles zu essen, was man wollte, ohne daß jemand nörgelte, man benähme sich unfein. Und dann der Spaß, so viel Champagner zu trinken, wie es ihr beliebte! Das erstemal trank sie zuviel und schämte sich, als sie am nächsten Morgen mit grausigen Kopfschmerzen aufwachte und sich erinnerte, auf dem ganzen Rückweg ins Hotel im offenen Wagen auf den Straßen von New 0rleans »Die schöne blaue Flagge« gesungen zu haben. Noch niemals hatte sie eine angetrunkene Dame gesehen; die einzige Betrunkene, deren sie sich zu entsinnen vermochte, war die Watling an dem Tage, da Atlanta fiel. Sie wußte kaum, wie sie Rhett unter die Augen treten sollte, so groß schien ihr ihre Schande. Aber er lachte nur darüber. Er lachte über alles, was sie tat, als sei sie ein spielendes Kätzchen.

Aufregend war es überhaupt, mit ihm auszugehen, denn er sah vorzüglich aus. Sie hatte nie so recht auf seine Erscheinung geachtet, und in Atlanta war man immer so sehr mit seinen Mängeln beschäftigt gewesen, daß von seinem Äußeren nie die Rede war. Aber hier in New 0rleans bemerkte sie, wie andere Frauen ihm nachschauten und welchen Eindruck es auf sie machte, wenn er sich über ihre Hand beugte. Die Entdeckung, daß andere Frauen sich für ihren Mann interessierten und sie womöglich beneideten, machte sie nun auf einmal stolz, wenn sie an seiner Seite ging.

»Wir sind ja wohl ein schönes Paar«, dachte sie mit Vergnügen.

Ja, die Ehe war ein Vergnügen, wie Rhett vorausgesagt hatte, und nicht nur das, sondern sie lernte auch viel. Das war an sich schon merkwürdig, weil sie gemeint hatte, das Leben könne ihr nicht viel Neues mehr zeigen. Jetzt aber kam sie sich wie ein Kind vor, dem jeder Tag eine andere Entdeckung beschert.

Zuerst lernte sie, daß die Ehe mit Rhett etwas ganz anderes war als die Ehen mit Charles oder Frank. Die beiden hatten sie mit Hochachtung behandelt und sich vor ihren Zornesausbrüchen gefürchtet. Sie hatten um ihre Gunst geworben, und wenn es ihr beliebte, hatte sie sich ihnen huldreich gezeigt. Rhett hart keine Angst vor ihr und wohl auch nicht allzuviel Hochachtung, wie ihr häufig schien. Was er wollte, das tat er, und wenn es ihr nicht gefiel, lachte er sie einfach aus. Sie liebte ihn nicht, aber es war zweifellos aufregend, mit ihm zu leben. Das Aufregendste an ihm war, daß er sich auch in den Ausbrüchen seiner Leidenschaft, die manchmal mit Grausamkeit und manchmal mit aufreizender Lustigkeit gewürzt waren, immer zurückzuhalten und seine Erregung immer noch zu zügeln schien.

»Das kommt wahrscheinlich, weil er mich nicht richtig liebt«, dachte sie und war es ganz zufrieden. »Es wäre mir schrecklich, wenn er sich einmal in irgendeiner Richtung völlig gehen ließe.« Aber der Gedanke daran reizte doch ihre Neugierde in höchstem Maße.

In dem Zusammenleben mit Rhett erfuhr sie viel über ihn und hatte doch gedacht, sie kenne ihn schon gründlich. Seine Stimme lernte sie kennen, die bald seidenweich wie ein Katzenfell, bald aber hart und spröde klingen und von Flüchen knattern konnte. Mit scheinbar aufrichtiger Teilnahme konnte er Geschichten von Mut und Ehre, von Tugend und Liebe aus den fernen 0rten, wo er gewesen war, erzählen und dann mit kältestem Zynismus die wüstesten Anekdoten daranfügen. Eigentlich durfte kein Mann seiner Frau so etwas erzählen, aber es war unterhaltsam und kam einem rohen und ursprünglichen Zug ihres Wesens entgegen. Eine Weile konnte er der leidenschaftlichste, zärtlichste Liebhaber sein und gleich darauf sich in einen spottenden Teufel verwandeln, der das Pulverfaß in ihr zur Explosion brachte und sich freute, wenn die Funken stoben. Sie machte die Erfahrung, daß seine Liebenswürdigkeiten immer zweischneidig waren und seine zärtlichsten Flüsterworte immer etwas Vieldeutiges und Verdächtiges hatten. Kurz, in diesen vierzehn Tagen in New 0rleans lernte sie alles an ihm kennen, nur nicht, was er in Wirklichkeit war.

Manchmal schickte er morgens das Mädchen weg und brachte ihr selbst das Frühstück. Dann fütterte er sie wie ein Kind, nahm ihr die Haarbürste aus der Hand und bürstete ihr das lange dunkle Haar, bis es knisterte und Funken sprühte. An anderen Tagen wieder riß er sie brutal aus tiefem Schlaf, zog ihr alle Decken weg und kitzelte ihr die nackten Fußsohlen. Zuweilen hörte er ernsthaft zu, wenn sie ihm Einzelheiten aus ihrer geschäftlichen Tätigkeit erzählte, und nickte beifällig zu ihrem Scharfsinn. Dann wieder nannte er ihre Art des Gelderwerbs Dreckfegerei, Straßenraub und Erpressung. Er nahm sie mit ins Theater und flüsterte ihr, um sie zu ärgern, ins 0hr, solche Vergnügungen werde Gott wohl kaum billigen, und in die Kirche, wo er mit unterdrückter Stimme unanständige Witze er zählte und ihr dann Vorwürfe machte, wenn sie lachte. Er ermunterte sie, offen ihre Meinung zu sagen und sich schnippisch und gewagt zu geben. Sie schnappte beißende Worte und spöttische Redensarten von ihm auf und lernte, sie selber mit Genuß zu gebrauchen, weil sie ihr ein Machtgefühl über die Menschen verliehen. Aber sie besaß nicht den Humor, der seine Bosheit milderte, und nicht sein Lächeln, mit dem er sich selbst zugleich mit den anderen verspottete.

Er lehrte sie wieder spielen, was sie fast vergessen hatte. Das Leben war gar zu ernst und grausam gewesen. Er verstand zu spielen und riß sie mit sich fort. Aber er spielte niemals wie ein Junge. Er war ein Mann, und alles, was er tat, gemahnte sie daran. Sie konnte nicht von der Höhe weiblicher Überlegenheit auf ihn herabschauen und lächeln, wie die Frauen von jeher über die Possen der Männer, die im Herzen noch Knaben sind, über das Kind im Manne gelächelt haben.

Das ärgerte sie ein bißchen, denn wie schön wäre es doch, sich Rhett überlegen fühlen zu können! Alle anderen Männer, die sie gekannt hatte, ließen sich mit einem herablassenden »Wie kindlich!« abtun: ihr Vater, die Zwillinge Tarleton mit ihren Neckereien und gerissenen Streichen, die kleinen Fontaines mit ihren kindischen Wutanfällen, Charles, Frank und alle, die ihr während des Krieges den Hof gemacht hatten - alle außer Ashley. Nur Ashley und Rhett entzogen sich ihrem Verständnis und ihrer Überlegenheit, denn beide waren erwachsen und hatten keinerlei knabenhafte Züge in ihrem Wesen.

Sie verstand Rhett nicht und gab sich auch weiter keine Mühe, ihn zu verstehen, obwohl einiges an ihm ihr gelegentlich Kopfzerbrechen verursachte, zum Beispiel die Art, wie er sie manchmal anschaute, wenn er meinte, sie merkte es nicht. Wenn sie sich rasch umdrehte, ertappte sie ihn häufig dabei, daß er sie mit wachsamen, wißbegierigen und abwartenden Augen beobachtete.

»Warum siehst du mich so an wie die Katze das Mausloch?« fragte sie ihn einmal ärgerlich.

Aber inzwischen hatte sich sein Ausdruck schon wieder verändert, und er lachte. Bald vergaß sie es und ließ schließlich in allem, was Rhett anging, vom Rätselraten ab. Er war so unberechenbar, daß es keinen Zweck hatte, sich seinetwegen Gedanken zu machen, und das Leben war sehr schön - solange sie nicht an Ashley dachte.

Rhett ließ ihr wenig Muße, an Ashley zu denken. Tagsüber kam ihr kaum je der Gedanke an ihn, aber in der Nacht, wenn sie müde vom Tanzen war und ihr der Kopf vom vielen Sekt schwindelte, dann dachte sie an ihn. 0ft, wenn sie schläfrig in Rhetts Armen lag und der Mond ihnen aufs Bett schien, malte sie sich aus, wie glücklich das Leben sein könnte, wenn jetzt Ashleys Arme sie fest umfaßten. Wenn jetzt Ashley es wäre, der sich ihr schwarzes Haar übers Gesicht zöge und um den Hals wickelte. Einmal seufzte sie bei solchen Vorstellungen traurig auf und drehte den Kopf zum Fenster. Da fühlte sie, wieder starke Arm unter ihrem Nacken hart wie Eisen wurde und hörte in der Stille Rhetts Stimme: »Gott verdamme deine falsche kleine Seele für alle Ewigkeit zur Hölle!«

Dann stand er auf, zog sich an und ging, ohne ihrer erschrockenen Fragen zu achten, aus dem Zimmer. Am nächsten Morgen, als sie frühstückte, erschien er wieder, zerzaust, betrunken und in schlimmster Spötterlaune, entschuldigte sich nicht und erklärte nicht, wo er gewesen war.

Scarlett stellte keine Fragen und behandelte ihn kühl, wie es sich für eine gekränkte Gattin ziemt. Als sie fertig gefrühstückt hatte, zog sie sich an, während er ihr aus trüben Augen zusah, und ging aus, um Einkäufe zu machen. Als sie zurückkam, war er fort und erschien erst zum Abendessen wieder.

Es war eine schweigsame Mahlzeit. Scarlett war verstimmt. Es war ihr letztes Abendessen in New 0rleans, und gar zu gern wollte sie doch dem Hummer Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber unter Rhetts seltsamen Blicken hatte sie keinen Genuß daran. Trotzdem aß sie reichlich und trank viel Champagner dazu. Vielleicht war das die Ursache, daß ihr in der Nacht der alte Alpdruck wiederkehrte. Sie war wieder auf Tara, und Tara war verödet. Mutter war gestorben und mit ihr alle Kraft und Weisheit der Welt. Sie hatte niemand mehr auf Erden, an den sie sich wenden und auf den sie sich verlassen konnte. Etwas Schreckliches war ihr auf den Fersen. Sie lief, bis ihr das Herz zerspringen wollte, lief und lief durch den dichten schwimmenden Nebel, schrie und suchte blindlings nach dem sicheren Hafen, dem namenlosen, unbekannten, der irgendwo im Dunst um sie her verborgen lag.

Sie erwachte in Schweiß gebadet und schluchzte keuchend. Rhett beugte sich über sie und nahm sie wortlos in den Arm wie ein Kind. Er drückte sie an sich, seine festen Muskeln und sein wortloses Gemurmel trösteten und beruhigten sie, bis sie aufhörte zu schluchzen.

»Ach, Rhett, mich fror und hungerte so, ich war so müde und konnte es doch nicht finden. Ich jagte durch den Nebel, jagte und jagte und konnte es nicht finden.«

»Was konntest du nicht finden, Liebling?« »Ich weiß es nicht. Wüßte ich es doch!« »Ist es wieder der alte Traum?«

»Ach ja.«

Er bettete ihren Kopf behutsam aufs Kissen, suchte in der Dunkelheit und zündete eine Kerze an. Es wurde hell, aber sein Gesicht mit den blutunterlaufenen Augen und den scharfen Zügen war unerforschlich wie ein Stein. Sein Hemd war bis zum Gürtel offen und zeigte die braune Brust mit den dichten schwarzen Haaren. Scarlett zitterte noch vor Angst, aber sie fand Trost an dieser starken und unerschütterlichen Brust und flüsterte: »Halt mich fest, Rhett.«

»Mein Liebling«, sagte er hastig, nahm sie auf den Arm, setzte sich mit ihr auf einen großen Stuhl und wiegte sie auf seinem Schoß.

»Ach, Rhett, Hunger haben ist so schrecklich.«

»Es muß wohl schrecklich sein, im Traum zu hungern, nachdem man ein Diner von sieben Gängen mit einem riesigen Hummer hinter sich hat.« Er lächelte, aber mit gütigen A ugen.

»Ach, Rhett, ich laufe und laufe in einem fort und suche und kann doch nicht finden, was ich eigentlich suche. Immer bleibt es im Nebel verborgen. Wenn ich es nur finden könnte, ich wäre für alle Zeiten vor Hunger und Kälte geschützt.«

»Ist es ein Mensch oder eine Sache, was du suchst?«

»Ich weiß nicht. Ich habe nie darüber nachgedacht. Rhett, glaubst du, ich werde je einmal träumen, daß ich den Zufluchtsort erreiche?«

»Nein«, sagte er und strich ihr über das wirre Haar, »das glaube ich nicht. So sind Träume nicht. Aber ich glaube, wenn du dich daran gewöhnst, es alle Tage sicher und warm zu haben und dich gut zu ernähren, hört der Traum von selber auf, Scarlett. Ich sorge dafür, daß dir nichts mehr geschieht.«

»Wie lieb von dir, Rhett!«

»Vielen Dank für den Brosamen von deinem Tisch, du reiche Frau. Scarlett, jeden Morgen, wenn du aufwachst, sollst du dir sagen: Ich brauche nie mehr Hunger zu leiden und mir kann nichts zustoßen, solange Rhett da ist und die Regierung der Vereinigten Staaten bestehen bl eibt.«

»Die Regierung der Vereinigten Staaten?« fragte sie und fuhr erschrocken mit immer noch tränennassen Wangen empor.

»Das weiland konföderierte Geld ist jetzt eine ehrbare Frau geworden. Ich habe den größten Teil davon in Staatspapieren angelegt.«

»Heiliger Strohsack!« Scarlett setzte sich aufrecht und vergaß die Ängste, die sie eben noch gequält hatten. »Willst du damit sagen, daß du dein Geld den Yankees geliehen hast?«

»Gegengute Zinsen.«

»Und wenn sie hundert Prozent geben, du mußt sofort verkaufen! Was für ein Gedanke! Die Yankees können mit deinem Geld arbeiten!«

»Und was soll ich dann damit tun?« fragte er lächelnd und bemerkte, daß sie nicht mehr so große erschrockene Augen machte.

»Nun, Grundbestitz in Five Points kaufen. Ich wette, für dein G eld kannst du ganz Five Points haben.«

»Nein, danke. Five Points möchte ich nicht. Seitdem die Schieberregierung nun wirklich die Macht in Georgia hat, kann man nie wissen, was geschieht. Der Geierschwarm, der jetzt aus allen Himmelsrichtungen auf Georgia niederstößt, soll nichts abbekommen. Ich spiele ein bißchen mit ihnen, verstehst du, wie es sich für einen rechten Gesinnungslumpen gehört, aber trauen tue ich ihnen nicht. Ich lege mein Geld nicht in Grundbesitz an, da sind mir Papiere lieber; die kann man verstecken, und Grundbesitz zu verstecken ist nicht so leicht.«

»Glaubst du ...«, fing sie an und erbleichte, weil sie an ihre Mühlen und den Laden dachte.

»Ich weiß nicht Mach nicht solch ängstliches Gesicht, Scarlett. Unser reizender neuer Gouverneur ist ein guter Freund von mir. Es ist nur, weil die Zeiten so unsicher sind, da möchte ich nicht viel Geld in Grundbesitz festlegen.«

Er schob sie auf das eine Knie, lehnte sich zurück, langte nach einer Zigarre und zündete sie sich an. Sie ließ die bloßen Füße baumeln, betrachtete das Spiel der Muskeln auf seiner braunen Brust und vergaß ihre Ängste.

»Dabei fällt mir ein, Scarlett«, sagte er, »ich will ein Haus bauen. Frank hast du so lange zugesetzt, bis er einwilligte, bei Tante Pitty zu wohnen. Aber bei mir geht das nicht. Ihre täglichen drei 0hnmachtsanfälle könnte ich schwerlich aushalten, und außerdem glaube ich, 0nkel Peter ermordet mich eher, als daß er mich am heiligen Herde der Hamiltons aufnimmt. Miß India Wilkes kann bei Miß Pitty wohnen und ihr den >bösen Mann< vom Halse halten. Wenn wir nach Atlanta zurückkommen, wohnen wir in den Hochzeitszimmern im Hotel National, bis unser Haus fertig ist. Vor unserer Abreise feilschte ich gerade um das große Grundstück an der Pfirsichstraße neben demLeydenschen Hause. Du weißt, welches ich meine?«

»Ach, Rhett, wie herrlich! Ich wünsche mir doch so sehr ein eigenes Haus, ein ganz, ganz großes.«

»Endlich etwas, worin wir einig sind. Was meinst du zu weißer Stuckarbeit und schmiedeeisernen Gittern, wie bei den Kreolenhäusem hier?«

»0 nein, Rhett. Nichts Altmodisches wie die Häuser hier in New 0rleans. Ich weiß genau, was ich möchte. Es ist auch das Neueste. Ich habe ein Bild davon gesehen in - warte einmal - in >Harpers Woche< war es, die ich durchgeblättert habe. Es war gebaut wie ein Schweizer Chalet.«

»EinSchweizer- was?« »Ein Chalet.« »Buchstabiere das.«

Sie tat es.

»Ach so«, sagte er und strich sich den Schnurrbart.

»Es war ganz herrlich und hatte ein hohes Mansardendach mit einem Lattenzaun obendrauf und einem Turm aus nachgemachten Schindeln an jedem Ende. Die Türme hatten Fenster mit roten und blauen Scheiben. Fabelhaft sah es aus.«

»Das Geländer an der Haustreppe war wohl ausgesägt?«

»Ja.«

»Und vomDach der Veranda hing holzgeschnitztes Spitzenwerk?« »Ja. Du hast wohl schon so eins gesehen?«

»Freilich. Aber nicht in der Schweiz. Die Schweizer sind ein sehr begabtes Volk und haben Sinn für architektonische Schönheit. Möchtest du denn wirklich ein solches Haus haben?«

»0 ja.«

»Und ich hatte gehofft, im Zusammenleben mit mir möchte sich vielleicht dein Geschmack bessern. Warum willst du nicht ein Kreolenhaus oder ein Kolonialhaus mit sechs weißen Säulen?«

»Ich sage dir ja, ich will nicht so etwas Spießiges und Altmodisches. Und drinnen wollen wir rote Tapeten und rote Samtportieren an allen Flügeltüren haben, ach ja, und neue, teure Nußbaummöbel und schwere, dicke Teppiche. - Ach, Rhett, wenn die Leute unser Haus sehen, werden sie vor Neid platzen.«

»Ist es denn durchaus nötig, daß sie uns alle beneiden? Nun, wenn du willst, sollen sie platzen. Aber, Scarlett, kommt dir gar nicht der Gedanke, daß es kaum sehr geschmackvoll ist, ein Haus so verschwenderisch einzurichten, wenn alle anderen ringsumher arm sind?«

»Ich will es aber so haben«, sagte sie eigensinnig. »Jeder, der gemein zu mir gewesen ist, soll platzen. Und große Gesellschaften will ich geben, damit die ganze Stadt bereut, so scheußlich über uns hergezogen zu sein.«

»Aber wer kommt zu deinen Gesellschaften?«

»Die ganze Stadt natürlich.«

»Das glaube ich kaum. Die Garde stirbt, aber sie ergibt sich nicht.«

»Ach, Rhett, was du nicht alles redest! Wenn du Geld hast, bist du immer beliebt.«

»Im Süden nicht. Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß Kriegsgewinnler in gute Häuser Einlaß finden. Und was gar uns Gesinnungslose betrifft - denn das sind wir beide, mein Herz -, so können wir von Glück sagen, wenn sie uns nicht anspucken. Aber wenn du es versuchen willst, stehe ich dir bei und werde sicherlich deinen Feldzug aufs innigste mitgenießen. Und da wir doch einmal beim Geld sind - versteh mich recht, für das Haus und für deinen persönlichen Firlefanz kannst du so viel Geld haben, wie du willst. Wenn du aber Schmuck willst, so suche ich ihn dir aus, denn du, meine Herzallerliebste, hast einen gar zu grauenhaften Geschmack. Und soviel du willst für Wade und Ella. Und wenn es Will Benteen mit der Baumwolle nicht glückt, will ich gern einspringen und deinem weißen Elefanten in der Clayton-Provinz, den du so lieb hast, auf die Beine helfen. Das ist doch sehr nett von mir, nicht wahr?«

»Gewiß, du bist sehr freigebig.«

»Aber hör genau zu. Keinen Cent bekommst du für den Laden und keinen Cent für deine Feuerholzfabrik«

»Ach ...«, sagte Scarlett und machte ein langes Gesicht. Während der ganzen Hochzeitsreise hatte sie sich überlegt, wie sie ihm am besten beibringen könnte, daß sie tausend Dollar brauchte, um fünfzig Quadratfuß Land zur Vergrößerung ihres Holzlagers zu kaufen.

»Du hast doch sonst immer so großzügig getan und behauptet, du machtest dir nichts aus dem Klatsch über meine Geschäfte, und nun bist du doch wie alle andern und hast Angst, man könnte sagen, bei uns zu Hause hätte ich die Hosen an.«

»Nun, wer bei Butlers die Hosen anhat, darüber werden schon keine Zweifel aufkommen«, lächelte Rhett. »Laß die Tröpfe nur reden. Ich bin sogar so unfein, auf eine tüchtige Frau stolz zu sein. Du sollst den Laden und die Mühlen ruhig weiterbetreiben. Sie gehören deinen Kindern. Wenn Wade erst groß ist, wird es ihm nicht lieb sein, von seinem Sti efvater abzuhängen, und dann kann er die Leitung übernehmen. Aber kein Cent von meinem Gelde geht in dein und Franks Geschäft.«

»Warum nicht?«

»Weil mir nichts daran liegt, Ashley Wilkes zu unterstützen.« »Fängst du schon wieder davon an?«

»Du hast mich gefragt, warum, und ich sage dir meinen Grund. Und noch etwas. Bilde dir ja nicht ein, du könntest mich mit falscher Buchführung hintergehen und mir etwas darüber vorflunkern, wieviel deine Kleider kosten und wieviel der Hausstand verbraucht, und dir dann von dem Geld mehr Maultiere und Ashley noch eine Mühle kaufen. Ich habe vor, deine Ausgaben einzusehen und zu prüfen. Was das Leben kostet, weiß ich. Du brauchst gar nicht gekränkt zu sein. Du brächtest dergleichen fertig. Ich traue dir das zu. Dir ist alles zuzutrauen, wenn es sich um Tara und Ashley handelt Tara meinetwegen, bei Ashley jedoch muß ich abstoppen. Ich lasse dir die Zügel locker, mein Liebling, aber vergiß nicht, daß ich trotzdem mit Kandare und mit Sporen reite.«

Mrs. Elsing horchte nach dem Flur hinaus, und als Melanies Schritte nach der Küche verklangen, wo verheißungsvoll mit Geschirr geklappert und mit Silber geklirrt wurde, wandte sie sich zu den Damen zurück, die mit Nähzeug auf dem Schoß im Salon im Kreise saßen, und sagte leise: »Ich persönlich habe nicht die Absicht, Scarlett zu besuchen, weder jetzt noch später«, und ihr frostig vornehmes Gesicht sah noch kälter aus als sonst. Die anderen Mitglieder des »Nähzirkels für die Witwen und Waisen der Konföderierten« ließen die Nadel ruhen und rückten eifrig ihre Schaukelstühle näher zusammen. Alle hatten sie längst darauf gebrannt, sich über Scarlett und Rhett auszusprechen, aber Melanies Gegenwart hatte sie daran gehindert. Gerade am Tage vorher war das junge Paar aus New 0rleans zurückgekehrt und bewohnte jetzt die Hochzeitszimmer im Hotel National.

»Hugh sagt, ich müsse einen Höflichkeitsbesuch machen, weil Kapitän Butler ihm gewissermaßen das Leben gerettet hat«, fuhr Mrs. Elsing fort, »und die arme Fanny meint dasselbe und sagt, sie will es tun. Ich habe ihr gesagt: >Fanny, wäre Scarlett nicht gewesen, Tommy wäre heute noch am Leben.< Und Fanny war so unverständig, zu erwidern: >Mutter, ich besuche nicht Scarlett, ich besuche Kapitän Butler. Er hat sein Bestes getan, um Tommyzu retten, und wenn es ihm nicht gelang, ist es nicht seine Schuld.<«

»Junge Leute sind doch zu albern«, sagte Mrs. Merriwether. »Besuch machen, das fehlte gerade!« Empörung schwellte ihr den mächtigen Busen, als sie daran dachte, wie Scarlett sie mit ihrer Warnung vor der Ehe mit Rhett hatte abfahren lassen. »Meine Maybelle ist ebenso albern wie Fanny, Sie und Rene wollen durchaus einen Besuch machen, weil Butler ihn vor dem Galgen bewahrt hat. Ich habe ihnen aber gesagt, wenn Scarlett sich nicht so benommen hätte, wäre Rene nie in Lebensgefahr gekommen. Papa Merriwether will auch einen Besuch machen und faselt, er wenigstens sei dem Schuft dankbar, wenn ich es auch nicht wäre. Da hört doch alles auf! Ich jedenfalls lasse mich nicht blicken. Scarlett hat sich mit ihrer Heirat unmöglich gemacht. Schlimm genug, daß der Bursche Kriegsgewinnler ist und an unserem Hunger Geld verdient hat, jetzt steckt er auch noch mit den Schiebern und Gesinnungslumpen unter einer Decke und ist der Freund - ja wirklich - der Freund des Gouverneurs, des elenden Bullock. Da Besuche machen? Das wäre noch schöner!«

Mrs. Bonnell seufzte. Wie ein dicker brauner Zaunkönig sah sie aus, und mit fröhlichen Augen blickte sie um sich.

»Sie wollen ja nur einen einzigen Höflichkeitsbesuch machen, Dolly ... ich weiß nicht, ob das so verkehrt ist. Soviel ich weiß, wollen alle Männer, die an dem Abend dabeigewesen sind, einen Besuch machen, und das finde ich ganz richtig. Es liegt mir doch schwer auf der Seele, daß Scarlett die Tochter ihrer Mutter ist. Ich bin in Savannah mit Ellen Robillard zur Schule gegangen. Sie war ein prachtvolles Mädchen, und ich hatte sie sehr lieb. Wenn nur ihr Vater die Heirat mit ihrem Vetter Philippe nicht hintertrieben hätte! Der Junge war im Grunde gar kein schlechter Mensch. Jungens müssen nun einmal über die Stränge schlagen. Aber Ellen mußte durchaus davonlaufen und den alten 0'Hara heiraten, und nun hat sie eine Tochter wie Scarlett. Es hilft nichts, im Andenken an Ellen muß ich wenigstens einmal hin.«

»Gefühlsduselei!« schnob Mrs. Merriwether energisch. »Kitty Bonnell, du willst zu einer Frau ins Haus gehen, die kaum ein Jahr nach dem Tode ihres Mannes wieder geheiratet hat?«

»Und die Mr. Kennedys Tod auf dem Gewissen hat?« warf India kühl, aber in ätzendem Ton dazwischen. Sobald sie an Scarlett dachte, fiel es ihr schwer, auch nur die Höflichkeit zu wahren. Denn immer und immer wieder mußte sie zugleich an Stuart Tarleton denken. »Ich meine immer, schon ehe Mr. Kennedy erschossen wurde, muß mehr zwischen ihr und diesem Butler vorgegangen sein, als die meisten denken.«

Ehe die Damen sich von ihrem Entsetzen über diese Bemerkung, nun gar aus dem Munde einer Jungfrau, erholen konnten, stand Melanie auf der Schwelle. Sie waren so vertieft in ihren Klatsch gewesen, daß sie Melanies leichte Schritte nicht gehört hatten, und nun saßen sie vor ihrer Gastgeberin da wie Schulmädchen, die der Lehrer beim Tuscheln ertappt. Jetzt kam zu all ihrer Entrüstung noch der blasse Schreck, als sie Melanies verwandeltes Gesicht sahen. Ganz rot war sie geworden in ihrem Zorn. Die sanften Augen sprühten Funken, und die Nasenlöcher bebten. Niemand hatte Melanie je zornig gesehen. Keine der anwesenden Damen hielt sie dessen überhaupt für fähig. Sie hatten sie alle lieb, aber sie hielten sie für die denkbar sanfteste, gefügigste junge Frau, ganz Ehrerbietung gegen Ältere und ohne jede eigene Meinung.

»Wie kannst du nur, India!« rief sie mit leiser, bebender Stimme.

»Wohin soll die Eifersucht dich noch treiben? Schäme dich!«

India wurde blaß und hob stolz den Kopf.

»Ich nehme nichts zurück«, sagte sie kurz, und innerlich kochte sie.

Ich eifersüchtig? - dachte sie bei sich. Mit Stuart Tarleton, mit Honey und Charles im Gedächtnis hatte sie wohl guten Grund, auf Scarlett eifersüchtig zu sein, guten Grund, sie zu hassen, besonders seitdem sie Scarlett im Verdacht hatte, daß sie auch noch Ashley irgendwie in ihre Netze verstrickt habe. Ich könnte dir allerlei über Ashley und deine treue Scarlett erzählen, dachte sie und erwog mit zerrissenem Herzen, ob sie Ashley lieber durch Stillschweigen schonen oder vor Melly und aller Welt gewaltsam bloßstellen sollte. Dann mußte Scarlett ihn wohl oder übel freigeben. Aber jetzt war es noch nicht an der Zeit. Sie hatte keine Beweise, nur ihren Argwohn.

»Ich nehme nichts zurück«, wiederholte sie.

»Dann trifft es sich gut, daß du nicht mehr bei mir im Hause lebst«, sagte Melanie in eisigem Ton.

India sprang auf, das Blut schoß ihr in das kränkliche Gesicht.

»Melanie, du ... meine Schwägerin ... du willst doch nicht mit mir Streit anfangen wegen dieser schamlosen Person ...«

»Scarlett ist gleichfalls meine Schwägerin«, erwiderte Melanie und blickte India kühl in die Augen, als wären sie einander völlig fremd, »und steht mir näher als eine leibhaftige Schwester. Du scheinst vergessen zu haben, wieviel ich ihr verdanke. Ich aber habe es nicht vergessen. Sie hat mir während der ganzen Belagerung zur Seite gestanden, als sogar Tante Pitty nach Macon geflohen war, und auch sie hätte nach Hause gehen können. Sie hat mir mein Kind geholt, als die Yankees schon beinahe in Atlanta waren, und die Mühe nicht gescheut, mich und Beau damals auf der furchtbaren Fahrt nach Tara mitzunehmen, obwohl sie uns ebensogut hier in einem Lazarett hätte den Yankees in die Hände fallen lassen können. Sie hat mich gepflegt und gefüttert, auch wenn sie müde war und selber Hunger leiden mußte. Weil ich krank und schwach war, hatte ich auf Tara die beste Matratze. Als ich wieder gehen konnte, bekam ich das einzige Paar heile Schuhe im Hause. Du kannst vergessen, India, was sie für mich getan hat, ich aber nicht. Und als Ashley krank und zermürbt nach Hause kam und kein Heim hatte und keinen Cent in der Tasche, hat sie ihn aufgenommen wie eine Schwester. Und als wir dachten, wir müßten nach dem Norden, und uns das Herz brach, weil wir Georgia verlassen sollten, sprang Scarlett ein und gab ihm die Leitung der Mühle. Und Kapitän Butler hat Ashley aus lauter Herzensgüte das Leben gerettet, obwohl Ashley ganz gewiß nichts von ihm zu erwarten hatte. Deshalb bin ich Scarlett und Butler dankbar, ja, sehr dankbar. Du aber, India, wie kannst du vergessen, was Ashley und ich Scarlett schuldig sind? Wie kannst du das Leben deines Bruders so gering achten, daß du die Ehre seines Retters antastest! Auf die Knie sinken solltest du vor Scarlett und Kapitän Butler und tätest ihnen damit noch lange nicht genug!«

»Nun hör aber mal, Melly!« Mrs. Merriwether hatte sich wieder gesammelt. »So darfst du nicht mit India sprechen.«

»Was Sie über Scarlett gesagt haben, habe ich gleichfalls gehört«, Melanie fuhr herum und über die beleibte alte Dame her mit der Miene eines Fechters, der den einen Gegner abgetan hat und nun die Klinge wütend auf den anderen zückt. »Und auch Ihre Worte, Mrs. Elsing. Was Sie in Ihren kleinlichen Herzen von ihr denken, geht mich nichts an, das können Sie mit sich selbst abmachen. Aber was Sie in meinem Hause oder in meinem Beisein von ihr sagen, das geht mich allerdings an. Wie können Sie überhaupt etwas so Furchtbares nur denken und nun gar sagen! Halten Sie so wenig von den Männern Ihrer Familien, daß Sie sie lieber tot als lebendig wüßten? Verspüren Sie denn gar keinen Funken Dankbarkeit gegen den Mann, der sie mit eigener Lebensgefahr gerettet hat? Die Yankees hätten doch auch ihn für ein Mitglied des Klans halten können, wenn die ganze Wahrheit ans Licht gekommen wäre, und hätten ihn aufhängen können. Für Ihre Männer hat er sein Leben aufs Spiel gesetzt, für Ihren Schwiegervater, Mrs. Merriwether, für Ihren Schwiegersohn und Ihre beiden Neffen. Für Ihren Bruder, Mrs. Bonnell. Für Ihren Sohn und Ihren Schwiegersohn, Mrs. Elsing. Undankbare Seelen sind Sie! Ich verlange, daß Sie mich alle um Entschuldigung bitten!«

Mrs. Elsing hatte ihre Näharbeit in den Kasten gestopft und stand nun mit fest geschlossenen Lippen da.

»Hätte ich je geahnt, daß du so ungezogen sein kannst, Melly ... nein, ich bitte dich nicht um Entschuldigung. India hat recht. Scarlett ist ein leichtsinniges und schamloses Frauenzimmer. Ich kann nicht vergessen, wie sie sich während des Krieges aufgeführt hat, ich kann nicht vergessen, daß sie sich wie das niedrigste Gesindel benimmt, seitdem sie zu Gelde gekommen ist ...«

»Sie können nur nicht vergessen«, fiel Melanie ihr ins Wort und stemmte die beiden kleinen Fäuste in die Seite, »daß sie Hugh entlassen hat, weil er zu untüchtig ist, umihr die Mühle zu führen.«

»Melly!« ächzten viele Stimmen im Chor.

Mrs. Elsing warf den Kopf zurück und schritt zur Tür. Als aber ihre Hand auf der Klinke lag, blieb sie stehen und drehte sich um .

»Melly«, sagte sie in plötzlich verwandeltem Ton, »Liebling, es bricht mir das Herz. Ich war die beste Freundin deiner Mutter, ich bin Dr. Meade zur Hand gegangen, als er dich in diese Welt beförderte, und ich habe dich so lieb wie ein eigenes Kind. Wenn es sich um etwas Wichtiges handelte, täte es nicht so weh, dich so sprechen zu hören. Aber wegen einer Frau wie Scarlett 0'Hara, die ebensogut dir wie einer von uns einen niedrigen Streich spielen kann ...«

Bei Mrs. Elsings ersten Worten kamen Melanie die Tränen in die Augen, aber als die alte Dame fortfuhr, wurde ihr Gesicht wieder hart.

»Eins möchte ich ein für allemal klarstellen. Wer Scarlett nicht besucht, braucht auch mich nicht wieder zu besuchen.« Unter lautem Stimmengewirr kamen die Damen in die Höhe. Mrs. Elsing ließ ihren Nähzeugkasten fallen und lief, die falschen Stirnlöckchen verrutscht, ins Zimmer zurück.

»Das darf nicht sein!« jammerte sie. »Das darf einfach nicht sein! Du bist nicht bei Sinnen, Melly, du weißt nicht, was du sagst. Du sollst meine Freundin bleiben und ich die deine. Dies darf auf keinen Fall zwischen uns treten.«

Sie weinte, und plötzlich lag ihr Melly in den Armen. Auch sie weinte, erklärte aber unter Schluchzen, sie habe Wort für Wort ernst gemeint. Mehrere der anderen Damen brachen gleichfalls in Tränen aus. Mrs. Merriwether trompetete laut in ihr Taschentuch und umhalste Mrs. Elsing und Melanie beide miteinander. Tante Pitty, die dem ganzen Auftritt wie versteinert zugesehen hatte, sank plötzlich in eine der wenigen ech ten 0hnmächten, die ihr in ihrem Leben zustießen. In all dem Durcheinander von Tränen und Küssen und eilig hervorgeholtem Riechsalz und Schnaps gab es nur ein einziges ruhiges Gesicht, ein einziges Paar trockener Augen. India Wilkes verließ unbemerkt von allen das Haus.

Als Großpapa Merriwether mehrere Stunden danach 0nkel Henry Hamilton in dem »Mädchen von heute« traf, berichtete er voller Hochgenuß über die Ereignisse des Morgens, wie er sie von Mrs. Merriwether erfahren hatte. Er war beseligt, daß jemand sich ein Herz gefaßt und seiner herrschgewaltigen Schwiegertochter die Stirn geboten hatte. Er jedenfalls hatte noch nie den Mut dazu gehabt.

»Und was hat die Gänseherde schließlich beschlossen?« fragte 0nkel Henry ärgerlich.

»Weiß der Teufel« sagte Großpapa. »Mir scheint, Melly hat auf der ganzen Linie gesiegt Ich wette, sie machen alle wenigstens einmal ihren Besuch. Henry, von deiner Nichte halten die Leute wirklich etwas.«

»Melly ist verrückt. Die Damen haben ganz recht. Scarlett ist eine lockere Motte, und ich sehe nicht ein, warum Charlie sie geheiratet hat«, sagte 0nkel Henry düster. »Aber auf ihre Weise hat Melly auch wieder recht. Es ist nicht mehr als anständig, daß die Familien der Männer, denen Butler das Leben gerettet hat, dort einen Besuch machen. Wenn ich der Sache richtig auf den Grund gehe, habe ich übrigens gar nicht soviel gegen Butler. Er hat sich damals, als er uns vorm Galgen bewahrte, als ein ganzer Mann gezeigt. Wer mir im Magen liegt, daß ist Scarlett. Sie ist reichlich dreist. Mehr als ihr gut ist. Nun, ich muß jedenfalls hin. Schieber hin, Schieber her, Scarlett ist schließlich meine angeheiratete Nichte. Ich hatte vor, heute nachmittag hinzugehen.«

»Ich gehe mit, Henry, Dolly wird freilich ganz außer Rand und Band sein, wenn sie das hört. Gönne mir noch einen Schluck.«

»Nein, wir wollen Kapitän Butler um ein Gläschen schädigen. Er hat immer guten Schnaps, daß muß ihm der Neid lassen.«

Rhett hatte gesagt, die alte Garde werde sich nicht ergeben, und so geschah es auch. Er wußte, wie wenig die paar Besuche, die sie bekamen, zu bedeuten hatten und welchem Umstand er sie überhaupt zu verdanken hatte. Die Familien der Männer, die an der unseligen Unternehmung des Klans beteiligt waren, kamen wohl anfangs, dann aber auffallend selten und luden ihrerseits Butlers nicht zu sich ein.

Rhett sagte, sie wären überhaupt nicht gekommen, hätten sie nicht gefürchtet, daß Melanie sonst Gewalt anwenden würde. Wie er darauf kam, wußte Scarlett nicht. Wie sollte es denn möglich sein, daß Melanie gegen Leute wie die Damen Elsing und Merriwether Gewalt anwendete? Daß sie nicht wiederkamen, focht sie nicht an, ja, sie bemerkte es kaum, denn in ihren Räumen drängten sich Gäste ganz anderer Art. »Neue Leute« hießen sie bei den alteingesessenen Familien Atlantas, wenn sie nicht mit noch unliebenswürdigerenBezeichnungentituliert wurden.

Im Hotel National wohnten eine Menge »neuer Leute«, die wie Rhett und Scarlett darauf warteten, daß ihre Häuser fertig wurden - vergnügte reiche Leute, ganz ähnlich wie Rhetts Freunde in New 0rleans, elegant gekleidet, freigebig und von nicht näher bestimmbarem Vorleben. Alle waren sie Republikaner und hatten in Atlanta Geschäfte, die mit der Staatsregierung zusammenhingen. Was das für Geschäfte waren, wußte Scarlett nicht und gab sich auch nicht die Mühe, es zu erfahren.

Rhett hätte ihr erklären können, um was es sich handelte. Es waren die Geschäfte von Geiern bei einem verendenden Tier. Sie witterten den Tod von fern, und die Gier, sich zu sättigen, zog sie unfehlbar an. Eine Selbstverwaltung gab es in Georgia nicht mehr, der Staat war hilflos, und die Abenteurer schwärmten von allen Seiten herein.

Die Frauen von Rhetts Kumpanen kamen in Scharen, um ihre Antrittsbesuche zu machen, ebenso die »neuen Leute«, denen sie bei ihrem Holzhandel schon begegnet war. Rhett meinte, da sie das Holz für ihre Neubauten bei ihr gekauft hätten, solle sie sie auch empfangen. Als sie sie bei sich sah, fand sie es angenehm, mit ihnen umzugehen. Sie waren reizend angezogen und sprachen nie vom Krieg und den schweren Zeiten, sondern beschränkten ihre Unterhaltung auf die neuesten Moden, auf Skandalgeschichten und auf Whist. Scarlett, die bisher nie Karten gespielt hatte, fand rasch Gefallen am Spiel und wurde in kurzer Zeit eine gute Sp ielerin.

Sobald sie im Hotel war, fanden sich eine Menge Whistspieler bei ihr ein. Aber in jenen Tagen war sie nicht oft in ihren Zimmern. Sie hatte zuviel mit dem Neubau des Hauses zu tun, um sich mit Besuch abzugeben. Am liebsten wollte sie alle ihre geselligen Freuden und Pflichten verschieben bis zu dem Tage, da der Bau fertig war und sie als die Herrin des schönsten Hauses von Atlanta und als Gastgeberin der erlesensten Gesellschaften der Stadt in Erscheinung treten könnte.

An den langen warmen Tagen sah sie ihr Haus in rotem Stein und grauen Schindeln prunkvoll emporsteigen, bis es jedes andere in der Pfirsichstraße überragte. Die Mühlen und den Laden überließ sie sich selbst und verbrachte ihre Zeit auf dem Grundstück, focht Meinungsverschiedenheiten mit den Zimmerleuten aus, zankte sich mit den Maurern herum und hetzte den Bauunternehmer zu größerer Eile. Als die Mauern rasch in die Höhe stiegen, sah sie befriedigt, daß das Haus schöner und größer als jedes andere der Stadt zu werden versprach. Sogar noch eindrucksvoller als das nahe gelegene James-Haus, das gerade als Amtswohnung für den Gouverneur Bullock gekauft worden war.

Der Palast des Gouverneurs tat mit ausgesägtem Schmuck an Geländer und Dachrinnen sein Bestes, aber gegen das vielfältige Schnitzwerk an Scarletts Haus kam er nicht auf. Er hatte einen Tanzsaal, aber im Vergleich zu dem Riesenraum, der in Scarletts Haus den ganzen dritten Stock einnahm, wirkte er nur wie ein Billardtisch. Ihr Haus stach in der Tat an allem Erdenklichen den Gouverneurspalast und jedes andere Haus in der Stadt aus, an Kuppeln und Türmen, Türmchen und Erkern, Blitzableitern und den zahlreichen Fenstern mit bunten Scheiben.

Ein Balkon, zu dem an den vier Seiten des Gebäudes vier Treppen hinaufführten, umgab das ganze Haus. Der Garten war geräumig und schön angepflanzt, darin verstreut standen ländliche Eisenbänke und ein gußeiserner Pavillon, den die elegante Welt von damals »Gazebo« nannte und der, wie man Scarlett versicherte, in rein gotischem Stil errichtet war, sowie zwei große Standbilder aus Gußeisen, einen Hirsch und eine Bulldogge, so groß wie ein Shetland-Pony, darstellend. Für Wade und Ella, die von der Größe und dem Prunk und dem modischen Halbdunkel ihres neuen Heims etwas verstört waren, waren die beiden Eisentiere das einzig Erfreuliche.

Innen wurde das Haus ganz nach Scarletts Wünschen eingerichtet. Die Fußböden waren mit dicken roten Teppichen ausgelegt, rote Samtportieren hingen an den Türen, und die neuesten Hochglanzmöbel in schwarzem Nußbaum mit Schnitzereien, wo nur ein Plätzchen zum Schnitzen war, luden zum Sitzen ein; sie waren aber mit glattem Roßhaar so stramm gepolstert, daß die Damen sich nur vorsichtig darauf niederließen; zu leicht konnte man heruntergleiten. An den Wänden hingen überall Spiegel in vergoldeten Rahmen, zum Teil mannshoch; es waren, wie Rhett nachlässig bemerkte, genau solche wie in Belle Watlings Lokal. Dazwischen hingen Stahlstiche in schweren Rahmen, etliche acht Fuß lang, die Scarlett eigens aus New York hatte kommen lassen. Die Wände waren mit dunklen reichgemusterten Tapeten bedeckt, die Zimmer waren sehr hoch und zu allen Tageszeiten dämmerig, da die Fenster ganz mit pflaumenfarbenen Samtportieren verhängt waren, die fast alles Sonnenlicht fernhielten.

Im ganzen war es eine atembeklemmende Behausung, und wenn Scarlett auf den weichen Teppichen einherschritt und tief in die weichen Federbetten versank, gedachte sie der kalten Fußböden und der Strohmatratzen auf Tara und war zufrieden. Für sie war es das schönste und am elegantesten eingerichtete Haus, das sie kannte. Rhett meinte, es wäre ein Alpdruck. »Aber wenn es dich glücklich macht ... wohl bekomm's.«

»Ein Fremder, der nie etwas von uns gehört hätte«, sagte er, »wüßte trotzdem, daß Schiebergeld in dem Haus steckt. Unrecht Gut gedeihet nicht. Dieses Haus ist der Beweis dafür. Es ist das richtige Kriegsgewinnlerhaus.«

Aber Scarlett, zum Überlaufen voll von Stolz und Glück und tausend Plänen für die Gesellschaften, die sie geben wollte, wenn sie erst eingerichtet waren, kniff ihn übermütig ins 0hrläppchen und sagte: »Dummes Zeug, was du nicht alles redest!«

Sie hatte längst begriffen, daß Rhett ihr mit Vorliebe, wo er nur konnte, Wasser in den Wein goß und daß er ihr jeden Spaß verderben würde, wenn sie sich seine Sticheleien zu Herzen nahm. Dann konnte sie sich zwar mit ihm zanken, aber es lag ihr nichts daran, die Klingen mit ihm zu kreuzen, denn sie zog regelmäßig den kürzeren. Daher hörte sie meistens nicht zu, und wenn sie einmal zuhörte, so suchte sie seine Worte ins Lächerliche abzubiegen. So ging es wenigstens eine Zeitlang gut.

Auf der Hochzeitsreise und meistens auch während ihres Aufenthaltes im Hotel National hatten sie auf gute Art miteinander gelebt. Aber kaum waren sie in das neue Haus eingezogen, kaum hatte Scarlett ihre neuen Freunde um sich versammelt, da kam es oft ganz plötzlich zu scharfen Auftritten. Aber der Streit dauerte nie lange. Es war bei Rhett unmöglich, weil er ihren hitzigen Worten gegenüber nur kühl und gleichmütig abzuwarten pflegte, bis er sie an einer verwundbaren Stelle treffen konnte. Sie stritt, aber Rhett stritt nicht mit. Er sagte ihr nur unmißverständlich seine Meinung über sie selbst, ihre Handlungsweise, ihr Haus und ihren Umgang. Und seine Meinung war zum Teil so, daß sie sie auf die Dauer nicht als Spaß betrachten konnte.

Als sie zum Beispiel beschloß, den Namen »Kennedys Warenhaus« durch etwas Eindrucksvolleres zu ersetzen, bat sie ihn, sich etwas auszudenken, worin das Wort »Emporium« vorkäme. Rhett brachte den Namen »Caveat Emporium« in Vorschlag und versicherte ihr, er passe ausgezeichnet zu den Waren, die in dem Laden verkauft würden. Sie fand, es klinge großartig, und ließ sogar schon das Ladenschild anfertigen, als Ashley ihr in großer Verlegenheit die Worte übersetzte. Rhett aber wollte sich über ihre Wut totlachen.

Und dann die Art, wie er Mammy behandelte! Mammy war nie um einen Zoll von ihrer Ansicht abgewichen, daß Rhett ein Maultier in Pferdegeschirr sei. Sie war höflich, aber kühl gegen ihn und nannte ihn immer »Kap'n Butler«, aber nie »Mister Rhett«. Sie machte keinen Knicks, als Rhett ihr den roten Unterrock schenkte, und zog ihn auch niemals an. Ella und Wade hielt sie von Rhett fern, soviel sie konnte, obwohl Wade 0nkel Rhett vergötterte und Rhett den Jungen sichtlich liebhatte. Aber anstatt Mammy zu entlassen oder kurz angebunden und streng gegen sie zu sein, behandelte Rhett sie mit der äußersten Ehrerbietung und viel ritterlicher als die Damen aus Scarletts neuer Bekanntschaft, ja ritterlicher als Scarlett selbst. Immer bat er Mammy um Erlaubnis, ehe er mit Wade ausritt, und fragte sie um Rat, wenn er für Ella Puppen kaufte. Mammy aber war kaum noch höflich gegen ihn.

Scarlett fand, Rhett müsse Mammy fest anfassen, wie es dem Hausherrn zukam, aber Rhett lachte nur und sagte, in Wirklichkeit sei ja Mammy der Herr im Hause.

Er brachte Scarlett zur Raserei, wenn er ganz kühl bemerkte, er sei darauf gefaßt, daß er in ein paar Jahren sehr viel Mitleid mit ihr werde haben müssen, denn dann sei es mit der republikanischen Herrschaft in Georgia vorbei und die Demokraten kämen wieder an die Macht.

»Wenn die Demokraten erst wieder ihren eigenen Gouverneur und ihr eigenes Parlament haben, werden alle deine ordinären republikanischen Freunde vom Schachbrett hinuntergeschoben werden und wieder in Bars bedienen oder Mülleimer ausleeren, wie es sich für sie gehört. Dann sitzt du zwischen zwei Stühlen und hast weder einen republikanischen noch einen demokratischen Freund. Denk also lieber nicht an später.«

Scarlett lachte, und nicht mit Unrecht, denn damals saß Bullock fest auf dem Stuhl des Gouverneurs, siebenundzwanzig Sklaven saßen in der Gesetzgebenden Versammlung, und Tausende von demokratischen Wählern Georgias waren politisch entrechtet.

»Die Demokraten kommen nie wieder. Sie machen die Yankees nur immer noch wütender und schieben den Tag, der sie zurückbringen könnte, immer weiter hinaus. Alles, was sie können, ist große Töne reden und sich nächtlichinKu-Klux-Klan-Gewändern herumtreiben.«

»Sie kommen doch wieder. Ich kenne die Südstaatler, ich kenne die Leute von Georgia, es ist eine zähe, halsstarrige Gesellschaft. Müssen sie noch einmal Krieg fuhren, um wiederkommen zu können, so fuhren sie eben noch einmal Krieg. Müssen sie schwarze Stimmen kaufen, wie die Yankees es getan haben, dann kaufen sie sie; und wenn sie zehntausend Tote zur Wahl schicken müssen, wie die Yankees es ihnen vorgemacht haben, so gibt jede Leiche auf jedem Friedhof in Georgia ihren Wahlzettel ab. Unter der segensreichen Regierung unseres guten Freundes Rufus Bullock werden noch Zustände einreißen, daß Georgia ihn wieder auskotzt.«

»Rhett, drück dich nicht so ordinär aus! Du redest, als würde es mich nicht freuen, wenn die Demokraten zurückkamen. Du weißt genau, wie sehr es mich freuen würde. Meinst du, ich sehe gern die Soldaten der Yankees immer noch hier herumlungern! Ich bin doch geborene Georgianerin. Nichts wäre mir lieber, als daß die Demokraten wiederkämen. Aber sie tun es nie im Leben, und wenn sie kämen, warum sollte es unseren Freunden sch aden? Ihr Geld bleibt ihnen doch, nicht wahr?«

»Wenn sie es zusammenhalten, ja. Aber ich traue keinem von ihnen die Fähigkeit zu, sein Geld länger als fünf Jahre zu behalten, wenn ich sehe, wie sie es zum Fenster hinauswerfen. Wie gewonnen, so zerronnen. Ihr Geld wird ihnen nicht gut bekommen, ebensowenig, wie mein Geld dir gut bekommt. Ein Pferd hat es aus dir sicher nicht gemacht, nicht wahr, mein hübsches Maultierchen?«

Der Zank, der sich aus dieser Anzüglichkeit ergab, dauerte mehrere Tage. Nachdem Scarlett vier Tage lang gemault und unter beredtem Schweigen vergebens eine Bitte um Entschuldigung von ihm gefordert hatte, ging Rhett nach New 0rleans, nahm trotz Mammys Einspruch Wade mit und blieb dort, bis Scarletts Wut sich ausgetobt hatte. Aber der St achel blieb haften. Sie hatte ihm nicht beikommen können.

Als er kühl und liebenswürdig aus New 0rleans zurückkehrte, schluckte sie ihren Zorn herunter und beschloß, es später auszufechten. Jetzt wollte sie sich nicht mit etwas Unerfreulichem herumschlagen, sondern glücklich sein, denn sie hatte den Kopf von der ersten Gesellschaft voll, die sie in dem neuen Hause geben wollte. Es sollte eine riesige Soiree werden, mit Fahnen und 0rchestermusik. Die ganzen Veranden und Türen sollten mit Tuch ausgeschlagen werden, und ein Souper sollte es geben, daß einem schon im voraus der Mund wässerte. Jeden wollte sie einladen, den sie überhaupt in Atlanta kannte, alle alten Freunde und all die neuen, die sie seit ihrer Hochzeitsreise kennengelernt hatte. In ihrer Vorfreude auf diese Gesellschaft vergaß sie Rhetts Bissigkeiten und war glücklicher als seit Jahren, wenn sie sich ihren großen Empfang ausmalte.

Es war doch eine Freude, reich zu sein und Gesellschaften geben zu können, ohne nachzurechnen, was es kostete, die teuersten Möbel, die elegantesten Kleider und die herrlichsten Speisen zu bestellen und keinen Augenblick an die Rechnung zu denken! Wie schön war es, Tante Pauline und Tante Eulalie in Charleston und Will auf Tara einen Scheck auf eine stattliche Summe zu schicken! Ach, all die eifersüchtigen Tröpfe, die da behaupteten, Geld sei nicht alles! Wie verschroben von Rhett zu meinen, sie habe nichts davon!

Scarlett schickte all ihren alten Freunden und Bekannten eine Einladung, auch denen, die sie nicht leiden konnte - selbst Mrs. Merriwether, die bei ihrem Besuch im Hotel National fast schon unhöflich gewesen war, und Mrs. Elsing mit ihrer eisigen Kälte. Auch Mrs. Meade und Mrs. Whiting lud sie ein, obwohl sie wußte, daß diese Damen sie ebenfalls nicht leiden konnten und auch wohl nicht einmal die richtigen Kleider für einen so anspruchsvollen Abend zur Verfügung hatten. Scarletts Abendempfang zur Einweihung ihres neuen Hauses, ihr »crush«, wie man ein solches Mittelding zwischen Soiree und Ball jetzt nannte, war das aufsehenerregendste Ereignis, das Atlanta je erlebt hatte.

An dem Abend waren das Haus und der mit Tuch ausgeschlagene Balkon mit Gästen überfüllt, die ihren Sektpunsch tranken, ihre Pasteten und gebackene Austern in saurer Sahne aßen und nach der Musik des hinter Fahnen und Gummibäumen verborgenen 0rchesters tanzten. Aber niemand von denen, die Rhett als »die alte Garde« bezeichnete, war dabei, bis auf Melanie und Ashley, Tante Pitty und 0nkel Henry, Dr. Meade und Frau und Großpapa Merriwether.

Viele von der alten Garde hatten sich anfangs, wenn auch widerstrebend, bereit gefunden, die Gesellschaft mitzumachen. Einige hatten Melanies wegen zugesagt, andere aus dem Gefühl heraus, Rhett für seine mehrfachen Lebensrettungen Dank schuldig zu sein. Aber zwei Tage zuvor wurde es in Atlanta ruchbar, daß auch der Gouverneur Bullock eingeladen sei. Die alte Garde tat daraufhin ihre Mißbilligung durch einen Stapel von Kartellen kund, auf denen Scarletts freundliche Einladung mit Bedauern abgelehnt wurde, und auch die kleine Schar derer, die gekommen waren, verabschiedete sich verlegen, aber entschlossen, sobald der Gouverneur das Haus betrat.

Scarlett war vor Zorn über diese Kränkung so fassungslos und aufgebracht, daß ihr die Gesellschaft völlig verleidet war. Ihr eleganter »crush«! Mit so viel Liebe hatte sie alles angeordnet, und nun waren nur ganz wenige alte Freunde und gar keine der alten Feinde gekommen, all die Herrlichkeit zu bewundern! Als der letzte Gast im Morgengrauen nach Hause gegangen war, würde sie geweint und getobt haben, hätte sie nicht Rhetts schallendes Gelächter gefürchtet und Angst gehabt, in seinen glitzernden schwarzen Augen die Worte »Ich habe es dir ja gleich gesagt« zu lesen, auch ohne daß er sie aussprach. Deshalb verschluckte sie m it bittersüßer Miene ihren Groll und tat, als mache sie sich nichts daraus.

Nur Melanie gegenüber gestattete sie sich am folgenden Morgen die Wohltateines Zornausbruches.

»Du hast mich gekränkt, Melly Wilkes, und Ashley und die anderen dazu angestachelt, mich gleichfalls zu kränken. Du weißt sehr gut, daß sie niemals so früh nach Hause gegangen wären, hättest du sie nicht mit Gewalt fortgetrieben. ja, ich habe es wohl gesehen! Gerade, als ich Gouverneur Bullock zu dir bringen und ihn dir vorstellen wollte, bist du wie ein Hase davongelaufen.«

»Ich habe ja nicht geglaubt ... ach, ich konnte es ja nicht glauben, daß er wirklich kommen würde«, antwortete Melanie ganz unglücklich, »wenn auch alle sagten ...«

»Alle? Dann haben sie also alle wieder über mich gequatscht und geklatscht«, rief Scarlett wütend. »Du willst doch nicht etwa sagen, auch du wärst nicht gekommen, wenn du gewußt hättest, der Gouverneur sei da.«

»Freilich«, sagte Melanie leise mit gesenkten Augen. »Liebes, dann hätte ich es nicht übers Herz gebracht zu kommen.«

»Zum Teufel, dann hättest du mich also auch wie alle die anderen gekränkt!«

»Ach, barmherziger Himmel«, klagte Melanie in ihrer Herzensbedrängnis. »Ich wollte dich doch nicht kränken. Du bist doch meine Schwester, Liebes, die Witwe meines geliebten Charlie, und ich ...«

Schüchtern legte sie die Hand auf Scarletts Arm, aber Scarlett schüttelte sie ab und wünschte nichts sehnlicher, als so laut zu toben wie Gerald in seinem Jähzorn. Melanie aber stellte sich ihrem Zorn. Als sie Scarlett in die blitzenden grünen Augen sah, strafften sich ihre zarten Schultern, und wie ein Mantel legte sich in seltsamem Gegensatz zur Kindlichkeit ihrer Gestalt und ihres Gesichtes eine ernste Würde um sie.

»Es tut mir leid, wenn es dich kränkt, Liebes, aber mit Gouverneur Bullock oder irgendeinem Republikaner oder Gesinnungslumpen kann ich nicht zusammenkommen. Das will ich nicht, weder bei dir noch sonst irgendwo. Nein, auch nicht, wenn ich ...« Melanie suchte nach dem Ärgsten, was sie sich ausdenken konnte, »auch nicht, wenn ich unhöflich sein müßte.«

»Hast du an meinen Freunden etwas auszusetzen?«

»Nein, Liebes, aber es sind deine Freunde und nicht meine.«

»Bist du unzufrieden mit mir, weil ich den Gouverneur bei mir empfange?«

Melanie war in die Enge getrieben, aber sie schaute Scarlett fest ins Auge.

»Liebe, was du auch tust, du hast immer einen guten Grund dafür. Ich habe dich lieb und vertraue dir und habe kein Recht, dich zu verurteilen, und dulde es auch von keinem anderen in meiner Gegenwart. Aber ... ach, Scarlett!« Plötzlich sprudelten die Wort ihr hervor, heiße, rasche Worte, und in ihrer leisen Stimme grollte unversöhnlicher Haß. »Kannst du denn vergessen, was diese Leute uns angetan haben? Kannst du den Tod des lieben Charlie vergessen und Ashleys zerstörte Gesundheit und den Untergang von Twelve 0aks? Ach, Scarlett, du kannst doch unmöglich den schrecklichen Menschen vergessen, den du niedergeschossen hast, als er sich an dem Nähkasten deiner Mutter vergriff! Du kannst doch nicht vergessen haben, wie Shermans Leute auf Tara hausten und uns sogar die Leibwäsche stahlen. Und wie sie versuchten, Tara niederzubrennen, und die Stirn hatten, meines Vaters Degen anzurühren! Ach, Scarlett, die uns damals ausgeraubt und gequält und dem Hungertode preisgegeben haben, sind dieselben, die du in dein Haus einlädst. Dieselben, die die Schwarzen zu Herren über uns gesetzt haben, die uns ausplündern und unseren Männern das Wahlrecht nehmen! Ich kann es ihnen nicht vergessen! Und ich will es nicht. Auch Beau soll es nicht vergessen. Meine Enkel will ich lehren, diese Menschen zu hassen, und meine Urenkel auch, wenn Gott mir ein so langes Leben schenken sollte. Scarlett, wie kannst du es nur vergessen?«

Melanie hielt inne, um Atem zu schöpfen, und Scarlett sah sie groß an. Die bebende Gewalt in Melanies Stimme hatte sie so erschreckt, daß sie ihren eigenen Groll darüber vergaß.

»Wofür hältst du mich?« fragte sie scharf. »Natürlich denke ich daran! Aber all das ist vergangen, Melly. An uns ist es, zu retten, was zu retten ist, und das versuche ich. Gouverneur Bullock und die besseren Republikaner können uns viel nützen, wenn wir sie richtig behandeln.«

»Gute Republikaner gibt es nicht«, schnitt Melanie kurz ab, »und ich brauche ihre Hilfe nicht. Ich will auch nicht retten, was zu retten ist ... wenn es nur mit den Yankees geht.«

»Mein Gott, Melly, warumso bitterböse?«

»Ach Gott!« Melanie machte ein ganz schuldbewußtes Gesicht! »Was habe ich alles nur dahergeredet! Scarlett, ich wollte dir nicht zu nahe tre ten und dir auch keine Vorwürfe machen. Alle Menschen denken verschieden, und jeder von uns hat ein Recht auf die eigene Meinung. Sieh, Liebes, ich habe dich lieb, das weißt du, und daran kann sich nichts ändern, was du auch tust. Und du hast doch auch mich noch lieb, nicht wahr? 0der mußt du mich nun hassen? Scarlett, wenn je etwas zwischen uns träte, so hielte ich es nicht aus, nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben! Sag, du bist mir doch nicht böse?«

»Dummes Zeug, Melly, was für ein Sturm im Wasserglas«, sagte Scarlett mit einigem Widerstreben, aber die Hand, die sie scheu am Arm faßte, schüttelte sie nicht ab.

»Nun ist alles wieder gut«, sagte Melanie beglückt und fügte leise hinzu: »Wir wollen einander besuchen wie immer, nicht wahr? Wenn du Republikaner und Yankees erwartest, läßt du es mich einfach wissen, und dann bleibe ich zu Hause.«

»Es ist mir höchst gleichgültig, ob du kommst oder nicht.« Damit setzte Scarlett sich den Hut auf und rauschte davon. Eine kleine Genugtuung für ihre gekränkte Eitelkeit nahm sie doch mit nach Hause - Melanies schmerzlichen Ausdruck bei ihren letzten Worten.

In den Wochen nach der ersten Gesellschaft kam es Scarlett oft sauer an, nach wie vor gegen die Meinung der Leute gleichgültig zu scheinen. Als die alten Freunde mit Ausnahme von Melly und Pitty, 0nkel Henry und Ashley sie nicht mehr besuchten und sie nicht zu ihren eigenen bescheidenen Geselligkeiten einluden, war sie aufrichtig verwundert und verletzt. Hatte sie sich nicht alle Mühe gegeben, die Streitaxt zu begraben und diese Leuten zu zeigen, daß sie ihnen all ihren Klatsch hinter ihrem Rücken nicht nachtrug? Sie mußten doch wissen, daß sie dem Gouverneur genausowenig gewogen war wie sie alle und ihn nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit höflich behandelte! Die Narren! Wäre nur jedermann höflich zu den Republikanern, demStaate Georgia wäre bald geholfen.

Sie war sich nicht klar darüber, daß sie das lose Band, das sie noch mit den alten Zeiten und den alten Freunden verknüpfte, mit einem einzigen Hieb entzweigeschnitten hatte. Nicht einmal Melly hätte den zerrissenen Faden wieder anspinnen können. Und Melanie, im tiefsten Herzen befremdet und verletzt und dennoch unbeirrt in ihrer Treue, versuchte es nicht einmal. Selbst wenn Scarlett zu der alten Lebensart und den alten Freunden hätte zurückkehren wollen - es gab jetzt kein Zurück mehr. Ihr gegenüber war das Antlitz der Stadt versteinert, und der Haß gegen das Regiment Bullocks traf auch sie. Ein kalter, unbeirrbarer Haß ohne Feuer und Flammen. Scarlett hatte ihr Schicksal an den Feind geknüpft. Wohin sie auch der Geburt und der Herkunft nach gehören mochte, sie wurde künftig zu den Überläufern, den Sklavenfreunden, den Verrätern, den Republikanern gerechnet - zu den Gesinnungslumpen.

Es dauerte noch eine Weile, daß Scarlett innerlich darunter litt, dann aber wurde sie wirklich so gleichgültig, wie sie sich bisher gestellt hatte. Nie hatte sie sich lange bei den Schwankungen menschlicher Neigung aufgehalten, und wenn sie auf dem einen Weg nicht weiterkam, hatte sie nie lange Trübsal geblasen. Bald fragte sie überhaupt nicht mehr danach, was Merriwethers, Elsings, Whitings, Bonnells, Meades und die anderen über sie dachten. Melanie verkehrte ja noch bei ihr und brachte Ashley mit, und an Ashley lag ihr am meisten. Und immer gab es noch Leute genug in Atlanta, die ihre Feste besuchten und viel besser zu ihr paßten als jene engherzigen Narren. Sie konnte, sooft sie wollte, ihr Haus mit Gästen füllen, die viel amüsanter und viel eleganter waren als die törichten, verrannten alten Dickköpfe, deren Mißfallen sie erregt hatte.

Diese Leute waren erst unlängst nach Atlanta gezogen. Einige waren Bekannte von Rhett, andere hatten mit ihm in den geheimnisvollen Angelegenheiten zu tun, von denen er immer nur sagte: »Geschäfte, weiter nichts, mein Herzchen.« Einige hatten Scarlett getroffen, als sie im Hotel National wohnten, einige waren Bekannte des Gouverneurs Bullock.

Es war eine buntscheckige Gesellschaft, in der sie sich fortan bewegte. Gelerts gehörten dazu, die schon in einem Dutzend verschiedener Staaten herumgekommen waren und jeden anscheinend eiligst verlassen hatten, sobald ihre Schiebungen an den Tag kamen; Conningtons, deren Beziehungen zu der Freilassungsbehörde eines abgelegenen Staates ihnen auf Kosten der unwissenden Schwarzen, deren sie sich angeblich anzunehmen hatten, viel Geld eingebracht hatten; Deals, die der konföderierten Regierung so lange Schuhe aus »Lederersatz« verkauft hatten, bis sie schließlich das letzte Kriegsjahr wohl oder übel in Europa zubringen mußten; Hundons, die in vielen Städten steckbrieflich gesucht wurden, sich aber trotzdem häufig mit Erfolg um Staatsaufträge bewarben; Carahans, die in einer Spielhölle angefangen hatten und nun mit dem höheren Einsatz von Staatsgeldern für den Bau einer nur auf dem Papier stehenden Eisenbahn spielten; Flahertys, die 1861 Salz für einen Cent das Pfund gekauft und ein Vermögen gemacht hatten, als es 1863 auf fünfzig Cents stieg; und Barts, die in einer Großstadt des Nordens während der ganzen Kriegszeit das größte Bordell besessen hatten und nun in den ersten Kreisen der »Gesellschaft« verkehrten.

Das war jetzt Scarletts enger Freundeskreis, aber zu ihren größeren Empfängen kamen auch Menschen von Welt und Bildung, Menschen aus allerbesten Familien. Außer dem Schieberadel waren auch Leute von gediegenerem Schlag nach Atlanta übergesiedelt, die von der großen geschäftlichen Betriebsamkeit in dieser Zeit der Expansion angezogen wurden. Reiche Yankeefamilien schickten ihre Söhne nach dem Süden, damit sie in dem neuen Grenzgebiet Pionierarbeit täten, und verabschiedete Yankeeoffiziere ließen sich zu dauerndem Aufenthalt in der Stadt nieder, die zu erobern sie so harte Kämpfe gekostet hatte. Als Fremde in einer fremden Stadt nahmen sie im Anfang die Einladung zu den üppigen Gesellschaften der reichen, gastfreien Mrs. Butler an, aber bald verloren sie sich wieder aus ihrem Kreise. Es waren anständige Menschen, die nur einer kurzen Bekanntschaft mit den Schiebern und ihrer Atmosphäre bedurften, um sie ebenso zu verabscheuen, wie es die alten Georgianer taten. Manche von ihnen wurden Demokraten und noch begeistertere Südstaatler als die alteingesessenen Familien.

Andere, die nicht in Scarletts Kreis paßten, blieben nur darin, weil sie anderswo nicht willkommen waren. Ihnen wären die ruhigen Salons der alten Garde viel angenehmer gewesen, aber die alte Garde wollte von ihnen nichts wissen. Darunter waren die Schulvorsteherinnen aus dem Norden, die erfüllt von dem Verlangen hergekommen waren, die Sklaven geistig zu heben, und die Gesinnungslumpen, die als gute Demokraten geboren, aber nach der Kapitulation Republikaner geworden waren.

Es war schwer zu sagen, welche Klasse unter der alteingesessenen Bürgerschaft ärger verhaßt war, die weltfremden Schulmamsells der Yankees oder die Gesinnungslumpen. Wahrscheinlich kamen jene doch noch ein wenig besser weg. Von ihnen konnte man zur Not noch sagen: »Was kann man schließlich von Sklavenfreunden aus dem Norden erwarten?

Daß sie den Sklaven für nichts Geringeres halten als sich selbst, ist nur natürlich.« Aber für echte Georgianer, die aus Gewinnsucht Republikaner geworden waren, gab es keine Entschuldigung.

»Für uns ist der Hunger immer noch gut genug, also auch für euch«, meinte die alte Garde. Viele der früheren konföderierten Soldaten, die die wahnsinnige Angst eines Mannes kannten, wenn er seine Familie in Not sieht, waren nachsichtig gegen ihre früheren Kameraden, die ihre politische Farbe gewechselt hatten, damit ihre Familie satt wurde. Die Frauen aber nicht, und sie standen als unbeugsame Macht hinter dem Gesetz der Gesellschaft. Die verlorene Sache war jetzt stärker und ihrem Herzen teurer, als sie es je auf der Höhe des Ruhmes gewesen war. Jetzt glich sie einem Fetisch. Alles, was mit ihr zusammenhing, war heilig, die Gräber der Gefallenen, die Schlachtfelder, die zerfetzten Fahnen, die Degen, die zu Hause über Kreuz in der Halle hingen, die verblichenen Briefe von der Front, die Veteranen. Diese Frauen gaben den früheren Feinden keinen Pardon, und weder Beistand noch Trost war von ihnen zu erwarten. Scarlett aber rechnete zu den Feinden.

Die gemischte Gesellschaft, die durch die politischen Wechselfälle zusammengewürfelt worden war, hatte nur eins gemeinsam, das Geld. Da die meisten vor dem Kriege kaum mehr als fünfundzwanzig Dollar auf einmal besessen hatten, gaben sie sich jetzt einer wahren 0rgie des Geldausgebens hin, wie Atlanta sie noch nicht erlebt hatte.

Seitdem die Republikaner an der Macht waren, war die Stadt in eine Periode unerhörtester Verschwendung eingetreten, und die gesellschaftlichen Formen waren nur wie ein dünner Lack, der das Laster und die Gemeinheit notdürftig bedeckte. Nie zuvor war die Kluft zwischen reich und arm so groß gewesen. Wer oben schwamm, hatte keinen Gedanken für die weniger Glücklichen mehr übrig - natürlich mit Ausnahme der Sklaven, für die das Beste eben gut genug war, die besten Schuhe und Wohnungen, die elegantesten Kleider, die schönsten Vergnügungen. Politisch bedeuteten sie die Macht, weil die Stimme jedes Sklavens zählte. Die verarmten Bürger von Atlanta konnten verhungern und auf der Straße tot umfallen. Die reich gewordenen Republikaner kehrten sich nicht daran.

Von dieser Woge der Gemeinheit ließ Scarlett sich im Triumph dahintragen, jung verheiratet, wie sie war, blendend hübsch in ihren schönen Kleidern, mit dem festen Rückhalt an Rhetts Vermögen. Es war eine Zeit, wie sie ihrer Natur lag, roh, glanzvoll und protzig, mit aufgetakelten Frauen, prunkvollen Häusern, mit zuviel Schmuck, zuviel Pferden, zuviel zu essen und zu trinken. Wenn Scarlett in seltenen Augenblicken einmal darüber nachdachte, war sie sich bewußt, daß nach Ellens strengern Maßstabe keine von den Frauen, mit denen sie jetzt Umgang pflegte, eine Dame war. Aber seit jenem längst vergangenen Tage, da sie im Wohnzimmer von Tara beschlossen hatte, Rhetts Geliebte zu werden, hatte sie Ellens Gebote zu oft übertreten, als daß sie jetzt noch Gewissensbisse darüber hätte empfinden können.

Mochten die neuen Freunde auch strenggenommen keine Ladies und keine Gentlemen sein, so waren sie doch amüsant, wie Rhetts Freunde in New 0rleans, viel unterhaltsamer als die trübseligen, Shakespeare lesenden und zur Kirche gehenden Freunde ihrer früheren Atlantaer Zeit. Seit Ewigkeiten hatte sie sich, mit Ausnahme ihrer kurzen Hochzeitsreise, nicht so amüsiert. Sie hatte sich auch niemals so sicher gefühlt. Jetzt konnte ihr nichts mehr zustoßen. Jetzt wollte sie tanzen, spielen und in Saus und Braus leben, wollte in gutem Essen und feinen Weinen schwelgen, sich in Seide und Atlas kleiden und auf weichen Federbetten und schön gepolsterten Sesseln sich des Lebens freuen. Und sie genoß alles ausgiebig. Ermuntert durch Rhetts belustigtes Gewährenlassen, frei von den Beschränkungen ihrer Kindheit, ja frei von der Todesangst vor der Armut, leistete sie sich allen Luxus, den sie sich je erträumt hatte. Sie sagte und tat nur, was ihr beliebte, und wenn sie jemanden nicht leiden mochte, so schickte sie ihn zum Teufel.

Ein Freudenrausch hatte sie überkommen wie jeden, dessen Dasein der strengen Gesellschaft geflissentlich ins Gesicht schlägt, den Spieler, den Hochstapler, den Abenteurer und alle, die sich durch ihre eigene Gescheitheit durchsetzen. Sie sagte und tat, was ihr gefiel, und schon kannte ihre Dreistigkeit keine Grenzen mehr.

Sie genierte sich nicht, ihre neuen Freunde von oben herab zu behandeln, und gegen niemand war sie unverschämter als gegen die 0ffiziere der Yankees und ihre Familien. Unter all den verschiedenartigen Menschen, die nach Atlanta strömten, war das Militär die einzige Klasse, die zu empfangen oder auch zu dulden sie sich weigerte. Sie gab sich ausgesprochene Mühe, ungezogen gegen sie zu sein. Melanie war nicht die einzige, die nicht vergessen konnte, was die blaue Uniform bedeutet. Für Scarlett war sie auf alle Zeiten mit den Schrecken der Belagerung und der Flucht, mit Plünderung und Brandschatzung, mit verzweifelter Armut und zermürbender Arbeit verknüpft, jetzt konnte sie sich erlauben, jede blaue Uniform, die sie zu Gesicht bekam, zu beleidigen. Sie benahm sich in der Tat beleidigend.

Einmal wies Rhett sie nachlässig darauf hin, daß die meisten Männer, die in ihr Haus kamen, vor nicht allzu langer Zeit noch ebenfalls die blaue Uniform getragen hätten. Sie erwiderte nur, ein Yankee sei gar kein richtiger Yankee, wenn er nicht die blaue Uniform anhabe. Worauf Rhett achselzuckend erwiderte: »Beständigkeit, welch ein Juwel bist du!«

Weil Scarlett die blaue Uniform haßte, liebte sie es, den 0ffizieren so über den Mund zu fahren, daß die Armen gar nicht wußten, was sie davon denken sollten. Meistens waren es durchaus ruhige, wohlerzogene Leute, die sich in Feindesland einsam fühlten und Heimweh nach dem Norden hatten, sich auch wohl des Gesindels ein wenig schämten, das zu stützen sie die Aufgabe hatten. Es war eine sehr viel erfreulichere Schicht als die, in der Scarlett verkehrte. Die 0ffiziersdamen waren begreiflicherweise befremdet, daß Mrs. Butler mit einer Frau wie der rothaarigen Bridget Flaherty befreundet war, ihnen aber die ausgesuchtesten Kränkungen zufügte.

Auch die intimen Freundinnen mußten sich jedoch von Scarlett viel gefallen lassen. Sie nahmen es indessen gern in Kauf. Sie sahen in Scarlett nicht nur Reichtum und Eleganz, sondern auch die alte Zeit verkörpert mit ihren alten Namen, ihren alten Familien, ihrem Herkommen, was sie sich alles so gern zu eigen gemacht hätten. Daß die alten Familien, nach denen sie so heul begehrten, Scarlett ausgestoßen hatten, wußten die Damen der neuen Aristokratie freilich nicht. Sie wußten nur, daß Scarletts Vater ein großer Sklavenbesitzer und ihre Mutter eine Robillard aus Savannah gewesen sei; ihr Mann aber war Rhett Butler aus Charleston, und das genügte ihnen. Für sie war Scarlett der Keil, der ihnen den Eintritt in die gute alte Gesellschaft, die sich ihnen nicht öffnen wollte, ermöglichen konnte. Für sie war überhaupt Scarlett die Gesellschaft in Person. Da sie alle keine echten Damen waren, durchschauten Sie Scarletts Unmöglichkeit ebensowenig, wie sie selber sie erkannte. Sie nahmen Scarlett für das, was sie selber zu sein glaubte, und ließen sich von ihr alles gefallen, ihren Hochmut, ihre Launen, ihren Jähzorn, ihre Anmaßung, ihre unverblümte Grobheit und 0ffenheit in Bezug auf die Mängel der anderen.

Sie waren erst so kürzlich aus dem Nichts emporgestiegen und noch so unsicher, daß ihnen doppelt daran lag, gebildet zu erscheinen. Sie scheuten sich, ihren Ärger zu zeigen und auf einen groben Klotz einen groben Keil zu setzen, weil sie um jeden Preis als Damen gelten wollten. Sie taten zart besaitet, züchtig und unschuldig. Wenn man sie reden hörte, hätte man glauben können, sie hätten weder Beine noch natürliche Körperfunktionen, noch irgendwelche Kenntnis von der bösen Welt. Wer hätte gedacht, daß die rothaarige Bridget Flaherty mit ihrer weißen Haut und einem so breiten Irisch, daß man es mit dem Messerrücken zerschneiden konnte, ihres Vaters versteckte Ersparnisse gestohlen hatte, um nach Amerika zu gehen und in einem New Yorker Hotel Stubenmädchen zu werden! Und wer die launische Geziertheit Sylvia Connigtons und Mamie Barts auf sich wirken ließ, ahnte nicht, daß jene in der Kneipe ihres Vaters aufgewachsen war und in der Bar bedient hatte, während diese aus ihres Mannes eigenem Bordell stammte, wie man munkelte. Jetzt waren es zarte, sorglich umhegte G eschöpfe.

Die Männer hatten zwar Geld verdient, fanden sich aber weniger leicht in die neuen Formen und hatten wohl auch weniger Geduld, die Anforderungen der Vornehmheit zu erfüllen. Meist tranken sie auf Scarletts Gesellschaft zuviel, und dann gab es hinterher häufig einen oder auch mehrere unerwartete Logiergäste. Sie tranken nicht wie die Männer, die Scarlett als Mädchen gekannt hatte, sie bekamen aufgedunsene Gesichter, wurden stumpfsinnig, geschmacklos und unanständig, und mochte Scarlett auch noch soviel Spucknäpfe aufstellen, am Morgen nach einer Gesellschaft zeigten die Teppiche doch jedesmal wieder Spuren von Tabaksaft.

Sie verachtete diese Leute, aber sie hatte ihren Spaß an ihnen. Zu ihrem Vergnügen lud sie sie ein, und aus Verachtung schickte sie sie, sooft sie sich an ihnen ärgerte, wieder fort. Sie ließen sich alles gefallen.

Sie ließen sich sogar Rhett gefallen, was schwieriger war, denn Rhett durchschaute sie, und sie wußten es. Er scheute sich nicht, sie bloßzustellen, daß sie nackend dastanden. Er schämte sich seines Werdeganges nicht und tat so, als dächten jene ebenso unbefangen über ihre Anfänge. Selten versäumte er eine Gelegenheit, Dinge zu sagen, die nach stillschweigendem Übereinkommenbesser ungesagt blieben.

Man war nie sicher davor, daß er über ein Punschglas hinweg etwa höflich bemerkte: »Ralph, ich hätte mein Vermögen lieber mit dem Verkauf von Goldkuxen an Witwen und Waisen machen sollen wie du, anstatt mit Blockadeschifferei. Es ist so viel sicherer.« 0der: »Nun, Bill, hast woh l wieder einmal ein paar tausend Aktien nicht vorhandener Eisenbahnen verkauft?« 0der: »Gratuliere zum Staatsauftrag! Zu ärgerlich nur, daß du so viel Schmiergeld dafür hast geben müssen.«

Die Damen fanden ihn widerwärtig und unausstehlich. Die Männer sagten hinter seinem Rücken, er sei ein ekelhafter Kerl und ein Schweinehund. Das neue Atlanta hatte für ihn nicht mehr übrig als das alte. Er aber ging belustigt und voller Verachtung seinen Weg, gefeit gegen das Gerede der Umwelt und höflich auf eine Art, die beleidigend wirkte. Für Scarlett war er immer noch ein Rätsel, über das sie sich aber nicht länger den Kopf zerbrach. Sie war überzeugt, daß ihm nichts Freude machte oder je Freude machen könnte, daß er entweder schmerzlich nach etwas verlangte, was er nicht bekam, oder aber überhaupt niemals nach etwas verlangt hatte und deshalb gegen alles gleichgültig war. Er lachte über alles, was sie sagte, bestärkte sie in ihren Extravaganzen und Unverschämtheiten, verspottete ihre Anmaßungen und - bezahlte ihre Re chnungen.

Auch in Stunden größter Vertraulichkeit blieb Rhett bei seiner unerschütterlichen glatten Höflichkeit. Dennoch hatte Scarlett immer das Gefühl, daß er sie heimlich beobachtete, und sie wußte, daß sie nur plötzlich den Kopf zu wenden brauchte, um ihn auf einem forschenden, erwartungsvollen Blick, dem Ausdruck einer fast beängstigenden Geduld zu ertappen, den sie nicht verstand.

Manchmal war es sehr angenehm, mit ihm zu leben, trotz seiner unglückseligen Angewohnheit, keine Lüge, keine Verstellung, keine Aufschneiderei durchzulassen. Er hörte zu, wenn sie von dem Laden, den Mühlen, der Kneipe, den Sträflingen und den Kosten für ihren Unterhalt erzählte und gab klugen, nüchternen Rat. Er hatte immer wieder Lust an den Bällen und Gesellschaften, die sie so liebte, und besaß einen unerschöpflichen Vorrat derber Anekdoten, die er ihr an den wenigen Abenden, die sie allein verbrachten, wenn der Tisch abgedeckt war und Schnaps und Kaffee vor ihnen standen, auftischte. Sie machte die Erfahrung, daß er ihr alles gewährte, was sie wünschte, und ihr auf jede Frage, die sie stellte, Antwort gab, solange sie offen und ehrlich vorging, ihr aber alles verweigerte, was sie hintenherum durch Kniffe, Winkelzüge und weibliche Künste zu erlangen suchte. Er hatte eine Art, sie zu durchschauen und einfach auszulachen, die sie immer wieder entwaffnete und hilflos ihm auslieferte.

Angesichts des liebenswürdigen Gleichmuts, mit dem er sie zu behandeln pflegte, fragte Scarlett sich häufig, wenn auch ohne wirklich dringende Neugierde, warum er sie wohl geheiratet habe. Männer heirateten aus Liebe oder des Geldes wegen oder um ein Heim und Kinder zu haben; er aber hatte sie aus keinem dieser Gründe genommen. Er liebte sie sicherlich nicht, ihr schönes Haus nannte er eine architektonische Mißgeburt und sagte, er möchte überhaupt lieber in einem gut geführten Hotel leben als zu Hause. Auch machte er nie eine Andeutung, daß er sich ein Kind wünschte, wie Charles und Frank es getan hatten. In einer Anwandlung von Koketterie fragte sie ihn einmal, warum er sie geheiratet habe, und geriet in Wut, als er ihr mit lustig funkelnden Augen antwortete: »Ich habe dich geheiratet, mein Schatz, weil ich dich als Schoßhündchen haben wollte.«

Nein, die üblichen Heiratsgrunde anderer Männer bewegten ihn nicht. Er hatte sie einzig und allein geheiratet, weil er sie haben wollte und auf anderem Wege nicht bekam. Das hatte er an jenem Abend, da er um sie anhielt, offen gesagt. Er hatte sie begehrt, genau wie er Belle Watling begehrt hatte. Das war kein angenehmer Gedanke, im Gegenteil, es war eigentlich eine glatte Beleidigung. Aber sie schüttelte den Gedanken daran ab, wie sie alles Unerfreuliche abzuschütteln gelernt hatte. Sie hatten einen Pakt geschlossen, und sie ihrerseits war damit ganz zufrieden. Sie hoffte, er sei es auch, dachte aber nicht weiter darüber nach.

Allein eines Nachmittags, als sie Dr. Meade wegen einer Verdauungsstörung zu Rat zog, teilte er ihr eine unerfreuliche Tatsache mit, die sich nicht ohne weiteres abschütteln ließ. Mit einem echten Haß in den Augen stürmte sie in der Abenddämmerung nach Hause und sofort in ihr Schlafzimmer und sagte Rhett, sie erwarte ein Kind.

Er hatte es sich in einem seidenen Schlafrock bequem gemacht und war in eine Wolke von Zigarrenrauch gehüllt. Er blickte sie scharf an, während sie sprach. Aber er erwiderte nichts. Er beobachtete sie schweigend, und während er auf ihr nächstes Wort wartete, lag etwas merkwürdig Gespanntes in seiner Haltung, das ihr jedoch entging. Sie war in heller Empörung und Verzweiflung und hatte für nichts anderes Sinn.

»Du weißt doch, ich will keine Kinder mehr haben! Ich habe überhaupt nie eins haben wollen. Immer, wenn es gerade bergauf geht, bekomme ich ein Kind! Sitz nur nicht da und lach mich aus! Du willst ja auch keins! Ach, heilige Mutter Gottes!«

Seine Züge verhärteten sich kaum merklich, seine Augen wurden ausdruckslos.

»Nun, wir können es ja Miß Melly geben. Hast du mir nicht erzählt, sie sei so hirnverbrannt, sich noch ein Kind zu wünschen?«

»Ach, ich könnte dich totschlagen! Ich will es gar nicht erst haben, sage ich dir, ich will nicht!«

»Nicht? Sprich ruhig weiter.«

»Aber dagegen kann man doch etwas tun. 0h, ich bin nicht mehr die Unschuld vom Lande. Jetzt weiß ich, daß eine Frau keine Kinder zu haben braucht, wenn sie nicht will. Es gibt Mittel ...«

Er war aufgesprungen und hatte sie beim Handgelenk gepackt, das Gesicht voll wilder, jagender Angst. »Scarlett, bist du wahnsinnig? Sag mir die Wahrheit, du hast doch nichts unternommen?«

»Nein, aber ich will. Meinst du, ich will mir wieder die ganze Figur verderben, nachdem ich eben wieder die richtige Taillenweite habe und mein Leben genieße und ...«

»Woher hast du das? Wer hat dir so etwas gesagt?«

»Mamie Bart ... sie ...«

»Die Hurenwirtin kennt natürlich solche Kniffe. Diese Frau kommt mir nicht wieder ins Haus, verstehst du? Es ist mein Haus, und ich habe hier zu sagen. Du wirst kein Wort mehr mit ihr sprechen.«

»Ich tu, was mir paßt. Laß mich los. Was geht dich das an.«

»0b du ein Kind oder zwanzig hast, ist mir einerlei, aber nicht, ob du stirbst.«

»Ich ... sterben?«

»Ja, sterben. Mamie Bart wird dir wohl nicht erzählt haben, in welche Gefahr sich eine Frau begibt, wenn sie so etwas tut.«

»Nein«, sagte Scarlett zögernd. »Sie sagte nur, das brächte alles fein in 0rdnung.«

»Bei Gott, ich schlage sie tot«, tobte Rhett, das Gesicht dunkel vor Wut. Er schaute hernieder auf Scarletts tränenüberströmtes Gesicht, und sein Zorn legte sich etwas, aber seine Züge waren immer noch hart und regungslos. Plötzlich nahm er sie auf den Arm, setzte sich auf den Stuhl und drückte sie fest an sich, als fürchte er, sie könnte ihm verlorengehen.

»Hör zu, mein Kleines. Du solltest nicht so leichtsinnig mit deinem Leben umgehen, verstehst du? Du lieber Gott, ich brauche Kinder ebensowenig wie du, aber ich kann sie doch ernähren. Solche Dummheiten will ich nicht wieder von dir hören. Und wenn du dich unterstehst, das zu versuchen, Scarlett ... ich habe einmal ein Mädchen daran sterben sehen. Es war nur eine ... nun, aber ein hübsches, gutes Ding trotzdem. Es ist kein leichter Tod, sage ich dir. Ich ...«

»Aber Rhett!«

Sie erschrak. So bewegt hatte er auf einmal gesprochen. Noch nie hatte sie ihn so gesehen.

»Wo ... wer?«

»In New 0rleans. Das ist Jahre her. Ich war noch jung und eindrucksfähig.« Plötzlich beugte er den Kopf und begrub die Lippen in ihrem Haar. »Du sollst dein Kind bekommen, Scarlett, und wenn ich dir für die neun Monate Handschellen anlegen muß.«

Sie setzte sich auf seinen Schoß und sah ihm mit unverhüllter Neugier ins Gesicht. Unter ihrem forschenden Blick wurde es im Nu wieder glatt und höflich, als habe ein Zauber alle Empfindungen fortgewischt. Er hob die Brauen und zog die Mundwinkel herab.

»Bin ich dir denn so viel?« fragte sie und senkte die Lider.

Gleichmütig streifte sie sein Blick, als wollte er abschätzen, wieviel Koketterie hinter dieser Frage steckte, und als er las, was ihr Verhalten in Wahrheit bedeutete, antwortete er obenhin.

»Nun ja, siehst du, ich habe schon allerlei Geld an dich gewendet, und es wäre mir sehr ärgerlich, es zu verlieren.«

Melanie kam aus Scarletts Zimmer, müde von der Anstrengung, aber zu Tränen beglückt über die Geburt von Scarletts Tochter. Rhett stand in höchster Spannung in der Halle, von weggeworfenen Zigarrenstummeln umgeben, die Löcher in den Teppich gebrannt hatten.

»Sie können jetzt hineingehen, Kapitän Butler«, sagte sie schüchtern.

Schnell ging er an ihr vorbei, und Melanie sah im Fluge, wie er sich über das winzige, nackte Geschöpf auf Mammys Schoß beugte; dann machte Dr. Meade die Tür schon wieder zu. Melanie sank auf einen Stuhl und errötete vor Verlegenheit, daß sie, ohne es zu wollen, diesen intimen Augenblick miterlebt hatte.

»Ach, wie lieb!« dachte sie bei sich. »Was hat der arme Kapitän Butler sich für Sorgen gemacht! Und die ganze Zeit hat er keinen Schluck getrunken. Wie rücksichtsvoll! Viele Männer sind doch ganz betrunken, wenn ihre Kinder endlich zur Welt kommen. Ich glaube, ein Schluck täte ihm gut. 0b ich es ihm sage? Nein, das wäre vorlaut von mir.«

Dankbar lehnte sie sich in ihren Stuhl zurück. Der Rücken tat ihr weh und fühlte sich an, als wolle er in der Taille durchbrechen. Ach, die glückliche Scarlett. Hätte sie selbst nur auch Ashley bei sich gehabt, an dem furchtbaren Tage, da Beau kam. Sie hätte nicht soviel gelitten. Wäre doch das kleine Mädchen hinter der geschlossenen Tür dort ihres und nicht Scarletts! Ach, wie schlecht ich doch bin, dachte sie schuldbewußt. Ich trachte nach ihrem Kinde, und dabei ist Scarlett doch so gut gegen mich gewesen. Vergib mir, Herr. Ich möchte ja auch eigentlich gar nicht Scarletts Baby haben ... aber so sehr gern ein eigenes!

Sie schob sich ein kleines Kissen in den schmerzenden Rücken und dachte voll Verlangen an eine eigene kleine Tochter. Aber Dr. Meade wollte nicht mit sich reden lassen. Sie selbst war zwar durchaus bereit, für ein zweites Kind ihr Leben aufs Spiel zu setzen, aber davon wollte Ashley nichts wissen. Ein Mädchen! Wie würde sich Ashley über ein kleines Mädchen freuen!

Ein Mädchen! Erschreckt fuhr Melanie auf. Sie hatte ja Kapitän Butler gar nicht gesagt, daß es ein Mädchen war! Natürlich hatte er einen Jungen erwartet. Melanie wußte, daß der Frau ein Mädchen ebenso willkommen ist wie ein Junge, aber für einen Mann, besonders für einen so eigenwilligen wie Rhett, war ein Mädchen ein Schlag ins Gesicht, ein Makel an seiner Manneswürde. Wäre Melanie Butlers Frau gewesen, sie wäre lieber bei der Geburt gestorben, als daß sie ihm eine Tochter geboren hätte.

Aber Mammy, die mit breitem Grinsen aus dem Zimmer gewa tschelt kam, beruhigte sie und gab ihr zugleich das Rätsel auf, was für ein Mann Kapitän Butler denn nun eigentlich sei.

»Als ich eben das Kind gebadet habe«, sagte Mammy, »habe ich Mister Rhett ein bißchen um Entschuldigung gebeten, daß es kein Junge ist. Aber Jesus, Miß Melly, wissen Sie, was er gesagt hat? >Willst du still sein, Mammy<, hat er gesagt, >was soll ich mit einem Jungen, Jungen sind kein Spaß, machen nur Sorge, aber Mädchen machen Spaß, ich gäbe dies Mädchen nicht für ein Dutzend Jungen her.< Dann wollte er mir das Kind splitternackt, wie es war, wegnehmen, und ich habe ihm aber einen Klaps gegeben und gesagt: >Benehmen Sie sich, Mister Rhett! Wir wollen einmal abwarten, bis Sie einen Jungen bekommen, dann lache ich aber, wenn Sie vor Freude brüllen.< Da hat er gegrinst und den Kopf geschüttelt. Er hat gesagt: >Mammy, du bist ein Schafskopf, von Jungen hat niemand etwas, das siehst du doch an mir.< Ja, Miß Melly, er hat sich wie ein Gentleman benommen«, schloß Mammy gnädig, und es entging Melanie nicht, daß Rhett bei Mammy vieles wiedergutgemacht hatte. »Vielleicht habe ich Mister Rhett auch ein bißchen Unrecht getan, und heute ist ein Glückstag für mich, Miß Melly. Nun habe ich schon drei Generationen Robillard - Mädchen in Windeln gewickelt. Ein richtiger Glückstag.«

Für einen im Hause aber war es kein Glückstag. Wade Hamilton trieb sich trübselig im Eßzimmer umher, von allen übersehen oder gelegentlich auch ausgescholten. Schon ganz früh hatte Mammy ihn aus dem Schlaf geweckt, ihn eilig angezogen und mit Ella zu Tante Pitty gebracht. Als einzige Erklärung wurde ihm gesagt, Mutter sei krank, und der Lärm beim Spielen könnte sie stören. Bei Tante Pitty stand alles auf dem Kopf, die alte Dame hatte ihre Zustände bekommen und sich ins Bett gelegt, C ookie pflegte sie, und Peter hatte schlecht und recht ein Frühstück für die Kinder zusammengebraut. Im Laufe des Morgens bekam Wade Angst. Wenn nun Mutter starb? Auch andere Jungen hatten ihre Mutter verloren. Er hatte seine Mutter sehr lieb, beinahe ebensosehr, wie er sich vor ihr fürchtete, und die Vorstellung, schwarze Pferde mit Straußenfedern am Geschirr könnten sie auf einem schwarzen Leichenwagen wegfahren, wie er es bei anderen gesehen hatte, fiel ihm so schwer auf seine kleine Brust, daß er kaum zu atmen vermochte. Mittags schlüpfte er davon, rannte nach Hause, die Angst saß ihm auf den Fersen. 0nkel Rhett, Tante Melly oder Mammy sagten ihm sicher die Wahrheit.

Aber 0nkel Rhett und Tante Melly waren nirgends zu sehen, und Mammy und Dilcey liefen mit Handtüchern und heißem Wasser treppauf, treppab und bemerkten ihn gar nicht. Von oben hörte er hin und wieder Dr. Meades Stimme; einmal hörte er auch seine Mutter stöhnen und brach in Schluchzen aus. Um sich zu trösten, bändelte er mit dem honiggelben Ka ter an, der auf der sonnigen Fensterbank lag. Endlich kam Mammy, die immer so gut zu ihm war, die Treppe herunter, jetzt aber machte sie ein böses Gesicht und schalt: »Du bist doch der ungezogenste Junge, den ich kenne! Habe ich dich nicht zu Miß Pitty geschickt? Lauf schnell wieder hin!«

»Muß Mutter ... muß sie sterben?«

»Herr Jesus, sterben? Nein, du Quälgeist. Mein Gott, sind Jungens eine Plage. Mach, daß du fortkommst!«

Aber Wade ging nicht fort. Er zog sich hinter die Portieren in der Halle zurück. Mammys Worte hatten ihn nicht recht überzeugt. Eine halbe Stunde später kam Tante Melly die Treppe eilig herunter. Sie sah blaß und müde aus, aber sie lächelte vor sich hin. Als sie sein betrübtes Gesichtchen erblickte, sagte sie erschrocken und ärgerlich, wie sie sonst nie tat: »Wade, das ist aber unartig von dir. Warumbist du nicht bei Tante Pitty geblieben?«

»MußMutter sterben?«

»Gott bewahre, du dummer kleiner Junge!« Dann wurde sie freundlich. »Dr. Meade hat ihr gerade ein niedliches kleines Baby gebracht, eine süße kleine Schwester für dich, mit der du spielen kannst, und wenn du ganz artig bist, darfst du sie heute abend sehen. Nun lauf hinaus, spiel und sei ganz leise.«

Wade schlüpfte in das stille Eßzimmer. Seine kleine Welt war ins Wanken geraten. War denn an diesem sonnigen Tag, da die Großen sich so merkwürdig benahmen, nirgends Platz für einen verängstigten siebenjährigen kleinen Jungen? Er setzte sich in den Erker und knabberte an einem Blatt der Begonie, die im Blumenkasten in der Sonne wuchs. Es war so scharf, daß ihm die Tränen in die Augen traten, er fing an zu weinen. Mutter mußte doch wohl sterben, niemand achtete auf ihn, und alle rasten sie durchs Haus, nur wegen eines neuen Babys, eines kleinen Mädchens. Wade hatte für Babys wenig Interesse und noch weniger für Mädchen. Das einzige kleine Mädchen, das er genau kannte, war Ella, und bisher hatte sie ihm weder Achtung noch Zuneigung abgewinnen können.

Nach einer langen Pause kamen Dr. Meade und 0nkel Rhett die Treppe herunter und standen in leisem Gespräch in der Halle. Als 0nkel Rhett die Tür hinter dem Doktor geschlossen hatte, kam er ins Eßzimmer und goß sich aus der Karaffe ein großes Glas ein, dann erst sah er Wade. Er lächelte. So hatte Wade ihn nie lächeln sehen. Sein strahlendes Gesicht machte ihm Mut, er sprang von der Fensterbank und lief zu ihm hin. »Du hast eine kleine Schwester bekommen«, sagte Rhett und kniff ihn ein wenig in den Arm, »das schönste Baby, das du je gesehen hast. Aber was gibt es denn da zu weinen?«

»Mutter ...«

»Mutter ist gerade beim Essen. Sie bekommt einen ganz großen Teller voll Huhn mit Reis und ein Tasse Kaffee, und nach einer kleinen Weile machen wir ihr Sahneeis, und dann bekommst du auch zwei Teller davon ab, wenn du magst. Und deine kleine Schwester will ich dir auch zeigen.«

Wade fiel ein solcher Stein vom Herzen, daß ihm ganz schwach wurde. Er versuchte, etwas Nettes über die kleine Schwester zu sagen, brachte es aber nicht fertig. Alle interessierten sich nun für dies Mädchen. Aus ihm machte sich niemand etwas, nicht einmal Tante Melly und 0nkel Rhett.

»0nkel Rhett«, fing er schließlich an, »mögen die Leute Mädchen lieber als Jungen?«

Rhett setzte sein Glas aus der Hand, sah Wade scharf in das kleine Gesicht und blickte ihn mit plötzlichem Verstehen an.

»Nein, das kann man eigentlich nicht sagen«, antwortete er ernsthaft als überlegte er sich die Sache genau. »Das kommt wohl nur daher, daß Mädchen ärgere Quälgeister sind als Jungen, und um Quälgeister kümmert man sich immer mehr als umjemanden, der einen nicht stört.«

»Aber Mammyhat gesagt, Jungens sind Quälgeister!«

»Ach, Mammy war ein bißchen aus dem Häuschen und hat es nicht ernstgemeint.«

»0nkel Rhett, hättest du nicht lieber einen kleinen Jungen gehabt als ein kleines Mädchen?«fragte Wadehoffnung svoll.

»Nein«, antwortete Rhett sofort, und als der Kleine ein langes Gesicht machte, fuhr er rasch fort:

»Warum sollte ich denn einen Jungen haben wollen, wenn ich schon einen habe?«

»Du hast einen?« Wade blieb der Mund offenstehen. »Wo denn?«

»Hier steht er ja«, antwortete Rhett, hob das Kind auf und setzte es sich aufs Knie. »Du bist mein Junge, mehr Jungen brauche ich nicht, mein Sohn.«

In diesem Augenblick fühlte Wade sich so glücklich und geborgen, daß er fast wieder angefangen hätte zu weinen. Es gluckste ihm im Hals, und er barg den Kopf an Rhetts Weste.

»Du bist doch mein Junge, nicht wahr?«

»Kann man denn ... kann man der Junge von zwei Männern sein?« fragte Wade, und die Treue zu dem Vater, den er nie gekannt hatte, rang mit der Liebe zu dem, der ihn so verständnisvoll an sich drückte.

»Das kann man«, erwiderte Rhett fest. »Genauso, wie du Mutters Junge sein kannst und außerdem Tante Mellys.«

Das leuchtete Wade ein. Dabei konnte er sich etwas denken. Er lächelte und rieb sich schüchtern an Rhetts Arm.

»Du verstehst was von kleinen Jungens, nicht wahr, 0nkel Rhett?«

Rhetts dunkles Gesicht bekam wieder die alten scharfen Furchen, und seine Lippen zuckten.

»Ja«, sagte er bitter, »das tue ich.«

Plötzlich verspürte Wade wieder Angst, und etwas wie Eifer sucht überkam ihn. 0nkel Rhett dachte gar nicht an ihn, sondern an jemand anders.

»Hast du denn noch mehr kleine Jungens?«

Rhett stellte ihn wieder auf die Füße.

»Ich will noch einen Schluck trinken, und das sollst du auch, Wade, deinen ersten Schluck Wein auf die Gesundheit der neuen kleinen Schwester.«

»Hast du noch mehr ...«, fing Wade wieder an. Dann sah er Rhett die Rotweinkaraffe in die Hand nehmen und vergaß alles andere darüber, daß er nun mit einem Glas Wein anstoßen sollte wie die Großen.

»Ach, ich darf ja nicht, 0nkel Rhett. Ich habe Tante Melly versprochen, solange nicht zu trinken, bis ich mit der Universität fertig bin, und wenn ich es bis dahin nicht tue, schenkt sie mir eine Uhr.«

»Und ich schenke dir eine Kette dazu, diese hier, die ich trage, wenn du willst«, sagte Rhett und lächelte wieder. »Tante Melly hat ganz recht, aber sie hat von Schnaps gesprochen und nicht von Wein. Wein trinken wie ein Gentleman mußt du lernen, mein Sohn, und dies ist gerade der richtige Tag, damit anzufangen.«

Sorgsam verdünnte er den Rotwein mit Wasser, bis das Getränk nur noch einen leichten roten Schimmer hatte, dann gab er Wade das Glas. In diesem Augenblick kam Mammy ins Eßzimmer. Sie hatte sich umgezogen und trug ihr bestes schwarzes Sonntagskleid mit frisch gestärkter Schürze und Haube. Als sie hereingewatschelt kam, wiegte sie sich fortwährend in den Hüften, und in ihren Röcken rauschte und raschelte es wie Seide. Ein breites Lächeln entblößte ihren fast zahnlosen Kiefer.

»Gratuliere auch, Mister Rhett«, sagte sie.

Wade stockte mit dem Glase an seinen Lippen. Mammy hatte doch den Stiefvater nie leiden können. Nie hatte sie ihn anders angeredet als »Kap'n Butler« und war nie anders als würdevoll und kühl gegen ihn gewesen. Nun stand sie strahlend vor ihm und nannte ihn »Mister Rhett«. Heute stand aber auch alles auf dem Kopf.

»Du nimmst wohl lieber Rum als Rotwein«, sagte Rhett und holte eine kleine dicke Flasche aus dem Schrank. »Ist es nicht ein prachtvolles Baby?«

»Das ist es«, antwortete Mammyund schmatzte, als sie das Glas nahm. »Hast du schon einmal ein so schönes gesehen?«

»Nun, Miß Scarlett war wohl auch beinahe so schön, als sie kam, aber doch nicht ganz.«

»Noch ein Glas! Hör mal, Mammy ...« Es klang streng, aber er zwinkerte mit den Augen: »Was hör' ich denn da rascheln?«

»Ach Gott, Mister Rhett, das ist doch nur mein rotseidener Unterrock«, kicherte Mammyund drehte sich, bis ihr mächtiger Körper wackelte.

»Nur dein Unterrock? Das glaube ich nicht. Es hört sich ja an wie ein ganzer Sack voll welker Blätter. Zeig mal her. Heb mal deinen Rock hoch.«

»Ach,MisterRhett,Sie sindeinSchlimmer!0 Gott!«

(Video) Teil 5 von 5 - Vom Winde verweht - Margaret Mitchell - Ungekürztes Hörbuch

Mammy quiekte ein bißchen, trat zurück, hob in einer Entfernung von einem Meter sittsam ihr Kleid um ein paar Zoll in die Höhe und ließ die Rüsche eines roten Taftunterrockes sehen.

»Du hast aber lange gebraucht, bis du ihn angezogen hast«, knurrte Rhett, in seinen schwarzen Augen jedoch lachte es.

»Ja, Master, viel zu lange.«

Dann sagte Rhett etwas, was Wade nicht verstand.

»Kein Maultier imPferdegeschirr mehr?«

»Mister Rhett, das war aber schlecht von Miß Scarlett, daß sie Ihnen das weitergesagt hat. Sie wollen es doch einer alten Sklavenfrau nicht nachtragen?«

»Nein, ich trage es dir nicht nach. Ich wollte nur wissen, wie wir jetzt miteinander stehen. Trink noch ein Glas, Mammy, du kannst die ganze Flasche bekommen. Trink, Wade, stoß mit uns an.«

»Schwesterchen soll leben!« rief Wade und trank das Glas leer. Er verschluckte sich, es gab ein großes Gehuste und Gekrächze, und die beiden anderen klopften ihmlachend auf den Rücken.

Von dem Augenblick an, da Rhett die Tochter geboren war, wunderten sich alle, die ihn sahen, über ihn, und manches feststehende Urteil über ihn geriet ins Wanken. Wer hätte es gedacht, daß gerade er so ungeniert und offenherzig seinen Vaterstolz zeigen werde, besonders angesichts der peinlichen Tatsache, daß sein Erstgeborenes nur ein Mädchen war!

Seine Vaterwürde wurde ihm auch keineswegs langweilig, was manchen Frauen zu heimlichem Neid gereichte, deren Männer sich schon lange vor der Taufe nicht mehr um ihr Kind kümmerten. Auf der Straße nahm er die Leute beim Westenknopf und erzählte lang und breit, was für Fortschritte das Kind machte, ohne auch nur seinem Berichte anstandshalber die heuchlerische Einleitung vorauszuschicken: »Natürlich findet jeder sein eigenes Kind fabelhaft, aber ...« Er fand seine Tochter wirklich fabelhaft und mit anderen gar nicht zu vergleichen. Als die neue Kinderfrau das Baby an einem Stück fetten Schweinefleisch lutschen ließ und dadurch den ersten Durchfall verschuldete, lachten sich gesetztere Eltern über Rhetts Benehmen halbtot. Er ließ sofort Dr. Meade und zwei andere Ärzte kommen und wurde nur mit Mühe davon abgehalten, die unglückliche Kinderfrau mit der Reitpeitsche zu schlagen. Sie wurde entlassen, und es folgte eine Reihe neuer Kinderfrauen, von denen jede höchstens eine Woche blieb. Keine konnte den anspruchsvollen Vater zufriedenstellen.

Auch Mammy betrachtete die Kinderfrauen, die kamen und gingen, mit Mißfallen. Auf jede fremde Sklavenin war sie eifersüchtig und sah nicht ein, warum sie nicht selber für das Baby mitsamt Wade und Ella sollte sorgen können. Allein Mammy wurde alt, und Rheumatismus hemmte ihren Schritt. Rhett hatte nicht den Mut, dies als Grund für die Anstellung einer anderen Wärterin anzugeben. Er sagte ihr lieber, in seiner Stellung könne er es sich nicht leisten, nur eine Kinderfrau zu beschäftigen, das mache sich nicht gut Er wolle zwei für die schwerere Arbeit anstellen, ihr aber die 0beraufsicht überlassen. Das leuchtete Mammy durchaus ein. Eine zahlreiche Dienerschaft hob zugleich mit Rhetts Ansehen auch das ihre. Aber freigelassenes Sklavenpack wollte sie in ihrer Kinderstube nicht dulden. Deshalb ließ Rhett Prissy aus Tara kommen. Er kannte ihre Fehler, aber schließlich gehörte sie zur Familie. Dazu lieferte 0nkel Peter noch eine Großnichte namens Lou, die einer von Miß Pittys Kusinen gehört hatte.

Noch ehe Scarlett wieder aufstehen konnte, fiel ihr Rhetts Vaterstolz auf, und wenn Besuch kam, war er ihr schon ein wenig peinlich. Es war schön und gut, wenn ein Mann sein Kind liebhatte, aber die Liebe so zu zeigen, war doch etwas unmännlich. Er sollte lieber unbekümmert und überlegener tun wie andere Männer.

»Du machst dich lächerlich«, sagte sie gereizt, »und ich sehe nicht ein, warum.«

»Nicht? Das kann ich mir denken. Es kommt daher, daß dies Kind der erste Mensch ist, der mir ganz und gar gehört.«

»Mir gehört sie doch auch!«

»Nein, du hast deine beiden anderen Kinder. Dies ist meines.«

»Zum Teufel«, sagte Scarlett, »ich habe es doch zur Welt gebracht. Und, mein Lieber, ich gehöre dir doch auch?«

Rhett schaute sie über den schwarzen Kopf des Kindes an und lächelte sonderbar.

»Meinst du wirklich, mein Kind?«

Nur Melanies Erscheinen erstickte einen der raschen, hitzigen Auftr itte im Keime, zu denen es jetzt so leicht zwischen ihnen kam. Scarlett schluckte ihren Zorn hinunter und sah zu, wie Melanie das Kind auf den Arm nahm. Man hatte sich auf die Namen Eugenie Victoria für das Kind geeinigt; aber an diesem Nachmittag gab Melanie ihm, ohne es zu wissen, einen anderen Namen, der an ihm haftenblieb, genau wie »Pittypat« alle Erinnerung an den Namen Sarah Jane ausgelöscht hatte.

Rhett hatte sich über das Kind gebeugt und gesagt, die Augen seien erbsengrün.

»Gott bewahre«, protestierte Melanie und dachte nicht daran, daß Scarletts Augen ungefähr solche Tönung aufwiesen. »Sie werden blau wie Mr. 0'Haras Augen, blau wie die >bonnie blue flag<, die schöne blaue Flagge.«

»Bonnie Blue Butler«, lachte Rhett, nahm ihr das Kind ab und betrachtete sich die kleinen Augen genauer, und »Bonnie« wurde sie genannt, bis auch ihre Eltern sich kaum noch erinnerten, daß sie auf den Namen zweier Königinnen getauft worden war.

Als Scarlett endlich wieder ausgehen konnte, ließ sie sich von Lou so fe st schnüren, wie es irgend auszuhalten war, dann legte sie sich das Meßband um die Taille. »Fünfzig Zentimeter!« Sie stöhnte. Das hatte sie nun davon. Ihre Taille war so dick wie Tante Pittys, fast so dick wie Mammys.

»Zieh noch fester an, Lou, und sieh, ob du es nicht auf sechsundvierzig Zentimeter bringst, sonst passe ich in keines von meinen Kleidern hinein.«

»Dann reißen die Schnüre«, sagt Lou. »Missis sind eben dicker geworden, dabei ist nichts zu machen.«

»Dabei ist doch etwas zu machen«, dachte Scarlett bei sich, als sie wütend die Nähte ihres Kleides auseinanderriß, um die fehlenden Zentimeter auszulassen. »Ich bekomme eben keine Kinder mehr.«

Bonnie war wirklich ein hübsches Baby und machte ihr Ehre. Rhett vergötterte die Kleine, aber mehr Kinder wollte Scarlett nicht haben. Wie sie das anfangen wollte, war ihr allerdings nicht recht klar, denn mit Rhett wurde man nicht so leicht fertig wie mit Frank, Rhett hatte keine Angst vor ihr und machte sicher Schwierigkeiten. Da er so vernarrt in Bonnie war, würde er sicher nächstes Jahr einen Jungen haben wollen, wenn er auch noch soviel davon schwatzte, er wolle jeden Jungen, den sie ihm schenkte, ertränken. Nun, sie wollte ihm ganz gewiß keinen schenken und auch kein Mädchen mehr. Drei Kinder waren für eine Frau genug.

Als Lou die Nähte wieder zusammengenäht und geglättet und Scarlett das Kleid zugeknöpft hatte, bestellte sie den Wagen und fuhr zum Holzlager hinaus. Auf der Fahrt wurde sie bald guten Mutes und vergaß ihre Taille, denn im Lager wollte sie Ashley sprechen und die Bücher mit ihm durchsehen. Wenn sie Glück hatte, traf sie ihn allein an. Es war Wochen vor Bonnies Geburt gewesen, daß sie ihn zuletzt gesehen hatte. In ihrem hochschwangeren Zustand hatte sie ihn auch gar nicht sehen wollen. Während dieser ganzen Zeit aber hatte sie das tägliche Zusammentreffen mit ihm doch sehr vermißt, ebenso die Tätigkeit im Geschäft und das Gefühl der Wichtigkeit, das damit verbunden war. Sie brauchte natürlich nicht mehr zu arbeiten. Sie hätte die Mühlen leicht verkaufen und das Geld für Wade und Ella anlegen können. Aber dann hätte sie Ashley so gut wie gar nicht mehr gesehen, nur noch auf Gesellschaften und unter vielen anderen Leuten. Mit Ashley zusammen zu arbeiten aber war ihre größte Freude.

Als sie sich dem Lager näherte, sah sie mit Wohlgefallen, wie hoch das Holz gestapelt dalag und wie viele Kunden anwesend waren und sich mit Hugh Elsing unterhielten. Sechs Maultiergespanne waren da, und sechs Wagen wurden von den schwarzen Fahrern beladen. »Sechs Gesp anne«, dachte sie stolz. »Das habe ich alles allein zustande gebracht.«

Ashley kam an die Tür des kleinen Kontors, seine Augen strahlten, sie wiederzusehen. Er half ihr aus dem Wagen und rührte sie hinein, als wäre sie eine Königin.

Aber ihre Freude wurde ein wenig getrübt, als sie die Bücher mit ihm durchging und sie mit denen Johnnie Galleghers verglich. Ashley hatte nur knapp seine Unkosten gedeckt, und Johnnie hatte einen ansehnlichen Gewinn herausgewirtschaftet. Sie hütete sich, etwas zu sagen, als sie die Seiten miteinander verglich, aber Ashley sah es ihrem Gesicht an.

»Scarlett, es tut mir leid, ich kann nur sagen, du hättest mich lieber mit freien Schwarzen arbeiten lassen sollen als mit Sträflingen. Ich glaube, mit ihnen käme ich besser zurecht.«

»Schwarze! Aber ihr Lohn richtet uns ja zugrunde! Sträflinge sind spottbillig. Wenn Johnnie soviel mit ihnen leistet ...«

Ashleys Augen blickten ihr über die Schulter hinweg auf etwas, das sie nicht sah, und die Freude darin war erloschen.

»Ich kann nicht mit Sträflingen wirtschaften wie Johnnie Gallegher. Ich kann keine Menschen schinden.«

»Heiliger Strohsack! Johnnie versteht es wunderbar. Ashley, du bist eben zu weichherzig. Johnnie hat mir gesagt, sobald sich jemand um die Arbeit drücken wolle, melde er sich bei dir krank und du gebest ihm einen Tag frei. Du lieber Gott! So verdient man kein Geld. Wenn es nicht gerade ein gebrochenes Bein ist, heilt man fast jede Krankheit am besten durch eine Tracht Prügel.«

»Scarlett, hör auf! Ich kann das von dir nicht hören!« rief Ashley, und seine Augen kehrten voller Zorn zu ihr zurück, daß sie kurz abbrach. »Ist dir denn nicht klar, daß es Menschen sind, darunter kranke, unterernährte, verelendete ... ach, Scarlett, ich kann es nicht mit ansehen, wie du durch ihn verrohst, die du immer so lieb warst ...«

»Wie ... ich ... durch ihn? Was?«

»Ja, ich muß es dir sagen, wenn ich auch kein Recht dazu habe. Bei Rhett Butler. Alles, was er anrührt, vergiftet er. Und nun hat er dich genommen, du Liebe, Großherzige, Sanfte, denn das warst du trotz aller deiner Keckheit und hat dies aus dir gemacht ... hartherzig und unmenschlich bist du bei ihm geworden.«

»Ach«, hauchte Scarlett schuldbewußt und doch glücklich, weil sie Ashley ihretwegen so tief bewegt sah und weil er sie immer noch lieb fand.

Gottlob, er gab Rhett die Schuld an ihrer Hartherzigkeit. Rhett hatte zwar gar nichts damit zu tun, und es war alles ihre Schuld, aber es konnte Rhett nichts schaden, wenn ihm noch etwas mehr angekreidet wurde.

»Wäre es doch irgend jemand anders, mir machte es nichts aus ... aber Rhett Butler! Ich sehe ja, was er dir angetan hat. 0hne daß du es merkst, zwingt er deine Gedanken in dieselbe Bahn, der seine eigenen folgen. ja, ich weiß, das darf ich nicht sagen. Er hat mir das Leben gerettet, und ich muß ihm dankbar sein. Aber bei Gott, ich wollte, es wäre ein anderer gewesen! Ich habe auch nicht das Recht, mit dir so zu sprechen ...«

»Doch, Ashley, du hast das Recht dazu ... du und kein anderer ...«

»Ich sage dir, ich kann es nicht mit ansehen, wie deine feine Natur unter ihm vergröbert, wie deine Schönheit und dein Zauber der Macht eines Mannes ausgeliefert sind, der ... ach, wenn ich mir denke, daß er dich anrührt, könnte ich ...«

»Gleich küßt er mich!« frohlockte Scarlett innerlich. »Und es ist dann nicht einmal meine Schuld.« Sie neigte sich ihm entgegen, aber auf einmal zuckte er zurück, als ginge ihm auf, daß er zuviel gesagt hatte ... Dinge, die er nicht hatte sagen wollen.

»Vergib mir, Scarlett. Ich sage deinem Mann nach, er sei kein Gentleman, und beweise durch meine Worte, daß ich selbst keiner bin. Niemand hat das Recht, einen Mann bei seiner Frau anzuschwärzen. Dafür gibt es keine Entschuldigung ... nur ...« Er stockte und verzog schmerzlich das Gesicht. Sie wartete atemlos.

»Nein, dafür gibt es überhaupt keine Entschuldigung.«

Während des Heimwegs befand sich Scarletts Gemüt in einem Aufruhr. Es gab überhaupt keine Entschuldigung, außer ... der einen, daß er sie liebte. Der Gedanke, daß sie in Rhetts Armen lag, hatte ihn so in Wut g ebracht, wie sie es nicht für möglich gehalten hätte. 0h, wie gut sie ihn verstand! Wüßte sie nicht, daß er und Melanie nicht anders als geschwisterlich zusammen leben durften, ihr Leben wäre eine Qual. Rhetts Umarmungen also machten sie gemein, verrohten sie. Nun, wenn Ashley das fand ..., sie konnte diese Umarmungen entbehren! Wie süß, wie romantisch wäre es, einander körperlich treu zu sein, obgleich man mit einem andern verheiratet war. Diese Vorstellung nahm sie ganz gefangen, und sie fand Freude an ih r. Außerdem hatte sie eine praktische Seite. Sie bekam dann keine Kinder mehr.

Als sie nach Hause kam und den Wagen fortschickte, schwand etwas von dem Hochgefühl, das Ashleys Worte ihr verliehen hatten, bei der Aussicht, Rhett mit ihrem Wunsch nach getrennten Schlafzimmern und allem, was sich daraus ergab, unter die Augen zu kommen. Das würde sehr schwierig werden. Dazu kam die Unmöglichkeit, Ashley zu sagen, daß sie sich ihm zuliebe Rhett entzöge. Schließlich war ein 0pfer, von dem keiner wußte, zwecklos. Wie doch Sittsamkeit und Zartgefühl alles unnütz erschwerten! Könnte sie nur mit Ashley so offen sein wie mit Rhett! Einerlei, sie wollte es Ashley schon beibringen.

Sie ging die Treppe hinauf und öffnete die Tür zum Kinderzimmer. Da saß Rhett mit Ella auf dem Schoß an Bonnies Wiege, und Wade breitete den Inhalt seiner Taschen vor ihm aus. Es war ein Segen, daß Rhett so kinderlieb war und sich soviel mit den Kleinen abgab.

So viele Stiefväter wollten von den Kindern aus einer früheren Ehe nichts wissen.

»Ich möchte dich sprechen«, sagte sie und ging weiter ins Schlafzimmer. Es mußte gleich sein, solange ihr Entschluß noch frisch war und Ashleys Liebe ihr Kraft gab.

»Rhett«, fing sie ohne weiteres an, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, »ich bin fest entschlossen, keine Kinder mehr zu bekommen.«

Wenn er bei dieser unerwarteten Mitteilung erschrak, so zeigte er es jedenfalls nicht. In aller Ruhe ging er an einen Stuhl, setzte sich darauf und wippte mit ihm nach hinten.

»Mein Herz, ich habe dir ja schon vor Bonnies Geburt gesagt, ich machte mir nichts daraus, ob du ein Kind hättest oder zwanzig.«

Wie boshaft von ihm, den Problemen so glatt aus dem Wege zu gehen, als brauche man sich nur nichts aus Kindern zu machen, um ihr Erscheinen tatsächlich zuve rhindern.

»Ich finde, drei sind genug. Ich habe nicht die Absicht, jedes Jahr eins zu bekommen.«

»Drei ist wohl eine ganz passende Zahl.«

»Du weißt sehr gut ...«, fing sie an, und vor Verlegenheit stieg ihr das Blut in die Wangen. »Du weißt doch, was ich m eine?«

»Allerdings. Bist du dir klar darüber, daß ich mich von dir scheiden lassen kann, wenn du mir meine ehelichen Rechte verweigerst?«

»So niedrige Gedanken kannst auch nur du haben.« Sie ärgerte sich, daß alles anders kam, als sie es sich vorgestellt hatte. »Hättest du nur einen Funken von Ritterlichkeit, dann wärest du ... dann wärest du nett wie ... nun, denke doch zum Beispiel an Ashley Wilkes. Melanie darf keine Kinder mehr bekommen, und er ...«

»Ganz Ashley, der kleine Gentleman.« In Rhetts Augen begann es sonderbar zu schillern. »Bitte, sprich weiter.«

Scarlett schluckte, weil sie ja schon am Ende war und nichts mehr zu sagen hatte. Sie sah ein, wie töricht ihre Hoffnung gewesen war, sich über etwas so Wichtiges freundschaftlich einigen zu wollen, besonders mit einem so selbstsüchtigen Patron wie Rhett.

»Du warst heute auf dem Holzlager, nicht wahr?«

»Was hat das damit zu tun?«

Geschmeidig stand er auf, und als er bei ihr war, faßte er sie unters Kinn und hob ihr Gesicht mit einem Ruck zu sich empor.

»Wie unglaublich kindlich du bist! Mit drei Männern hast du gelebt und weißt immer noch nichts von der männlichen Natur. Du scheinst uns für alte Weiber zu halten, die über die Jahre hinaus sind.«

Er kniff sie zum Spaß ein bißchen ins Kinn und ließ die Hand fallen. Er zog seine eine schwarze Braue hoch und betrachtete sie lange mit kühlem Blick.

»Scarlett, laß dir eins gesagt sein. Wenn du mitsamt deinem Bett noch irgendeine Anziehungskraft für mich hättest, mich hielte keine Bitte und keine verschlossene Tür ab. Was ich dann auch täte, ich täte es ohne jegliche Scham, denn ich habe einen Pakt mit dir geschlossen ... ich habe ihn gehalten, du aber brichst ihn jetzt. Behalte also ruhig dein keusches Bett, mein Kind.«

»Soll das etwa heißen«, fuhr Scarlett fort, »dir läge nichts daran ...«

»Du bist meiner überdrüssig geworden, nicht wahr? Nun, bei Männern kommt der Überdruß noch eher als bei Frauen. Spiel nur die Heilige, Scarlett. Viel mutest du mir damit nicht zu. Mich läßt es kalt.« Er zuckte grinsend die Achseln. »Zum Glück ist die Welt voller Betten ... und die meisten Betten sind voller Frauen.«

»Du willst damit doch nicht sagen, daß du wirklich ...«

»Du liebe Einfalt! Selbstverständlich! Ein Wunder nur, daß ich nicht schon lange meiner Wege gegangen bin. Ich habe die Treue nie als eine Tugend betrachtet.«

»Ich schließe einfach jede Nacht die Tür zu!«

»Wozu die Mühe? Wenn ich dich begehrte, mich hielte kein Schloß ab.«

Er drehte sich um, als sei das Gespräch beendet, und verließ das Zimmer. Scarlett hörte ihn wieder ins Kinderzimmer gehen, wo die Kleinen ihn freundlich begrüßten. Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen. Nun hatte sie ihren Willen. Dies hatte sie gewollt und Ashley auch. Aber es machte sie nicht froh. Sie war schwer in ihrer Eitelkeit verletzt. Es kränkte sie, dass Rhett es so leicht genommen hatte, daß er sie nicht begehrte und sie auf eine Stufe mit anderen Frauen in anderen Betten stellte.

Wenn sie nur wüßte, wie sie in zarter Form Ashley zu verstehen geben könnte, daß sie und Rhett nicht mehr wirklich Mann und Frau waren. Aber sie sah keine Möglichkeit dazu. Alles kam ihr fürchterlich verfahren vor. Fast wünschte sie sich, sie hätte nicht davon angefangen. Nun mußte sie auf die langen, lustigen Unterhaltungen im Bett verzichten, wenn Rhetts Zigarre in der Finsternis glühte. Und wie würde sie die Beruhigung in seinen Armen entbehren, wenn sie voller Grauen aus den kalten Nebeln ihres Traumes erwachte.

Auf einmal war sie sehr unglücklich. Sie legte den Kopf auf die Armlehne und weinte.

An einem regnerischen Nachmittag, bald nach Bonnies erstem Geburtstag, lungerte Wade im Wohnzimmer herum und ging hin und wieder ans Fenster, um seine Nase an der triefenden Scheibe plattzudrücken. Er war ein schmächtiger, saft- und kraftloser Junge, klein für seine acht Jahre, still, fast scheu, und er sprach nie, wenn er nicht angeredet wurde. Er langweilte sich sehr und wußte sichtlich nicht, was er anfangen sollte. Ella spielte in der Ecke mit ihrer Puppe, Scarlett saß an ihrem Schreibtisch und murmelte vor sich hin, während sie eine lange Zahlenreihe addierte, und Rhett lag auf dem Fußboden und ließ seine Uhr an der Kette herabbaumeln, gerade so weit, daß Bonnie sie nicht erreichen konnte.

Nachdem Wade sich etliche Bücher geholt und mit einem tiefen Seufzer polternd hatte zu Boden fallen lassen, drehte Scarlett sich ärgerlich um.

»Himmel noch einmal, Wade! Lauf hinaus und spiel!«

»Das kann ich nicht, es regnet.«

»So? Dann fang irgend etwas an. Du machst mich nervös, wenn du so herumhängst. Sag Pork, er soll anspannen und dich zu Beau zum Spielen hinüberbringen. «

»Beau ist nicht zu Hause«, seufzte Wade, »er ist bei Raoul Picard zum Geburtstag eingeladen.«

Raoul Picard war der kleine Sohn Maybelle und Rene Picards, ein widerwärtiger kleiner Balg, fand Scarlett, mehr Affe als Kind.

»Dann besuch jemand anders ... wen du willst. Geh und laß Pork anspannen.«

»Kein Junge ist zu Hause«, antwortete Wade. »Alle sind bei Raoul zum Geburtstag.«

Das unausgesprochene Wort »Alle, bis auf mich« lag in der Luft. Aber Scarlett war mit ihren Gedanken ganz bei den Büchern und merkte es nicht. Rhett erhob sich zu sitzender Stellung und sagte: »Warum bist du nicht auch auf Raouls Geburtstag, mein Sohn?«

Wade schurrte mit den Füßen und machte ein unglückliches Gesi cht. »Ich bin nicht eingeladen.«

Rhett überließ seine Uhr Bonnies zerstörenden Händen und sprang auf. »Laß die verdammten Zahlen, Scarlett. Warum ist Wade nicht zu Raouls Geburtstag eingeladen?«

»Um Himmels willen, Rhett, stör mich jetzt nicht. Ashley hat da ein furchtbares Durcheinander in den Abrechnungen angerichtet. Raouls Geburtstag? Es ist ja nichts Ungewöhnliches, daß Wade nicht eingeladen wird; und wäre er eingeladen, so ließe ich ihn nicht hingehen. Raoul ist Mrs. Merriwethers Enkel, und Mrs. Merriwether empfängt eher einen freigelassenen Sklaven in ihrem allerheiligsten Salon als einen von uns.«

Rhett betrachtete Wades Gesicht nachdenklich und sah das Kind zusammenzucken. »Komm her, mein Sohn«, sagte er und zog den Jungen zu sich heran. »Möchtest du gern zu Raouls Geburtstag?«

»Nein«, sagte Wade tapfer und schaute zu Boden.

»Hm. Sag einmal, Wade, gehst du zu dem kleinen Joe Whiting oder Frank Bonnell, wenn die Geburtstag haben, oder sonst zu irgendeinem von deinen Spielkameraden?«

»Nein, 0nkel Rhett, ich werde nie mehr eingeladen.«

»Wade, du lügst!« Scarlett drehte sich heftig um. »Vorige Woche warst du dreimal auf Kindergesellschaften, bei Barts, bei Geleits und bei Hundons.«

»Eine erlesenere Auswahl von Maultieren in Pferdegeschirren hättest du kaum zusammenstellen können.« Rhetts Stimme verfiel wieder in ihren weichen Singsang. »Hast du dich da gut amüsiert? Heraus mit der Sprache!«

»Nein, 0nkel Rhett.«

»Warumdenn nicht?«

»Ich ... ich weiß nicht. Mammysagt, das ist weißes Pack.«

»Jetzt zieh ich aber Mammy das Fell über die 0hren!« Scarlett sprang auf. »Und du, Wade, wenn du so von Mutters Freunden sprichst ...«

»Der Junge sagt die Wahrheit und Mammy auch«, fiel Rhett ein, »aber du erkennst natürlich die Wahrheit nie, und wenn du mit ihr auf der Straße zusammenprallst. Beruhige dich, mein Sohn, du brauchst nicht mehr in eine Gesellschaft zu gehen, die du nicht magst.« Er zog einen Geldschein aus der Tasche. »Sag Pork, er soll anspannen und mit dir in die Stadt fahren. Kauf dir etwas zum Naschen, eine ganze Menge, damit du tüchtig Bauchweh bekommst.«

Strahlend steckte Wade das Geld in die Tasche und blickte fragend zu seiner Mutter hinüber. Aber sie beobachtete Rhett mit gefurchter Stirn. Er hatte Bonnie vom Fußboden genommen und wiegte sie auf dem Schoß, ihr Gesichtchen gegen das seine gedrückt. In seinen Zügen konnte sie nicht lesen, in seinen Augen aber lag beinahe etwas wie Angst - Angst und Schuldbewußtsein.

Bei der Freigebigkeit seines Stiefvaters faßte Wade sich ein Herz und kam scheu auf ihn zu. »0nkel Rhett, darf ich dich etwas fragen?«

»Natürlich.« Rhett blickte sorgenvoll ins Weite und drückte Bonnies Kopf fester an sich. »Was willst denn wissen, Wade?«

»0nkel Rhett, bist du ... warst du mit im Kriege?«

Sofort waren Rhetts Augen wieder zur Stelle und blickten ihn scharf an, aber er fragte nur ganz obenhin.

»Warumfragst du, mein Sohn?«

»Joe Whiting hat gesagt, du hättest nie mitgekämpft, und Frankie Bonnell auch.«

»Aha«, sagte Rhett, »und was hast du darauf geantwortet?«

Wade machte ein beklommenes Gesicht.

»Ich sagte, ich wüßte es nicht.« Und dann plötzlich: »Aber das war mir einerlei. Verhauen hat' ich sie doch. Bist du denn im Kriege gewesen, 0nkel Rhett?«

»Ja«, sagte Rhett mit plötzlicher Heftigkeit. »Ich war im Krieg, und acht Monate lang bin ich an der Front gewesen. Die ganze Zeit von Lovejoy bis Franklin in Tennessee. Ich war auch dabei, als Johnston sich ergab.« Wade machte ein glückliches Gesicht, aber Scarlett lachte.

»Ich dachte, du schämtest dich deiner Kriegsdienstzeit«, sagte sie. »Du hast mir doch gesagt, ich sollte nichts davon erzählen.«

»Still«, erwiderte er kurz. »Bist du nun zufrieden, Wade?«

»Ja, 0nkel Rhett. Ich wußte ja, daß du im Kriege gewesen bist. Du warst nicht bange, wie die Jungens sagen. Aber warum bist du nicht mit den Vätern der anderen Jungens zusammen gewesen?«

»Weil die Väter der anderen kleinen Jungen so dumm waren, daß sie in die Infanterie gesteckt werden mußten. Ich kam aus der Kriegsschule und mußte deshalb zur Artillerie, zur aktiven Artillerie, nicht in die Landwehr. Man muß schon allerhand können, wenn man bei der Artillerie ist.«

»Das kann ich mir denken«, sagte Wade mit strahlendem Gesicht. »Bist du verwundet worden, 0nkel Rhett?«

Rhett zögerte.

»Erzähl ihm doch von deiner Ruhr«, höhnte Scarlett.

Rhett setzte die Kleine behutsam auf den Fußboden und zog Hemd und Unterhemd aus dem Hosenbund. »Komm her, Wade, ich will dir zeigen, wo ich verwundet worden bin.«

Aufs höchste gespannt kam Wade näher und folgte Rhetts Finger mit den Augen. Eine lange, hervortretende Narbe lief ihm quer über die braune Brust bis hinunter auf den muskulösen Unterleib. Es war ein Andenken an eine Messerstecherei in den kalifornischen Goldfeldern, aber das wußte Wade nicht. Er atmete schwer vor lauter Glück.

»Du bist wohl auch so tapfer gewesen wie mein Vater, 0nkel Rhett?«

»Beinahe, aber ganz nicht«, erwiderte Rhett und stopfte sich das Hemd in die Hose. »Nun aber lauf und kauf dir etwas Schönes für deinen Dollar und prügle mir jeden Jungen windelweich, der behauptet, ich wäre nicht an der Front gewesen.«

Wade sprang vergnügt hinaus und rief Pork, und Rhett nahm die Kleine wieder an sich.

»Wozu nun all die Lügen, mein tapferer Krieger?« fragte Scarlett.

»Ein Junge muß stolz auf seinen Vater sein ... und auf seinen Stiefvater auch. Er soll sich nicht vor den anderen Schlingern schämen. Kinder sind doch grausam! ... Ich habe nie darüber nachgedacht, wieviel das bedeutet«, fügte er nachdenklich hinzu. »Er wird sicher schon sehr darunter gelitten haben. Für Bonnie muß das anders werde n.«

»Was muß anders werden?«

»Meinst du, meine Bonnie solle sich ihres Vaters schämen? Nicht auf Gesellschaften eingeladen werden, wenn sie neun oder zehn Jahre ist? Meinst du, ich wollte sie solchen Demütigungen aussetzen wie Wade für etwas, das nicht ihre, sondern deine und meine Schuld ist?«

»Ach, Kindergesellschaften!«

»Aus Kindergesellschaften wird der erste Ball. Meinst du, ich lasse meine Tochter abseits von allem aufwachsen, was in Atlanta zu den guten Familien gehört? Ich habe nicht die Absicht, sie nach Norden zu schicken, damit sie dort zur Schule und auf Gesellschaften geht ... nur weil sie hier und in Charleston, Savannah oder New 0rleans nicht empfangen wird. Sie soll nicht gezwungen sein, einen Yankee oder einen Fremden zu heiraten, weil keine gute Familie aus dem Süden sie haben will, weil ihre Mutter ein törichtes Frauenzimmer und ihr Vater ein Schuft war.«

Wade war wieder an die Tür gekommen und hatte die Worte voller Neugierde und Betroffenheit mit angehört.

»Bonnie kann doch Beau heiraten, 0nkel Rhett!«

Der Zorn wich aus Rhetts Gesicht, als er sich nach dem Kleinen umdrehte. Mit offenbarem Ernst, wie immer, wenn er mit Kindern zu tun hatte, ging er darauf ein.

»Wahrhaftig, du hast recht, Wade. Bonnie kann Beau Wilkes heiraten. Und wen nimmst du?«

»0h, ich heirate niemand«, sagte Wade ernsthaft und schwelgte in dem Genuß einer Unterhaltung von Mann zu Mann. Außer Tante Melly war 0nkel Rhett der einzige, der nie an ihm herumerzog, sondern ihm immer Mut machte. »Ich gehe nach Harvard und werde ein Rechtsanwalt wie mein Vater, und dann werde ich ein tapferer Soldat, genau wie er.«

»Wenn Melly doch nur ihren Mund halten wollte«, ereiferte sich Scarlett. »Wade, du gehst mir nicht nach Harvard. Das ist eine Yankeeschule. Du gehst in die Georgia-Universität, und wenn du damit fertig bist, kannst du das Geschäft übernehmen, und ob Vater ein tapferer Soldat war ...«

»Still!« sagte Rhett scharf. Ihm war der strahlende Glanz in Wades Augen nicht entgangen, als der Kleine von seinem Vater sprach, den er nie gekannt hatte.

»Werde nur ein tapferer Mann wie dein Vater, Wade, der ein Held war, und laß dir von niemandem etwas anderes aufbinden. Er hat doch deine Mutter geheiratet? Damit hat er sich ein für allemal als Held erwiesen. Ich sorge schon dafür, daß du nach Harvard kommst und Rechtsanwalt wirst. Nun geh und sage Pork, er solle dich zur Stadt fahren.«

»Ich wäre dir dankbar, wenn du die Sorge für die Zukunft meiner Kinder mir überließest«, brauste Scarlett auf, als Wade sich gehorsam getrollt hatt e.

»Du bist nur eine so verflucht schlechte Erzieherin. Ella und Wade hast du glücklich alle Möglichkeiten versperrt, aber bei Bonnie erlaube ich das nicht. Bonnie wird eine kleine Prinzessin, und alle Leute auf Gottes

Erdboden sollen sich um sie reißen. Es soll keinen 0rt geben, wo sie nicht hingehen kann. Gott im Himmel, meinst du, ich lasse sie unter dem Gesindel aufwachsen, das dir das Haus füllt?«

»Für dich sind diese Leute doch gut genug ...«

»Und noch viel zu gut für dich, mein Herz. Aber nicht für Bonnie. Meinst du, ich lasse sie einen aus dieser Gaunerbande heiraten, mit der du deine Tage verbringst? Meine Bonnie mit ihrem Butlerblut und ihrem Robillardschen Einschlag?«

»Die 0'Haras ...«

»Die 0'Haras mögen einst Könige von Irland gewesen sein, aber dein Vater war nur ein gerissener kleiner Ire, und du bist auch nichts Besseres. Und auch mit mir ist nicht alles, wie es sein sollte. Ich bin durchs Leben gejagt, als sei der Satan hinter mir her. Was ich tat, danach fragte ich nicht, denn es gab ja nichts, woran mein Herz hing. Aber an Bonnie hängt mein Herz. Gott, was für ein Tropf bin ich gewesen! Bonnie wird ja in Charleston nicht empfangen, und wenn meine Mutter, Tante Eulalie und Tante Pauline sich dafür auf den Kopf stellen, und hier ebensowenig, wenn wir nicht schleunigst etwas dafür tun ...«

»Ach, Rhett, das nimmst du so schwer? Du bist komisch. Mit unserem Geld ...«

»Zum Teufel mit unserem Geld! Was ich für Bonnie haben will, ist für all unser Geld nicht zu haben. Mir wäre lieber, Picards lüden Bonnie zu trockenem Brot in ihr jämmerliches Haus ein oder Elsings in ihren baufälligen Stall, als daß sie auf einem republikanischen Eröffnungsball die Schönheitskönigin wäre. Scarlett, das hast du sehr dumm angefangen. Schon vor Jahren hättest du deinen Kindern einen Platz in der Gesellschaft sichern sollen. Das hast du versäumt. Du hast dir nicht einmal die Mühe gegeben, deine eigene Stellung zu bewahren. Aber du wirst dich kaum noch ändern. Du bist zu geldgierig und herrschsüchtig.«

»Mir kommt das Ganze wie ein Sturm im Wasserglas vor«, sagte Scarlett kühl und blätterte in ihren Papieren zum Zeichen, daß das Gespräch für sie zu Ende sei.

»Uns kann nur Mrs. Wilkes helfen; du aber tust, was du kannst, sie zu kränken und uns zu entfremden. Ach, verschone mich mit deinen Bemerkungen über ihre Armut und ihre spießigen Kleider. Sie ist der Mittelpunkt von allem, was in Atlanta gediegen und von Wert ist Gottlob, daß wir sie haben. Sie muß mir helfen.« »Was gedenkst du denn zu tun?«

»Tun? Ich gedenke, jedem alten Drachen der alten Garde hier in Atlanta schönzutun, insbesondere der Merriwether, der Elsing, der Whiting und der

Meade. Und wenn ich vor jeder feisten alten Katze, die mich nicht ausstehen kann, auf dem Bauch kriechen muß, so tue ich es eben. Ihrer Kühle werde ich mit Sanftmut begegnen und meine Untaten bereuen. Zu ihrer verdammten Wohltätigkeit werde ich beitragen, und in ihre langweiligen Kirchen werde ich gehen. Ich werde nicht mehr verheimlichen, daß ich auch an der Front war. Ich werde mich damit großtun, und wenn es zum Schlimmsten kommt, trete ich in ihren verdammten Klan ein ... wenn ich auch hoffe, daß mir der gnädige Gott eine so schwere Buße ersparen wird. Ich werde mich auch nicht mehr genieren, die Esel, die ich vorm Strick gerettet habe, daran zu erinnern, was sie mir schuldig sind. Du aber, Verehrteste, wirst es gütig unterlassen, hinter meinem Rücken wieder zu zerstören, was ich aufbaue, und den Leuten, denen ich den Hof mache, die Hypotheken zu kündigen oder ihnen mulmiges Holz zu verkaufen oder ihnen irgendeinen Schimpf anzutun. Und Gouverneur Bullock kommt mir nicht wieder ins Haus. Hörst du? Und von dieser Bande eleganter Gauner, mit denen du verkehrst, auch niemand mehr. Solltest du dich über meine Bitte hinwegsetzen und sie dennoch einladen, so wirst du dich in die peinliche Lage bringen, deine Gäste ohne den Hausherrn empfangen zu müssen. Wenn sie dieses Haus betreten, halte ich mich solange in Belle Watlings Bar auf und sage jedem, der es hören will, daß ich keinen Wert darauf lege, mit diesen Leuten unter einem Dache zu sein.«

Scarlett war tief betroffen und lachte kurz auf.

»Der Flußschiffspieler und Kriegsgewinnler will also ein ehrsamer Bürger werden? Nun, als erster Schritt zur Besserung wäre da wohl der Verkauf von Belle Watlings Haus anzuraten.«

Das war ein Schuß ins Ungewisse, denn ganz genau wußte sie nicht, ob ihm das Haus eigentlich gehörte. Er lachte, als lese er ihre Gedanken. »Danke schön für den guten Rat!«

Einen ungünstigeren Zeitpunkt für seine Rückkehr zu einem ehrbaren Lebenswandel hätte Rhett sich nicht aussuchen können. Weder vorher noch nachher hatte der Titel »Republikaner« und »Gesinnungslump« einen solchen Mißklang, denn gerade damals stand die Korruption des Schieberregiments auf ihrem Höhepunkt, und seit der Kapitulation war Rhetts Name unauflöslich mit Yankees, Republikanern und Gesinnungslumpen verknüpft.

Im Jahre 1866 hatten die Bewohner von Atlanta in ohnmächtiger Wut gemeint, schlimmer als unter der damaligen harten Militärherrschaft könne es nicht werden, aber erst jetzt unter Bullock lernten sie das Ärgste kennen. Dank dem Stimmrecht der Sklaven saßen die Republikaner und ihre Anhänger fest im Sattel und drangsalierten die ohnmächtige Minderheit auf das rücksichtsloseste.

Unter den Sklavenn war verbreitet worden, in der Bibel seien nur zwei politische Parteien genannt, die »Puplikaner« und die Sünder. Kein Sklaven wollte nun einer Partei angehören, die ausschließlich aus Sündern bestehe, daher schlossen sie sich ohne Zögern den Republikanern an. Die neuen Machthaber ließen sie immer von neuem abstimmen und weiße Proletarier und Gesinnungslumpen in hohe Posten hineinwählen, sogar auch einige Sklaven, die dann in der Gesetzgebenden Versammlung den größten Teil der Zeit Erdnüsse knabberten und die Füße aus den ungewohnten neuen Schuhen herauszogen und wieder hineinsteckten. Nur wenige von ihnen konnten lesen und schreiben. Sie kamen frisch vom Baumwollfeld und der Zuckerrohrplantage, hatten aber die Macht, über Steuern und Anleihen abzustimmen und ungeheure Spesen für sich selbst und ihre Freunde zu beschließen. Der Staat wankte unter der Last der Steuern, die zähneknirschend gezahlt wurden. Die Steuerzahler wußten genau, daß ein großer Teil der zu öffentlichen Zwecken bewilligten Gelder seinen Weg in private Taschen fand.

Das Staatskapitol war umlagert von einem Schwarm von Gründern und Spekulanten, von Leuten, die sich um Staatsaufträge bewarben oder auf andere Weise inmitten der 0rgie des Geldausgebens ihr Schäfchen ins trockene bringen wollten. Viele wurden auf diese schamloseste Art reich. 0hne alle Schwierigkeiten waren staatliche Zuschüsse zum Bau von Eisenbahnen zu bekommen, die nie gebaut wurden, zum Ankauf von Wagen und Lokomotiven, die nie angeschafft wurden, zur Errichtung öffentlicher Gebäude, die nur in den Köpfen derer, die sie projektierten, vorhanden waren.

In Millionenbeträgen wurden Staatsanleihen aufgelegt, die meisten in offenkundig betrügerischer Absicht und ohne gesetzliche Handhabe. Der Mann, der den Staatsschatz zu verwalten hatte, Republikaner, aber ehrlich, legte Verwahrung gegen die ungesetzlichen Emissionen ein und verweigerte seine Unterschrift, aber weder er noch andere, die die Mißstände abzustellen suchten, konnten gegen den Strom schwimmen.

Die Staatseisenbahn, die früher ein Aktivposten im Budget gewesen war, kostete den Staat jetzt Millionen. Sie war überhaupt kein Eisenbahnbetrieb mehr, sondern ein bodenloser Trog, in dem die Schweine soffen und sich wälzten. Viele Beamte waren aus politischen Gründen ernannt worde n, ohne Rücksicht auf Kenntnisse. Dreimal soviel Leute, wie erforderlich waren, wurden angestellt. Die Republikaner bekamen Ausweise für Freifahrten, ganze Wagenladungen von Sklavenn wurden auf vergnüglichen Reisen durch den Staat von einem Wahllokal zum anderen zu immer neuen Abstimmungen in derselben Wahl befördert.

Diese Mißwirtschaft verbitterte die Steuerzahler ganz besonders, weil aus dem Ertrag der Bahn staatliche Freischulen unterhalten werden sollten. Es wurde nichts verdient, sondern es wurden nur Schulden gemacht, und mit den Freischulen war es daher nichts. Nur wenige hatten die Mittel, ihre Kinder in die privaten Schulen zu schicken. Eine ganze Generation wuchs in Unwissenheit heran und säte Unbildung auf Jahre hinaus.

Aber viel tiefer als die Empörung über diese Mißwirtschaft ging im Volke der Groll darüber, daß der Gouverneur den Staat in Washington verleumdete. Sobald Georgia sich gegen die Korruption zur Wehr setzte, fuhr der Gouverneur eilends nach dem Norden und berichtete vor dem Kongreß von Schandtaten der weißen Bevölkerung gegen die Sklaven, von aufständischen Verschwörungen und der Notwendigkeit eines drakonischen Militärregiments. Dabei verlangte keine Seele in Georgia nach Zwist mit den Schwarzen. Zwischenfälle wurden nach Kräften vermieden, niemand wollte einen zweiten Krieg, und niemand sehnte sich nach der Herrschaft der Bajonette. Georgia wollte nur Ruhe, um sich zu erholen. Aber solange die »Greuelfabrik« des Gouverneurs im Gange war, sah der Norden in Georgia immer nur ein rebellisches Land, das hart angefaßt werden mußte - und das geschah denn auch.

Für die Bande, die Georgia an der Kehle hatte, war es ein Hauptspaß. Nach Leibeskräften und Herzenslust wurde eingeheimst, was einzuheimsen war, mit einer zynischen Gelassenheit gegenüber offenen Diebstählen an höchsten Stellen, bei der einem wohl das Grausen ankommen konnte. Da half nichts, sich dagegen zu wehren. Das Regiment würde durch das Militär der Vereinigten Staaten gestützt und gehalten.

Atlanta verfluchte Bullock und seine ganze Anhängerschaft, und zu dieser gehörte Rhett. Es hieß, er habe bei all ihren Machenschaften die Hand im Spiel gehabt. Und jetzt auf einmal begann er, energisch gegen denselben Strom zu schwimmen, von dem er sich bisher hatte treiben lassen.

Schlau und bedächtig leitete er seinen Feldzug ein, um nicht als Leopard, dem über Nacht die Flecke aus dem Fell verschwunden sind, in Atlanta dazustehen. Er mied seine fragwürdigen Spießgesellen und ließ sich nicht mehr in der Gesellschaft von Yankees und Republikanern blicken. Er besuchte demokratische Zusammenkünfte und gab in aller Öffentlichkeit seinen Stimmzettel für die Demokraten ab. Er spielte nicht mehr so hoch und trank nicht mehr soviel. Wenn er überhaupt zu Belle Watling ging, tat er es verstohlen spätabends nach Art ehrbarer Bürger und band nicht meh nachmittags sein Pferd vor der Tür an, damit alle sähen, daß er sich drinnen aufhielt.

Die Gemeinde der anglikanischen Kirche fiel vor Schreck fast aus ihrem Gestühl, als er mit Wade an der Hand auf Zehenspitzen etwas zu spät zum Gottesdienst kam. Besonders über Wades Erscheinen war die Gemeinde erstaunt, denn der kleine Junge galt als katholisch. Jedenfalls war Scarlett katholisch oder wurde wenigstens dafür gehalten. Aber sie hatte seit Jahren keinen Fuß mehr in die Kirche gesetzt. Die Religion war ihr entschwunden wie so viele andere von Ellens Lehren. Jedermann dachte, sie vernachlässige die religiöse Erziehung des Jungen und rechnete es Rhett hoch an, daß er das Versäumte nachzuholen suchte, auch wenn er in die anglikanische Kirche statt in die katholische ging.

Rhett konnte ganz ernsthaft und wirklich reizend sein, wenn er seine Zunge im Zaum zu halten geruhte. Das hatte er seit Jahren nicht getan, aber jetzt gab er sich ernsthaft und warmherzig, wie auch seine Westen etwas dezentere Farbtöne zeigten. Mit den Männern, die ihm ihr Leben verdankten, auf freundschaftlichen Fuß zu kommen, war nicht schwer. Sie hätten ihm längst ihre Achtung bewiesen, hätte er nicht durchblicken lassen, daß ihm nicht viel daran gelegen war. Jetzt fanden Hugh Elsing, Rene, die beiden Simmons, Andy Bonnell und die anderen ihn angenehm: überaus bescheiden, was seine eigenen Verdienste betraf, und geradezu verlegen, sobald sie davon sprachen, was sie ihm zu verdanken hätten.

»Das war nicht der Rede wert«, sagte er wohl. »An meiner Stelle hätten Sie alle dasselbe getan.«

Er zeichnete eine hübsche Summe zur Restaurierung der anglikanischen Kirche und einen großen, aber nicht protzigen Beitrag für den Verein zur Verschönerung der Soldatengräber. Aus Anlaß dieser Stiftung suchte er Mrs. Elsing auf und bat sie voller Verlegenheit, nicht darüber zu sprechen, was, wie er sehr gut wußte, das beste Mittel war, die Sache unter die Leute zu bringen. Und Mrs. Elsing ging es sehr gegen den Strich, sein Geld, das »Spekulantengeld«, anzunehmen, aber der Verein benötigte es dringend.

»Ich wundere mich, daß gerade Sie einen Beitrag zeichnen«, sagte sie eisig.

Als Rhett ihr dann mit angemessen ernster Miene gestand, die Erinnerung an frühere Waffengefährten, die tapferer als er gewesen seien, aber nicht so viel Glück gehabt hätten und nun in unbekannten Gräbern ruhten, habe ihn zu seiner Stiftung veranlaßt, blieb Mrs. Elsing ihr aristokratischer Mund offenstehen. Dolly Merriwether hatte ihr zwar erzählt, daß Scarlett behauptet habe, Kapitän Butler sei doch an der Front gewesen, aber natürlich hatte sie es nicht geglaubt. Kein Mensch hatte es geglaubt.

»Sie waren an der Front? Welches war denn ihre Kompanie ... Ihr Regiment?«

Rhett machte die Angaben.

»Ach, bei der Artillerie! Alle meine Bekannten waren bei der Kavallerie und der Infanterie, daher also kommt es ...« Sie brach etwas verwirrt ab und war darauf gefaßt, in seinen Augen die Bosheit aufglimmen zu sehen. Aber er blickte nur zu Boden und spielte mit seiner Uhrkette.

»Ich wäre gern zur Infanterie gegangen«, erwiderte er und überhörte ihre Andeutung völlig. »Aber ich war auf der Militärschule gewesen - mein Examen habe ich freilich nicht gemacht, infolge eines Dummenjungenstreichs -, und deshalb steckten sie mich in die Artillerie, die aktive Artillerie, nicht in die Landwehr. In jenem Feldzug benötigten sie Leute mit technischen Kenntnissen. Die Verluste waren schwer gewesen, und viele Artilleristen waren gefallen. Ich war recht einsam bei der Artillerie und kannte keine Menschenseele. Ich glaube, ich habe während meiner ganzen Dienstzeit überhaupt niemand aus Atlanta gesehen.«

»Ach so!« Mrs. Elsing wußte nicht weiter. War er wirklich an der Front gewesen, so hatte sie ihm Unrecht getan, denn sie hatte viele scharfe Bemerkungen über seine Feigheit gemacht, die jetzt ihr Gewissen bedrückten. »Aber warum haben Sie denn niemals jemandem von Ihrem Frontdienst erzählt? Sie tun ja gerade, als schämten Sie sich dessen.«

Rhett machte sein ausdrucksloses Gesicht und blickte ihr gerade in die Augen.

»Mrs. Elsing«, erwiderte er ernst, »glauben Sie mir, auf meinen Dienst in der konföderierten Armee bin ich stolzer als auf alles, was ich sonst getan habe und noch tun kann.«

»Aber warum haben Sie ihn denn immer ver heimlicht?«

»Ich schämte mich davon zu sprechen, in Gedanken an ... frühere Verfehlungen.«

Mrs. Elsing berichtete Mrs. Merriwether in allen Einzelheiten über seinen Beitrag und ihre Unterhaltung.

»Ich gebe dir mein Wort, Dolly, als er sagte, er schäme sich, traten mir die Tränen in die Augen. Ja, ich habe beinahe geweint.«

»Das ist ja der höhere Unsinn!« Mrs. Merriwether konnte es nicht glauben. »Aber warte, das will ich schnell herausbekommen. Wenn er bei der Artillerie war, brauche ich nur an 0berst Carleton zu schreiben, um die Wahrheit zu erfahren. Er ist mit der Tochter einer Schwester meines Großvaters verheiratet.«

Sie schrieb an 0berst Carleton und war ganz bestürzt, als sie eine wahre Lobeshymne über Rhetts militärische Eigenschaften bekam. »Ein geborener Artillerist, ein tapferer Soldat, ein Gentleman, der nie klagt, ein bescheidener Mann, der sogar das 0ffizierspatent ausschlug, als es ihm angeboten wurde.«

»Nun bin ich aber sprachlos«, sagte Mrs. Merriwether und zeigte Mrs. Elsing den Brief. »Vielleicht haben wir den Taugenichts verkannt. Wir hätten doch lieber Scarlett und Melanie glauben sollen, als sie behaupteten, er habe sich gleich nach dem Fall von Atlanta gestellt Aber trotzdem ist und bleibt er ein Gesinnungslump, und ich mag ihn nicht!«

»Und doch«, entgegnete Mrs. Elsing unsicher, »ich weiß nicht, wie es kommt, aber so schlimm finde ich ihn gar nicht. Wer für die Konföderation gekämpft hat, kann nicht durch und durch schlecht sein. Die Schlechtere von den beiden ist jedenfalls Scarlett. Weißt du, Dolly, ich glaube beinahe, er schämt sich seiner Frau und ist nur zu sehr Gentleman, um es sich anmerken zu lassen.«

»Er schämt sich? Pah! Die beiden sind aus demselben Holz geschnitzt. Wie kommst du auf so dumme Gedanken?«

»Das ist gar nicht so dumm«, wehrte sich Mrs. Elsing. »Denk dir, gestern fuhr er die drei Kinder, auch das Baby, bei strömendem Regen in der Pfirsichstraße spazieren und brachte mich im Wagen nach Hause, und als ich sagte: >Kapitän Butler, Sie haben wohl den Verstand verloren, daß Sie bei solcher Nässe die Kinder ausfahren?<, da sagte er kein Wort und machte nur ein verlegenes Gesicht. Aber Mammy rückte mit der Sprache heraus und sagte, das ganze Haus sei voll von weißem Pack und da wäre es im Regen gesünder für die Kinder als zu Hause.«

»Und was sagte er dazu?«

»Was sollte er dazu sagen? Er sah Mammy nur böse an und überging es. Du weißt ja, Scarlett hat gestern nachmittag eine große Whistgesellschaft mit all diesen ordinären Frauenzimmern gegeben. Er wollte wohl nicht, daß sie sein Baby küßten.«

»Gott ja«, sagte Mrs. Merriwether schwankend, aber doch auf ihrem Standpunkt beharrend. In der nächsten Woche sollte allerdings auch sie kapitulieren.

Rhett hatte jetzt einen Schreibtisch in der Bank. Was er an diesem Schreibtisch tat, wußten die erstaunten Bankbeamten nicht zu sagen, aber ihm gehörte ein großes Aktienpaket, so daß sie gegen seine Anwesenheit nicht gut etwas einwenden konnten. Nach einer Weile vergaßen sie auch, daß sie ihn ungern sahen, denn er hielt sich still und höflich und verstand etwas vom Bankgeschäft und von Geldanlagen. Jedenfalls saß er den ganzen Tag an seinem Pult und gab sich allen Anschein von Fleiß, denn er wollte mit seinen ehrbaren Mitbürgern, die arbeiteten, auf gleichem Fuße leben.

Mrs. Merriwether hatte, da sie ihre immer besser gehende Bäckerei erweitern wollte, von der Bank zweitausend Dollar Kredit haben wollen und ihr Haus als Sicherheit angeboten, war aber abschlägig beschieden worden, da das Haus schon mit zwei Hypotheken belastet war. Die wohlbeleibte alte Dame wollte gerade aus der Bank hinausrauschen, als Rhett Butler sie begrüßte, von ihrer Enttäuschung hörte und ärgerlich sagte: »Das muß irgendein fürchterlicher Irrtum sein, Mrs. Merriwether. Gerade Sie sollten sich wegen einer Sicherheit keine Sorge zu machen haben. Ich persönlich hätte Ihnen das Geld auf Ihr bloßes Wort hin geliehen. Eine Dame, die ein Geschäft aufbaut, wie Sie, ist die denkbar sicherste Kapitalanlage. Gerade Menschen wie Ihnen will ja die Bank Kredite gewähren! Bitte, setzen Sie sich einen Augenblick hier auf meinen Stuhl, und ich will mich gleich um die Sache kümmern.«

Als er zurückkam, erklärte er mit dem liebenswürdigsten Lächeln, es läge, ganz wie er sich's gedacht habe, ein Irrtum vor. Die zweitausend Dollar ständen ihr jederzeit zur Verfügung und brauchten nur abgehoben zu werden, und was ihr Haus beträfe - vielleicht wäre sie so liebenswürdig, dies hier zu unterschreiben.

Mrs. Merriwether, empört und beleidigt, daß sie eine Gefälligkeit von diesem Mann annehmen mußte, bedankte sich nicht eben überschwenglich. Er bemerkte es aber nicht und sagte, während er sie an die Tür geleitete: »Mrs. Merriwether, ich habe immer eine große Hochachtung vor Ihrem Wissen gehabt. 0b Sie mir wohl helfen können ...?« Die alte Dame nickte so unmerklich, daß die Straußenfedern auf ihrem Hut sich kaum bewegten.

»Als Maybelle klein war und am Daumen lutschte, was haben Sie dagegen getan?«

»Wie bitte?«

»Meine Bonnie lutscht amDaumen. Ich kann es ihr nicht abgewöhnen.«

»Sie sollten es ihr abgewöhnen«, sagte Mrs. Merriwether energisch, »sonst bekommt sie einen häßlichen Mund.«

»Ich weiß, ich weiß! Und sie hat einen wunderhübschen Mund. Aber was soll ich dabei machen?«

»Das müßte Scarlett doch wissen«, sagte Mrs. Merriwether k urz.

Rhett betrachtete seine Stiefel und seufzte. »Ich habe versucht, ihr Seife unter die Fingernägel zu streichen«, sagte er und überhörte ihre letzte Bemerkung.

»Seife! Ach was! Seife nützt gar nichts. Ich habe auf Maybelles Daumen Chinin getan, und das kann ich Ihnen sagen, Kapitän Butler, an dem Daumen hat sie so bald nicht wieder gelutscht.«

»Chinin! Auf diesen Gedanken wäre ich nie gekommen. Ich kann Ihnen gar nicht dankbar genug sein, Mrs. Merriwether. Ich habe mir schon große Sorgendeswegen gemacht.«

Sein Lächeln war so liebenswürdig und dankbar, daß Mrs. Merriwether einen Augenblick ganz unsicher wurde, und als sie sich von ihm verabschiedete, lächelte auch sie. Es war ihr schrecklich, Mrs. Elsing zu gestehen, daß sie den Mann verkannt habe, aber sie war eine ehrliche Natur und sagte, etwas Gutes müsse doch an einem Manne sein, der sein Kind so liebe. Ein Jammer, daß Scarlett sich gar nicht um ein so hübsches Ding wie Bonnie bekümmere! Daß der Mann versuchte, sein kleines Mädchen ganz allein aufzuziehen, hatte doch etwas Rührendes. - Das wußte Rhett auch ganz genau, und wenn er Scarlett dabei in Verruf brachte, so machte er sich nichts daraus.

Sobald Bonnie laufen konnte, nahm er sie dauernd mit, im Wagen oder vorn auf dem Sattel. Wenn er nachmittags aus der Bank nach Hause kam, ging er in der Pfirsichstraße mit ihr spazieren. Er faßte sie an der Hand, richtete seine langen Schritte nach ihrem winzigen Getrappel und antwortete geduldig auf ihre tausend Fragen. Bei Sonnenuntergang hielten sich die Leute in ihren Vordergärten und auf den Veranden vor den Eingangstüren auf. Und da Bonnie ein so hübsches, zutrauliches Geschöpf war mit ihrem schwarzen Lockengewirr und ihren leuchtenden blauen Augen, so widerstanden wenige der Versuchung, sie anzureden. Aber Rhett drängte sich in solche Gespräche nie ein, sondern stand ein wenig abseits und strahlte förmlich Vaterstolz aus vor Genugtuung über die Beachtung, die seine Tochter überall fand.

Atlanta hatte ein gutes und argwöhnisches Gedächtnis und bedachte sich lange, ehe es seine Meinung änderte. Die Zeiten waren schwer, und der Groll gegen jeden, der etwas mit Bullock und den Seinen zu tun hatte, war bitter. Aber Bonnie hatte den Zauber, den sowohl Scarlett wie Rhett in ihren besten Augenblicken haben konnten, in sich vereint und war nun der winzige Keil, den Rhett in die starre Ablehnung Atlantas hineintrieb.

Bonnie wuchs rasch heran, und jeder Tag zeigte es deutlicher, daß Gerald 0'Hara ihr Großvater gewesen war. Sie hatte kurze stämmige Beine, gr oße, echt irische blaue Augen, dazu ein kleines eckiges Kinn, das auf die Kraft und Entschlossenheit hindeutete, den eigenen Willen durchzusetzen. Auch Geralds Jähzorn hatte sie geerbt, dem sie in tobendem Geschrei Luft machte. Aber sobald ihr Wunsch erfüllt wurde, war auch ihr Zorn schon verraucht, und solange ihr Vater sich in der Nähe aufhielt, wurden ihre Wünsche stets eiligst erfüllt. Er verhätschelte sie trotz aller Bemühungen Mammys und Scarletts, ihn daran zu hindern. Sie machte ihm in allen Dingen Freude. Nur eins gefiel ihm nicht: ihre Angst vor der Dunkelheit

Bis sie zwei Jahre alt war, hatte sie bereitwillig in der Kinderstube geschlafen, die sie mit Wade und Ella teilte. Dann fing sie ohne ersichtlichen Grund an zu schluchzen, sobald Mammy aus dem Zimmer watschelte und die Lampe mitnahm. Bald wachte sie auch in den späten Nachtstunden auf, schrie vor Angst, erschreckte die beiden anderen Kinder und weckte sämtliche Hausbewohner aus dem Schlaf. Einmal mußte Dr. Meade geholt werden, und als er als Ursache dieser Angstausbrüche einfach böse Träume bezeichnete, fertigte Rhett ihn kurz ab. Alles, was aus Bonnie selbst herauszubekommen war, bestand in demeinen Wort »dunkel«.

Scarlett wurde leicht mit dem Kind böse und neigte dazu, es zu schlagen. Sie wollte ihm nicht nachgeben und die Lampe im Kinderzimmer brennen lassen, weil Wade und Ella dann nicht schlafen konnten. Rhett war besorgt, ging aber sanft zu Werke und versuchte, noch mehr aus der Kleinen herauszubekommen. Zu Scarlett sagte er kalt, wenn geprügelt werden müsse, so wolle er persönlich diese Strafe vollziehen, und zwar an ihr.

Es endete damit, daß Bonnie aus dem Kinderzimmer genommen und in das Zimmer gebettet wurde, wo Rhett jetzt allein schlief. Ihr Kinderbett wurde neben sein großes Bett gestellt, und eine abgeblendete Lampe brannte die ganze Nacht auf dem Tisch. Die Geschichte machte die Runde durch die ganze Stadt. Es lag doch zweifellos etwas Unpassendes darin, daß ein kleines Mädchen mit ihrem Vater in einem Zimmer schlief, auch wenn es erst zwei Jahre alt war. Scarlett litt in zweifacher Hinsicht unter dem Gerede. Einmal wurde dadurch außer jeden Zweifel gestellt, daß sie und ihr Mann jetzt in getrennten Zimmern schliefen, was an sich schon empörend war. Ferner fanden alle Leute, wenn ein Kind Angst habe, allein zu schlafen, gehöre es zu seiner Mutter, und Scarlett getraute sich nicht, sich damit zu entschuldigen, daß sie in einem erhellten Zimmer nicht schlafen könne. Übrigens hätte Rhett gar nicht erlaubt, daß die Kleine bei ihr schli efe.

»Du wachst ja doch nicht auf, bevor sie nicht aus Leibeskräften schreit, und dann schlägst du sie womöglich«, sagte er kurz.

Scarlett ärgerte sich darüber, daß er sich Bonnies nächtliche Ängste so zu Herzen nahm, aber sie meinte, gelegentlich ließe sich die Sache schon wieder in 0rdnung bringen und dann könnte das Kind ja wieder bei den anderen schlafen. Alle Kinder hatten Angst vor Dunkelheit, und dagegen war nur mit Strenge etwas auszurichten. Rhett wollte sie ja nur ärgern und als schlechte Mutter hinstellen, als Vergeltung dafür, daß sie ihn aus ihrem Schlafzimmer verbannt hatte.

Seit jenem Abend, da sie ihm gesagt hatte, sie wolle keine Kinder mehr haben, hatte er ihr Zimmer nicht wieder betreten noch auch nur auf die Türklinke gedrückt. Beim Abendessen hatte er häufiger am Tisch gefehlt als darangesessen, bis er wegen der Angstausbrüche Bonnies wieder häuslicher wurde. Manchmal war er die ganze Nacht fortgeblieben, und Scarlett, die hinter ihrer abgeschlossenen Tür wach lag und die Uhr die frühen Morgenstunden schlagen hörte, überlegte sich, wo er wohl sein mochte. Er hatte damals gesagt: »Es gibt andere Betten, mein Kind!« 0bwohl dieser Gedanke ihr eine Qual war, konnte sie doch nichts daran ändern. Was sie auch sagen mochte, alles führte unfehlbar zu einem bösen Auftritt, bei dem es Bemerkungen über ihre verschlossene Tür setzte und über Ashley, der wahrscheinlich damit im Zusammenhang stehe. Ja, seine törichte Behauptung, Bonnie müsse in einem erhellten Zimmer schlafen, und zwar in seinem, war nur eine Niedertracht, umsich an ihr zu rächen.

Welche Bedeutung er Bonnies Ängsten beimaß und wie leidenschaftlich er an dem Kinde hing, ging ihr erst in einer schrecklichen Nacht auf, die die ganze Familie nicht wieder vergessen sollte.

Rhett hatte an diesem Tage einen früheren Kameraden aus der Zeit der Blockadeschiffahrt getroffen, und sie hatten einander viel zu erzählen. Wo sie miteinander getrunken hatten, wußte Scarlett nicht, vermutete aber, daß es bei Belle Watling gewesen war. Nachmittags kam er nicht wie sonst nach Hause, um mit Bonnie spazierenzugehen. Auch zum Abendessen ließ er sich nicht sehen. Bonnie, die den ganzen Nachmittag aus dem Fenster nach ihm ausgeschaut hatte, weil sie ihm ihre Sammlung arg verstümmelter Käfer und Kakerlaken zeigen wollte, war schließlich trotz Jammerns und Sträubens von Lou zu Bett gebracht worden. Entweder hatte Lou vergessen, die Lampe anzuzünden, oder sie war ausgebrannt. Niemand wußte genau, was geschehen war, aber als Rhett endlich etwas angetrunken nach Hause kam, befand sich das ganze Haus in Aufruhr, und schon im Stall hörte er das Kind schreien. Es war im Dunkeln aufgewacht und hatte nach ihm gerufen, und er war nicht dagewesen. Alle die namenlosen Schreckgespenster, die Bonnies kleine Phantasie bevölkerten, mußten über sie hergefallen sein. Die beruhigenden hellen Lichter, die Scarlett und die Dienstboten heraufbrachten, konnten sie nicht beschwichtigen, und Rhett, der mit großen Sätzen die Treppe heraufkam, sah aus wie jemand, der dem leibhaftigen Tod ins Angesicht blickt.

Als er sie endlich auf den Arm genommen und aus ihrem Keuchen und Schluchzen nur das eine Wort »dunkel« herausbekommen hatte, wendete er sich wie ein Rasender gegen Scarlett und die Schwarzen.

»Wer hat das Licht ausgemacht? Wer hat sie imDunkeln allein gelassen? Prissy, dafür ziehe ich dir das Fell über die 0hren!«

»Allmächtiger, Mister Rhett! Ich war es ja gar nicht! Lou war es!« »UmGottes willen, Mister Rhett ...«

»Halt's Maul! Du weißt, was ich befohlen habe. Bei Gott, ich will dir . .. hinaus mir dir! Daß du mir nicht wieder vor die Augen kommst! Scarlett, gib ihr Geld und sorge dafür, daß sie fort ist, ehe ich hinunterkomme. Jetzt schert euch alle zum Teufel!«

Die Sklaven flohen, Lou, das Unglückswurm, heulte laut in ihre Schürze. Nur Scarlett blieb da. Es war ihr schmerzlich, daß ihr Lieblingskind sich zusehends in Rhetts Armen beruhigte, während es in den ihren so kläglich geschrien hatte. Es war ihr schmerzlich zu sehen, wie die kleinen Ärmchen sich um seinen Hals legten, und zu hören, wie sie mit erstickter Stimme erzählte, was sie so geängstigt hatte, während sie als Mutter aus ihr nichts Zusammenhängendeshatte herausbekommen können.

»Also auf deiner Brust hat es gesessen«, sagte Rhett leise. »War es denn sehr groß?«

»0 ja, furchtbar groß. Und die Klauen!«

»Aha, Klauen! Nein so was. Natürlich wache ich die ganze Nacht bei dir und schieße es tot, wenn es wiederkommt.« Rhetts Ton war voller Liebe und Teilnahme und beruhigte Bonnie. Ihr Schluchzen verebbte nach und nach, ihre Stimme wurde freier, als sie das Ungeheuer, das sie heimgesucht hatte, in einer Sprache, die nur er verstand, ausführlich beschrieb. Es ärgerte Scarlett, daß Rhett so darüber sprach, als handele es sich um etwas Wirkliches; aber er gab ihr nur ein Zeichen, daß sie schweigen solle. Als Bonnie endlich eingeschlafen war, legte er sie ins Bett und deckte sie sorglich zu.

»Dieses Sklavenmädchen wird bei lebendigem Leibe geschunden«, sagte er ganz ruhig. »Deine Schuld ist es auch. Du hättest heraufkommen und nachsehen sollen, ob die Lampe brannte.«

»Sei kein Narr, Rhett«, flüsterte sie. »Sie ist nur so geworden, weil du ihr immer nachgegeben hast. Viele Kinder haben Angst im Dunkeln, aber sie kommen darüber hinweg. Wade war auch bange, aber ich habe ihn nicht verwöhnt. Wenn du sie nur ein paar Nächte lang ruhig schreien läßt ...«

»Ruhig schreien läßt!« Einen Augenblick meinte Scarlett, er wolle sie schlagen. »Entweder bist du verrückt oder die unmenschlichste Frauensperson, die mir je vorgekommen ist!«

»Sie soll nicht nervös und feige werden.«

»Feige? Himmeldonnerwetter! Nichts ist an ihr feige, gar nichts. Aber du hast keine Phantasie und kannst nicht ahnen, wie Menschen sich quälen, die eine haben. Und nun gar ein Kind! Wenn etwas mit Klauen und Hörnern käme und sich dir auf die Brust setzte, würdest du es dann fertigbringen, das einfach zur Hölle zu schicken? Den Teufel würdest du! Vielleicht entsinnst du dich gütigst daran, Madame, daß ich dich habe aufwachen sehen und schreien hören wie eine verbrannte Katze, nur weil du im Traum durch den Nebel gelaufen warst. Es ist noch gar nicht so lange her.«

Scarlett wußte darauf nichts zu erwidern. An ihre Träume ließ sie sich ungern erinnern. Auch war es ihr unbehaglich, daran zu denken, daß Rhett sie ungefähr ebenso getröstet hatte wie soeben Bonnie. Deshalb griff sie ihn rasch von einer anderen Seite an.

»Du tust ihr immer nur ihren Willen und ...«

»Und das will ich auch weiter tun. Dann wächst sie schließlich darüber hinaus und vergißt es.«

»Dann«, sagte Scarlett bissig, »wenn du Kindermädchen spielen willst, tätest du vielleicht besser daran, nachts nach Hause zu kommen und zur Abwechslung vielleicht auch einmal nüchtern.«

»Ich werde früh nach Hause kommen, aber, wenn es mir paßt, sternhagelbesoffen!«

Künftig kam er wirklich früh heim, längst vor Bonnies Schlafenszeit. Er saß bei ihr und hielt ihr die Hand, bis der Schlaf ihr die Finger löste. Erst dann schlich er hinunter, ließ aber die Lampe hell brennen und die Tür offenstehen, damit er hören konnte, wenn sie aufwachte und Angst bekam. Nie wieder sollte sie sich im Dunkeln fürchten müssen. Der ganze Haushalt wurde durch die Sorge um die Lampe in Atem gehalten. Scarlett, Mammy, Prissy und Pork gingen immer wieder auf Zehenspitzen hinauf, um nachzusehen, ob sie noch brenne.

Rhett kam sogar nüchtern nach Hause, aber das war nicht etwa Scarletts Werk. Seit Monaten hatte er viel getrunken, und eines Abends roch sein Atem besonders stark nach Whisky. Er hob Bonnie auf, setzte sie sich auf die Schulter und fragte: »Hast du denn nicht ein Küßchen für deinen Pappi?«

Sie rümpfte die kleine Stupsnase und sträubte sich in seinen Armen, um wieder auf den Boden zu gelangen.

»Nein«, sagte sie treuherzig, »pfui!«

»Was?«

»Du stinkst ja. Das tut 0nkel Ashley nicht.«

»Ich verfluchter Kerl«, sagte er reuevoll und setzte sie nieder. »Daß ich in meinem eigenen Hause einen kleinen Mäßigkeitsapostel finden würde, hätte ich mir nicht träumen lassen.«

Künftig aber beschränkte er seinen Alkoholgenuß auf ein Glas Wein nach dem Abendessen, und Bonnie, die immer die letzten Tropfen aus seinem Glase trinken durfte, fand durchaus nicht, daß der Wein schlecht rieche. Die Folge war, daß die Aufgedunsenheit, die schon angefangen hatte, den scharfen Umriß seiner Wangen zu verwischen, allmählich wieder verschwand und die Ringe unter seinen schwarzen Augen nicht mehr so dunkel und hart wirkten. Weil Bonnie gern mit ihm vorn im Sattel ausritt, kam er auch mehr ins Freie. Die Sonne verbrannte ihm sein braunes Gesicht, und er sah dunkler aus als je. Er sah auch wohler aus, war öfter fröhlich und glich wieder dem schneidigen jungen Blockadebrecher, der Atlanta in der ersten Kriegszeit in Atem gehalten hatte.

Auch wer nie etwas für ihn übrig gehabt hatte, mußte lächeln, wenn er mit der kleinen Gestalt vorn im Sattel vorüberritt. Damen, die bisher gemeint hatten, keine Frau könne sich mit ihm sehen lassen, blieben stehen und redeten ihn auf der Straße an, um Bonnie zu bewundern. Selbst die strengsten alten Matronen kamen zu der Überzeugung, ein Mann, mit dem sich über die kleinen Leiden und Freuden der Kindheit so gut reden lasse wie mit ihm, könne nicht ganz schlecht sein.

53

Es war Ashleys Geburtstag, und am Abend gab Melanie ihm zur Überraschung eine Gesellschaft. Jeder wußte davon, nur Ashley nicht. Sogar Wade und der kleine Beau waren eingeweiht und kamen sich mit dem Geheimnis, das sie niemandem erzählen durften, sehr wichtig vor. Alle guten Familien Atlantas waren eingeladen und hatten zugesagt. Unter ihnen waren General Gordon und seine Familie sowie Alexander Stephens, der hoffte, daß seine schwankende Gesundheit es zulasse, und sogar Bob Toombs, der »Sturmvogel der Konföderierten«, wurde erwartet.

Den ganzen Morgen war Scarlett mit Melanie, India und Tante Pitty in dem Häuschen umhergelaufen und hatte die Sklaven angewiesen, frische Gardinen aufzuhängen, das Silber zu putzen, den Fußboden zu bohnern, zu kochen, zu rühren und die Speisen abzuschmecken. Scarlett hatte Melanie noch nie so glücklich und aufgeregt gesehen.

»Siehst du, Liebes, Ashley hat noch nie an seinem Geburtstag eine Gesellschaft gehabt, seit ... erinnerst du dich noch des Gartenfestes in Twelve 0aks, damals, als wir hörten, daß Lincoln die Freiwilligen aufrief? Seitdem hat er zum Geburtstag nie mehr Gäste gehabt. Und er arbeitet so schwer und ist so müde, wenn er abends nach Hause kommt, daß er dieses Mal seinen Geburtstag völlig vergessen hat. Das wird aber eine Überraschung, wenn nach demAbendessen alles herbeiströmt!«

»Wie soll es denn mit den Laternen auf dem Rasen werden, damit Mr . Wilkes sie nicht zu früh sieht, wenn er nach Hause kommt?« fragte Archie mürrisch.

Er hatte den ganzen Morgen scheinbar teilnahmslos, in Wirklichkeit aber voller Neugierde dagesessen und den Vorbereitungen zugesehen. Er war noch nie hinter den Kulissen einer großen Gesellschaft gewesen, es war für ihn ein neues Erlebnis. Er machte zwar offenherzig seine Glossen darüber, wie die Weiber umherliefen, als stünde das Haus in Brand, aber keine zehn Pferde hätten ihn von dem Schauspiel wegbringen können. Die Lat ernen aus buntem Papier, von Mrs. Elsing und Fanny angefertigt und farbig bemalt, hatten es ihm besonders angetan, weil er dergleichen noch nie gesehen hatte. Sie waren in seinem Kellerzimmer versteckt gewesen, und er hatte sie sich eingehend betrachtet.

»Mein Gott, daran habe ich ja gar nicht gedacht«, rief Melly. »Archie, ein Glück, daß Sie davon sprechen. Was soll ich machen? Sie müssen in den Gebüschen versteckt aufgehängt und erst angezündet werden, wenn die Gäste kommen. Scarlett, kannst du mir Pork dafür herüberschicken, während wir zu Abend essen?«

»Mrs. Wilkes, Sie sind zwar verständiger als die meisten Weiber, aber den Kopf verlieren Sie doch auch zu leicht«, sagte Archie. »Der dumme Sklaven wird mit den Dingern nie fertig! Er wird sie in Brand stecken. Ich hänge sie Ihnen auf, wenn Sie bei Tisch sitzen.«

»Ach, Archie, das ist aber nett von Ihnen!« Melanie sah ihn mit dankbaren Kinderaugen an. »Ich weiß gar nicht, was ich ohne Sie anfangen sollte. Meinen Sie, man könnte die Kerzen jetzt schon hinein stecken?«

»Warum denn nicht?« brummte Archie unfreundlich und stelzte auf die Kellertreppe zu.

»Nein, die Freundlichkeit in Person ist er nicht«, kicherte Melanie, als der bärtige Alte die Treppe hinunterstapfte. »Ich hatte ihn schon immer dazu anstellen wollen, die Laternen aufzuhängen ... aber du weißt ja, wie er ist. Was man ihm aufträgt, tut er nie, und nun sind wir ihn eine Weile los. Die Schwarzen sind so bange vor ihm, daß sie überhaupt nichts tun, solange er in Reichweite ist.«

»Melanie, in meinem Hause würde ich die alte Teufelsfratze nicht dulden«, sagte Scarlett unwillig. Sie haßte Archie ebenso, wie er sie haßte; die beiden sprachen kaum ein Wort miteinander. Nur in Melanies Haus ertrug er ihre Anwesenheit, aber selbst hier starrte er sie argwöhnisch und voll kalter Verachtung an. »Er wird dich noch in Ungelegenheiten bringen, das sage ich dir.«

»Ach, er ist ganz harmlos, wenn man ihm um den Bart geht und so tut, als könnte man ohne ihn nicht fertig werden«, meinte Melanie. »Und er hängt so an Ashley und Beau, daß ich mich immer ganz sicher fühle, wenn er in der Nähe ist.«

»Du meinst wohl: an dir, Melly«, sagte India, und ein leises Lächeln erwärmte ihre kalten Züge, als ihre Blicke liebevoll auf ihrer Schwägerin ruhten. »Ich glaube, du bist der erste Mensch, den der alte Grobian liebhat ... seit seiner Frau. Er sehnt sich förmlich danach, daß jemand dich beleidigt, damit er ihn umbringen und dir damit seine Hochachtung beweisen kann.«

»Was du nicht alles redest, India!« Melanie errötete. »Er hält mich für eine schrecklich dumme Gans, das weißt du ganz gut.«

»Mir scheint, es kommt gar nicht darauf an, was der alte dreckige Bergschratt findet«, sagte Scarlett schroff. Der Gedanke daran, wie Archie sie wegen der Sträflinge abgekanzelt hatte, brachte sie immer in Wut. »Ich muß jetzt fort. Ich muß zum Essen und dann in den Laden, das Personal auszuzahlen, und nach dem Holzlager und den Fahrern und Hugh ihren Lohn geben.«

»Du gehst nach dem Holzlager?« fragte Melanie. »Ashley kommt am späten Nachmittag auch dorthin, um Hugh zu sprechen. Könntest du ihn vielleicht bis fünf Uhr dort festhalten? Sonst erwischt er uns womöglich gerade dabei, wie wir einen Kuchen verzieren, oder bei etwas Ähnlichem, und dann ist es mit der Überraschung aus.«

Scarlett lächelte, und ihre gute Laune war wiederhergestellt. »Ich will ihn schon festhalten«, sagte sie.

Bei diesen Worten blickten Indias blasse wimpernlose Augen sie durchbohrend an. »Immer sieht sie mich so sonderbar an, wenn ich von Ashleyspreche«, dachte Scarlett.

»Halt ihn doch womöglich noch länger fest ... solange du kannst«, sagte Melanie. »Nach fünf Uhr fährt dann India hin und holt ihn ab. Scarlett, bitte komm heute abend recht früh, du sollst doch jede Minute meiner Gesellschaft miterleben.«

Als Scarlett nach Hause fuhr, dachte sie verdrossen: »Ich soll jede Minute der Gesellschaft miterleben ... aber warum hat sie mich nicht aufgefordert, mit ihr, India und Tante Pitty die Gäste zu empfangen?«

Für gewöhnlich legte Scarlett keinen Wert darauf, bei Melanies armseligen Gesellschaften zu empfangen. Aber dies war die größte, die sie gab, und außerdem Ashleys Geburtstag, und Scarlett hätte von Herzen gern an Ashleys Seite gestanden und mit ihm die Gäste willkommen geheißen. Aber sie wußte, warum sie dazu nicht aufgefordert wurde, und hätte sie es nicht gewußt, so hätten Rhetts Wort sie darüber aufgeklärt.

»Ein Gesinnungslump soll empfangen, wenn die angesehensten Konföderierten und Demokraten erwartet werden? Deine Begriffe sind ebenso anmutig wie konfus. Du hast es nur Mellys Treue zu verdanken, daß du überhaupt eingeladen wirst.«

Am Nachmittag zog Scarlett sich sorgfältiger als gewöhnlich für ihre Fahrt zum Holzlager an. Sie trug ihr neues mattgrünes Changeant- Taftkleid, das in bestimmtem Licht lila schimmerte, und den neuen blaßgrünen Hut, der ringsum mit dunkelgrünen Straußenfedern besetzt war. Wenn nur Rhett erlauben wollte, daß sie sich Ponies schnitte und auf der Stirn kräuseln ließe, wieviel besser sähe dann der Hut noch aus! Aber er hatte erklärt, er würde ihr den Kopf kahlscheren, wenn sie sich Stirnlöckchen schneiden ließe, und die letzte Zeit hatte er sie so abscheulich behandelt, daß sie es ihm wohl zutraute.

Es war ein besonders warmer Nachmittag, und das Herz tanzte ihr wie immer, wenn sie zu Ashley fuhr. Wenn sie die Fahrer und Hugh zeitig auszahlte, gingen sie vielleicht nach Hause und ließen sie mit Ashley allein in dem kleinen Kontor auf dem Holzlager. Sie hatte dieser Tage auch gar zu wenig Gelegenheit gehabt, Ashley allein zu sehen, und Melanie hatte sie gebeten, ihn dort festzuhalten. Ein merkwürdiger Gedanke!

Frohen Herzens langte sie im Laden an und zahlte ihre Angestellten aus, ohne auch nur nach dem Tagesgeschäft zu fragen. Es war Sonnabend, der größte Geschäftstag der Woche, weil alle Bauern zur Stadt kamen, um Einkäufe zu machen.

Unterwegs hielt sie wohl ein dutzendmal an, um sich vor den Schieberbekannten, die ihr begegneten, sehen zu lassen. Sie war glücklich, sie sah bestrickend aus, und ihr wurde gehuldigt wie einer Königin. Deshalb kam sie später auf dem Holzplatz an, als sie vorgehabt hatte. Hugh und die Fahrer saßen schon auf einem Holzstapel und warteten auf sie.

»Ist Ashley da?«

»Ja, im Kontor«, sagte Hugh, und der sorgenvolle Ausdruck, den sein Gesicht für gewöhnlich trug, wich beim Anblick ihrer glücklichen, lebensprühenden Augen. »Er versucht ... er sieht die Bücher durch, wollte ich sagen.«

»Ach, damit soll er sich heute nicht plagen«, erwiderte sie und fügte dann leiser hinzu: »Melly hat mich hergeschickt, um ihn hier festzuhalten, bis zu Hause alles in 0rdnung ist.«

Hugh lächelte. Er war auch unter den Gästen, er hatte Gesellschaften gern und glaubte, Scarlett an den Augen abzulesen, daß es ihr ebenso ging. Sie zahlte die Fahrer und Hugh aus, ließ sie dann stehen und wendete sich dem Kontor zu. Auf Begleitung legte sie sichtlich keinen Wert. Ashley kam ihr vor der Tür entgegen und stand mit seinem hellen Haar in der Nachmittagssonne, auf den Lippen ein feines, fast spöttisches Lächeln.

»Aber Scarlett, was machst du denn zu dieser Tageszeit hier? Warum bist du nicht bei mir zu Hause und hilfst Melly die Überraschungen vorbereiten?«

»Ashley, was höre ich! Du darfst doch nichts davon wissen! Melly wird schrecklich enttäuscht sein, wenn du nicht überrascht bist.«

»0h, das soll mir niemand anmerken. So überrascht, wie ich heute abend bin, ist noch niemand in Atlanta gewesen«, versetzte Ashley mit lachenden Augen.

»Sag einmal, wer war so gemein, es dir zu verraten?«

»So ziemlich jeder, den Melly eingeladen hat. General Gordon war der erste. Er sagte, seiner Erfahrung nach gäben die Frauen immer gerade dann eine Überraschungsgesellschaft, wenn man sich für den Abend vorgenommen habe, sämtliche Gewehre im Haus zu putzen. Alsdann hat Großpapa Merriwether mich gewarnt. Er erzählte, Mrs. Merriwether habe ihm einmal überraschenderweise Gäste eingeladen und sei selbst am meisten überrascht gewesen, weil Großpapa sich insgeheim sein Rheuma mit einer Flasche Whisky habe kurieren wollen und zu betrunken war, um sich außerhalb des Bettes blicken zu lassen. 0h, alle Männer, die einmal selber so etwas durchgemacht haben, haben mich gewarnt!«

»Diese gemeinen Kerle!«

Scarlett mußte aber doch lachen.

Wenn er so lächelte, war er wieder der alte Ashley, den sie auf Twelve 0aks gekannt hatte. Die Luft war lau, die Sonne schien milde. Ashley sah so froh aus und sprach so ungezwungen, daß das Herz ihr vor Glück hüpfte. Es schwoll ihr in der Brust, bis es sie vor lauter heißen ungeweinte Freudentränen schmerzte. Auf einmal war sie wieder sechzehn Jahre alt und glücklich und atemlos vor Erregung. Sie verspürte den tollen Drang, sich den Hut vom Kopf zu reißen und ihn mit Jubelgeschrei in die Luft zu werfen. Dann überlegte sie sich, wie Ashley darüber wohl erschrecken würde. Und plötzlich mußte sie lachen, und sie lachte laut heraus, bis ihr die Tränen kamen. Er aber stimmte von Herzen in ihr Gelächter ein, denn er meinte, sie lache über die freundschaftliche Verräterei der Herren, die Melanies Geheimnisausgeplaudert hatten.

»Kommherein, Scarlett, ich bin gerade bei den Büchern.«

Sie trat in das kleine Stübchen, das in der Nachmittagshitze glühte, und setzte sich vor den Schreibtisch. Ashley folgte ihr und ließ sich auf der Kante des Tisches nieder, seine langen Beine baumelten lässig herunter.

»Ach, wir wollen uns heute nachmittag nicht mit den Büchern plagen, Ashley, ich habe einfach keine Lust. Wenn ich einen neuen Hut aufhabe, ist mir, als seien mir alle Zahlen aus dem Kopf geflogen.«

»Wenn der Hut so hübsch ist wie dieser, können auch mir alle Zahlen gestohlen bleiben«, versetzte er. »Scarlett, du wirst jedesmal hübscher.«

Er faßte sie lächelnd bei beiden Händen und breitete ihre Arme ganz weit aus, um ihr Kleid sehen zu können. »Du bist zu hübsch! Und du wirst wohl überhaupt nicht älter.«

Auf einmal wurde ihr klar, daß sie, ohne es zu wissen, sich gerade dies gewünscht hatte. Den ganzen frohen Nachmittag hatte sie sich nach der Wärme seiner Hände gesehnt, nach der Zärtlichkeit seiner Augen und nach einem Wort, das sein Gefühl verriet. Heute waren sie zum erstenmal seit jenem kalten Tage im 0bstgarten von Tara wieder ganz allein, zum erstenmal begegneten sich ihre Hände anders als gesellschaftlich.

All die langen Monate hatte sie nach einer wärmeren Berührung gelechzt, aber jetzt ...

Sonderbar, daß die Berührung seiner Hände sie nicht erregte. Sonst war sie bei seiner bloßen Nähe schon erbebt. Jetzt empfand sie nur eine merkwürdige Wärme von Freundschaft und Zufriedenheit. Kein Fieber sprang aus seinen Händen in die ihren über; in ihnen kam ihr Herz zu glückseliger Ruhe. Das war ihr rätselhaft und verwirrend. War er denn nicht immer noch ihr Ashley, ihr strahlender sonniger Geliebter?

Aber sie schlug sich diesen Gedanken aus dem Kopf. Es genügte ihr, daß sie bei ihm war und er sie bei den Händen hielt und lächelte, ganz freundschaftlich, ohne Fieber und ohne Zwang. Wie seltsam, daß dies möglich war, da doch so viel Ungesagtes zwischen ihnen schwebte. Er lächelte, als wären sie nur immer miteinander glücklich gewesen. Zwischen seinen Augen und den ihren stand keine Schranke mehr, lag keine Feme, die sie zurückscheuchte. Sie lachte.

»Ach, Ashley, ich werde alt und gebrechlich.«

»Nanu? Das sieht man dir aber an! Scarlett, auch wenn du sechzig Jahre alt bist, wirst du dich für mich nicht verändert haben. Immer sehe ich dich vor mir wie damals auf dem Gartenfest unter der Eiche, mit einem Dutzend junger Männer um dich herum. Ich kann dir noch genau sagen, wie du angezogen warst, in Weiß, mit zierlichen grünen Blümchen und einem weißen Spitzenschal über den Schultern. Kleine grüne Schuhe hattest du an mit schwarzen Schnüren, und auf dem Kopf trugst du einen riesigen Florentinerhut mit langen grünen Bändern. Das Kleid kenne ich auswendig. Als ich gefangen war und es mir gar so schlecht ging, holte ich meine Erinnerungen hervor und betrachtete sie wie Bilder, die kleinsten Einzelheiten fielen mir wieder ein ...«

Plötzlich brach er ab, und das warme Licht erlosch in seinen Augen. Sanft ließ er ihre Hände los. Erwartungsvoll saß sie da und lauschte auf seine nächsten Wor te.

»Seitdem sind wir beide eine lange Straße gewandert, nicht wahr, Scarlett? Wege, die zu gehen wir nicht gedacht hatten. Du bist rasch auf demkürzesten Wege vorangekommen. Ich langsamund widerstrebend.«

Wieder setzte er sich auf den Tisch und sah sie an, und wieder glitt ein leises Lächeln über sein Gesicht. Aber es war nicht das Lächeln, das sie soeben noch beglückt hatte. Dieses Mal war es ein trauriges Lächeln.

»Ja, du bist schnell hierhergelangt, und mich hast du an deinen Wagenrädern mitgeschleift. Manchmal frage ich mich, was ohne dich wohl aus mir geworden wäre.«

Rasch sprang sie ihm bei, um ihn gegen sich selbst zu verteidigen, um so rascher, als ihr in den Sinn kam, was Rhett darüber gesagt hatte. »Aber ich habe doch nie etwas für dich getan, Ashley, ohne mich wärst du genauso dran wie jetzt. Ernes Tages wärest du ein reicher und großer Mann geworden, genau wie du es jetzt werden wirst.«

»Nein, Scarlett, Anlage zum Großen habe ich nie gehabt. Wenn du nicht gewesen wärest, ich wäre wohl untergegangen und verkommen - wie die arme Cathleen Calvert und so mancher andere, der früher einen großen alten Namen trug.«

»Ach, Ashley, sprich nicht so, es klingt so traurig.«

»Nein, ich bin gar nicht traurig. Jetzt nicht mehr. Ich war es einmal. Jetzt bin ich nur noch ...«

Er hielt inne, und urplötzlich las sie seine Gedanken. Zum erstenmal in ihrem Leben wußte sie, was Ashley dachte, wenn seine Augen groß und abwesend durch sie hindurchschauten. Solange ihr das Herz in wilder Liebe geschlagen hatte, waren seine Gedanken ihr verschlossen geblieben. Aber in der Ruhe der Freundschaft, die nun zwischen ihnen lag, konnte sie ihm folgen und ihn verstehen. Traurig war er jetzt nicht mehr. Früher war er traurig gewesen, jetzt hatte er sich mit Entsagung in das Leben g efunden.

»Schrecklich ist es, wenn du so sprichst«, wehrte sie ungestüm ab. »Das klingt ganz nach Rhett. Immer wieder kommt er mit der alten Leier, daß nur die durchkämen, die sich in die Zeit schicken ... bis ich vor Langeweile heulen könnte.«

Ashley lächelte. »Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, Scarlett, daß Rhett und ich im tiefsten Grunde gleich sind?«

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»0 nein! Du bist so vornehm und ehrenhaft, und er ...«

Verlegen brach sie ab.

»Doch, wir sind gleich. Wir stammen aus den gleichen Kreisen und si nd nach derselben Schablone zu derselben Denkweise erzogen. Unterwegs haben wir uns dann nach verschiedenen Seiten gewendet Wir denken noch gleich, aber wir ziehen verschiedene Folgerungen daraus. Zum Beispiel hat keiner von uns an den Krieg geglaubt, aber ich habe mich gestellt und mitgekämpft, und er hat sich bis kurz vor dem Ende abseits gehalten. Wir wußten beide, daß der Krieg ein großer Irrtum war. Wir wußten beide, daß wir ihn verlieren mußten. Ich war bereit, auf verlorenem Posten zu kämpfen, und er nicht. Manchmal denke ich, er habe recht gehabt, und dann wieder ...«

»Ach, Ashley, willst du denn immer die beiden Seiten einer Sache sehen?« fragte sie, aber nicht mehr so ungeduldig, wie sie es wohl früher getan hätte. »Kein Mensch kommt weiter, wenn er immer beide Seiten betrachtet.«

»Das ist richtig, Scarlett. Aber wohin geht denn der Weg eigentlich? Ich habe es mir oft überlegt. Siehst du, ich habe nie etwas erreichen wollen. Ich wollte nur ich selbst sein.«

Wohin der Weg ging? Eine dumme Frage. Zu Geld und Sicherheit natürlich.

Und doch ... sie wurde unsicher. Sie hatte so viel Geld und Sicherheit, wie man sich in dieser unsicheren Welt nur wünschen konnte, aber wenn sie ehrlich darüber nachdachte, war sie nicht glücklich dabei geworden - wenn auch die Hetze und die Angst vor dem Kommenden aufgehört hatten. »Hätte ich Geld und Sicherheit und dich dazu, dann hätte ich mein Ziel erreicht«, dachte sie und schaute ihn voll innigem Verlangen an. Aber sie sprach die Worte nicht aus, denn sie fürchtete, den Zauber zu brechen, der zwischen ihnen lag.

»Nur du selbst willst du sein?« lachte sie ein wenig betreten. »Ich war niemals ich selbst, und darunter habe ich am schwersten gelitten. Und wohin ich will, nun, da wäre ich inzwischen wohl angelangt. Reich und gesichert wollte ich sein und ...«

»Aber Scarlett, bist du nie auf den Gedanken gekommen, daß es mir ganz einerlei ist, ob ich reich oder arm bin?«

Nein, auf den Gedanken, jemand könne nicht reich sein wollen, war sie allerdings nie verfallen.

»Ja, aber was willst du denn?«

»Ich weiß es nicht mehr. Früher wußte ich es, aber ich habe es beinahe vergessen. Vor allem wollte ich meine Ruhe haben, wollte nicht von Menschen geplagt werden, die mir nicht liegen, und nicht Dinge tun müssen, die ich nicht will. Vielleicht ... wünsche ich mir die alten Zeiten zurück, aber sie kommen nie wieder. Und die Erinnerung daran und an die Welt, die umuns her zugrunde gegangen ist, läßt mir keine Ruhe.«

Scarlett hielt jetzt den Mund eigensinnig geschlossen. Was er mein te, wußte sie gut. Schon der Ton seiner Stimme beschwor das Vergangene herauf, wie nichts anderes es hätte zurückrufen können, und das Herz wurde ihr auf einmal schwer, als auch sie daran zurückdachte. Aber seit dem Tage, da sie elend und verlassen in dem Garten von Twelve 0aks gelegen und gesagt hatte: »Ich will nicht zurückschauen«, hatte sie sich von dem Vergangenen abgewendet.

»Mir ist das Heute lieber«, sagte sie, mied jedoch seinen Blick. »Jetzt geschieht doch immer etwas Neues und Aufregendes. Das Leben glitzert. Die alten Zeiten waren so farblos.« (Ach, die geruhsamen Tage, die warme, stille Dämmerung auf dem Lande! Das weiche, klingende Lachen, das aus den Sklavenhütten hervorscholl! Der warme Goldton, der damals über dem Leben lag, und die tröstliche Gewißheit, daß jeder neue Tag das alte Glück wiederbrachte! Wer könnte euch verleugnen!)

»Mir ist das Heute lieber«, wiederholte sie, aber mit bebender Stimme.

Er glitt vom Tisch herunter, lachte leise und ungläubig. Dann faßte er sie unters Kinn und bog ihr Gesicht zu sich empor.

»Ach, Scarlett, du kannst ja gar nicht lügen. Gewiß, das Leben hat jetzt etwas Glitzerndes, wenn du so willst, aber gerade das ist sein Elend. Die alten Zeiten hatten nichts Glitzerndes, aber sie hatten einen Zauber der Schönheit und einen geruhsamen Glanz.«

Ihre Empfindungen wurden hin und her gerissen. Sie schlug die Augen nieder. Der Klang seiner Stimme, die Berührung seiner Hand stießen leise die Tür wieder auf, die sie für immer geschlossen hatte. Hinter der Tür lag die Schönheit der alten Zeit. Es hungerte sie danach.

Er ließ die Hand von ihrem Kinn sinken und nahm ganz sanft eine ihrer Hände zwischen seine beiden.

»Weißt du noch?« sagte er, und warnend läutete eine Glocke in ihrem Innern: Nicht zurückschauen! nicht zurücks chauen!

Aber sie achtete ihrer nicht und stürzte sich kopfüber in die glückselige Flut. Endlich verstand sie ihn, endlich waren ihre Seelen einander begegnet. Dieser Augenblick war allzu kostbar, sie durfte ihn nicht verlieren, wieviel Herzweh daraus auch entsprang.

»Weißt du noch?« Und unter dem Zauber seiner Stimme verschwanden die kahlen Wände des kleinen Kontors. Die Jahre rollten zurück. Sie ritten wieder auf schmalen Wegen zusammen über Land, durch einen längst vergangenen Frühling. Während er sprach, drückte er ihre Hand fester, seine Stimme hatte das schwermütig Berückende eines halb vergessenen Liedes. - Sie hörte wieder das lustige Geklingel der Geschirre. Sie reiten unter Ligusterbüschen zu Tarletons zum Gartenfest. Wie lacht sie sorglos, wie glitzert die Sonne auf seinem silbriggoldenen Haar, wie stolz sitzt er zu Pferde in seiner lässigen Anmut! In seiner Stimme klingt Musik, die Musik der Geigen und Banjos, nach denen in dem weißen Hause getanzt wird. Von der fernen dunklen Flußniederung her ertönt das Gebell der Hofhunde. Droben steht kühl der herbstliche Mond, aus der mit Stechpalmen bekränzten Bowle duftet der weihnachtliche Eierpunsch, und schwarze und weiße Gesichter lächeln glücklich dazu. Alte Freunde strömen wieder herbei und lachen, als seien sie nicht schon jahrelang tot: Stuart und Brent, langbeinig, rothaarig und den Kopf voller Streiche, Tom und Boyd, wild wie junge Pferde, Joe Fontaine mit den heißen schwarzen Augen und Cade und Raiford Calvert mit ihrer müden Anmut. Auch John Wilkes ist wieder da, und Gerald, von Schnäpsen gerötet - dazu ein Duft und ein Geraschel, das ist Ellen, und über allem das Gefühl der Geborgenheit, die Gewißheit, daß auf das Glück des Heute unfehlbar das des Morgen folgt.

Ashley schwieg. Sie sahen einander still in die Augen. Zwischen ihnen lag die verlorene sonnige Jugend, die sie so gedankenlos miteinander geteilt hatten.

»Jetzt weiß ich, warum du nicht glücklich sein kannst«, dachte sie traurig. »Bisher habe ich es nie verstanden. Auch nicht, warum ich sel ber nie glücklich war, aber ... wir reden ja wie alte Leute! Wie alte Leute, die auf fünfzig Jahre zurückblicken«, kam es ihr auf einmal trostlos zum Bewußtsein. »Wir sind doch nicht alt!«

Aber als sie Ashley so ansah, war er plötzlich nicht mehr der glän zende Jüngling. Gesenkten Hauptes schaute er, tief in Gedanken verloren, auf ihre Hand hinunter, die er immer noch hielt, und sie gewahrte, wie grau sein helles Haar geworden war, silbergrau, wie Mondschein auf einem stillen Gewässer. All die leuchtende Schönheit des Aprilnachmittags war plötzlich entschwunden, und die schwermütige Süße der Erinnerung war bitter wie Galle geworden.

»Ich hätte nicht zurückblicken dürfen«, dachte sie ganz verzweifelt. »Es tut allzu weh und zerreißt einem das Herz. Und das ist Ashleys Leiden. Er kann überhaupt nicht mehr vorwärtsblicken. Die Gegenwart sieht er nicht, die Zukunft fürchtet er, und deshalb blickt er zurück. Jetzt endlich verstehe ich ihn. Ach, Ashley, Geliebter, du darfst nicht zurückblicken! Ich hätte mich nicht von dir verleiten lassen sollen, von alten Zeiten zu sprechen. Es kommt nichts dabei heraus als herzzerbrechendes Weh.«

Sie stand auf. Immer noch hielt er ihre Hand. Sie mußte fort. Sie durfte nicht hierbleiben und an die Vergangenheit denken und ihm in sein müdes, trauriges, trostloses Gesicht, sein Gesicht, wie es heute war, sehen.

»Wir haben einen langen Weg zurückgelegt, Ashley«, sagte sie und versuchte, ihre Stimme in die Gewalt zu bekommen und des Würgens im Halse Herr zu werden. »Wir dachten es uns so schön, nicht wahr?« Und dann brach es aus ihr hervor: »Ach, Ashley, alles ist ganz anders gekommen, als wir dachten!«

»Das ist immer so«, erwiderte er. »Das Leben ist nicht verpflichtet, uns zu geben, was wir von ihm erwarten. Wir müssen nehmen, was kommt, und dankbar sein, daß es nichts Schlimmeres ist.«

Auf einmal wurde ihr ganz dumm ums Herz vor Weh und Müdigkeit, als sie die lange Strecke zurückblickte, die sie aus jenen Zeiten bis hierher gewandelt war. Sie sah die Scarlett 0'Hara von damals vor sich, die gern Verehrer und hübsche Kleider hatte und eines Tages, wenn sie Zeit hätte, eine vornehme Dame werden wollte wie Ellen. Die Tränen traten ihr in die Augen und rollten ihr langsam die Wangen herab. Stumm blickte sie zu ihm auf wie ein Kind, das sich nicht mehr zu helfen weiß. Er sprach kein Wort, er nahm sie sanft in die Arme, drückte ihren Kopf an seine Schulter und legte ihre Wange an die seine. Sie ließ es still geschehen, ihre Arme umschlangen ihn. In seiner tröstenden Umarmung versiegte der jähe Tränenstrom. In seinen Freundesarmen lag es sich gut. Nur er, der mit ihr ihre Jugend geteilt hatte und nun ihre Erinnerungen teilte, der wußte, woher sie kam und wer sie war - nur er konnte sie verstehen.

Sie vernahm draußen Schritte, aber sie achtete nicht darauf und meinte, es seien die Fahrer, die nach Hause gingen. Sie rührte sich nicht und lauschte dem ruhigen Schlag seines Herzens. Da riß er sich plötzlich heftig von ihr los. Überrascht schaute sie zu ihm auf. Er blickte über ihre Schulte r hinweg nach der Tür.

Sie drehte sich um. Da stand India mit schneeweißem Gesicht, Flammen in den blassen Augen, und neben ihr Archie, bösartig wie ein einäugiger Papagei. Hinter ihnen stand Mrs. Elsing.

Wie sie aus dem Kontor herauskam, daran konnte sie sich später nicht mehr erinnern. Auf Ashleys Befehl ging sie sofort hinaus und ließ ihn und Archie zu einer bitterbösen Unterredung in dem kleinen Raum zurück. India und Mrs. Elsing standen vor der Tür und kehrten ihr den Rücken. Scham und Angst jagten sie nach Hause. In ihrer Vorstellung nahm Archie mit seinem Patriarchenbart das Aussehen eines rächenden Engels aus dem Alten Testament an.

Ihr Haus lag leer und still im Sonnenuntergang da. Die Dienstboten waren alle zu einer Beerdigung gegangen. Die Kinder spielten in Melanies Garten. Melanie ...

Melanie! Scarlett überlief es kalt bei dem Gedanken an sie, als sie die Treppe in ihr Zimmer hinaufging. Nun erfuhr Melanie alles. India hatte gesagt, sie wolle es ihr erzählen. 0h, India erzählte es ihr mit Hochge nuß, ohne Rücksicht darauf, ob sie Ashley beschmutzte und Melanie verletzte, wenn sie nur Scarlett Schaden zufügen konnte. Und auch Mrs. Elsing würden reden, obwohl sie eigentlich gar nichts gesehen hatten, denn sie hatte hinter India und Archie in der Tür gestanden.

Zur Zeit des Abendessens würde die ganze Stadt es wissen und bis zum morgigen Frühstück auch jeder Sklaven. Heute abend auf der Gesellschaft steckten die Damen nun die Köpfe zusammen und tuschelten. Scarlett Butler stürzte von ihrer stolzen, machtvollen Höhe herab! Und das Gerede würde alles vergröbern, und es gab kein Mittel, dem Einhalt zu tun. Bei der Tatsache, daß Ashley sie weinend im Arm gehalten hatte, würde es nicht bleiben. Noch vor Dunkelwerden würde es heißen, sie seien beim Ehebruch ertappt worden. Scarlett dachte erbittert: Wären wir damals Weihnachten während seines Urlaubs überrascht worden, wie ich ihn zum Abschied küßte, oder im 0bstgarten, als ich ihn anflehte, mit mir zu fliehen, ach, wären wir nur irgendeinmal ertappt worden, da wir wirklich schuldig waren, es wäre nicht so schlimm. Aber nun, da er mich so ganz nur als Freund in die Arme schloß ... Niemand würde es glauben. Sie hatte keinen einzigen Freund, der für sie eintrat. Keine einzige Stimme würde sich erheben und sprechen: »Ich glaube nicht, daß sie etwas Unrechtes getan hat.« Sie hatte die alten Freunde allzulange tief gekränkt, nun fand sich für sie kein

Verteidiger mehr. Und ihre neuen Freunde, die im stillen unter ihrer Unverschämtheit litten, waren froh, einmal über sie herziehen zu können. Ihr traute jedermann alles zu, wenn es auch manchem leid tun mochte, daß ein Mann wie Ashley Wilkes in eine so schmutzige Affäre verwickelt war. Wie immer wurde natürlich die Frau verurteilt, und über die Schuld des Mannes zuckte man nur die Achseln. Und hatte man nicht diesmal recht, war sie ihm nicht in die Arme gesunken? 0h, sie wollte es schon auf sich nehmen, verleumdet und geschmäht zu werden, all das hinterhältige Grinsen und Tuscheln wollte sie ertragen, wenn es sein mußte. Nur Melanie nicht! Melanie nicht! Warum Melly mehr als alles andere ihr auf der Seele lag, wußte sie nicht. Sie war so verängstigt und von alter Schuld bedrückt, daß sie sich darüber keine Rechenschaft ablegen konnte. Aber sie brach in Tränen aus, als sie sich Melanies Augen bei Indias Bericht vorstellte. 0b sie Ashley verließ? Was blieb ihr denn anderes übrig, wenn sie ihre Würde wahren wollte? Und Ashley und ich, was sollen wir tun - dachte sie halb von Sinnen, und die Tränen strömten ihr übers Gesicht. Ach, Ashley stirbt ja vor Scham und haßt mich, weil ich das über ihn gebracht habe. Und plötzlich stockten ihr die Tränen. Ein Todesschrecken fuhr ihr durchs Herz: Rhett! Was würde Rhett tun?

Vielleicht erfuhr er es gar nicht. Wie lautete doch das alte Sprichwort? »Der Ehemann erfährt es immer zuletzt.« Vielleicht erzählte es ihm niemand. Es gehörte schon Mut dazu, Rhett so etwas zu erzählen. Er stand in dem Ruf, zuerst zu schießen und dann zu fragen. Lieber Gott, laß keinen so tapfer sein, es ihm zu sagen! Aber nun fiel ihr Archies Gesicht im Kontor wieder ein: das kalte farblose Auge, das ihr und allen Frauen Unheil verhieß. Archie fürchtete weder Gott noch Mensch und haßte jede leichtfertige Frau. Eine hatte er so gehaßt, daß er sie umgebracht hatte. Er hatte übrigens gesagt, er wolle es Rhett erzählen. Er erzählte es ihm sicher und ließ sich auch durch Ashley nicht davon abbringen. Wenn Ashley nicht Archie tötete, erzählte der Alte es Rhett, weil er es für seine Christenpflicht hielt.

Sie zog sich aus und legte sich aufs Bett. Ihre Gedanken drehten sich ohne Unterlaß immer im Kreise. Könnte sie nur ihre Tür abschließen und für alle Ewigkeit keinen Menschen mehr zu Gesicht bekommen! Vielleicht kam Rhett heute abend noch nicht dahinter. Sie wollte ihm sagen, sie habe Kopfweh und keine Lust, auf die Gesellschaft zu gehen. Bis zum Morgen fiel ihr dann sicher eine Entschuldigung ein, etwas Stichhaltiges, was sie zu ihrer Verteidigung anführen könnte.

»Jetzt will ich nicht daran denken«, sagte sie verzweifelt und barg ihr Gesicht in die Kissen. »Jetzt denke ich nicht mehr darüber nach, lieber später, wenn ich es ertragen kann.« Sie hörte die Dienstboten mit Dunkelwerden zurückkommen. Es kam ihr vor, als gingen sie merkwürdig leise bei den Vorbereitungen des Abendessens zu Werke. 0der war es nur ihr schlechtes Gewissen? Mammy klopfte an die Tür, aber Scarlett schickte sie fort und sagte, sie wolle nichts essen. Die Zeit verging, und endlich hörte sie Rhett die Treppe heraufkommen. Sie hielt den Atem an und nahm alle Kraft zusammen, um ihm entgegenzutreten, aber er ging in sein Zimmer. Er wußte wohl nichts. Immer noch richtete er sich nach ihrer eisigen Bitte, ihr Schlafzimmer nicht zu betreten. Wenn er sie jetzt sähe, müßte ihr Gesicht sie verraten. Sie mußte sich so weit zusammennehmen, daß sie ihm sagen konnte, sie fühle sich zu schlecht, um in die Gesellschaft zu gehen. Nun, sie hatte Zeit genug, sich zu beruhigen. Hatte sie das wirklich? Seit dem furchtbaren Augenblick am Nachmittag wußte sie von keiner Zeit mehr. Sie hörte Rhett eine ganze Weile in seinem Zimmer hantieren und hin und wieder mit Pork sprechen. Immer noch fand sie nicht den Mut, ihn zu rufen. Still lag sie im Dunkeln auf ihrem Bett und schauderte.

Nach einer langen Zeit klopfte er an. Sie versuchte, ihren Ton zu beherrschen, und sagte: »Herein!«

»Werde ich wirklich aufgefordert, das Allerheiligste zu betreten?« fragte er und öffnete die Tür. Es war finster, sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Auch seiner Stimme war nichts anzuhören. Er trat ein und schloß die Tür hinter sich.

»Können wir gehen? Bist du fertig?«

»Es tut mir sehr leid, aber ich habe Kopfweh.« Sonderbar, wie natürlich das herauskam. Gott sei Dank, daß es dunkel war. »Ich glaube nicht, daß ich mitgehe. Geh du allein, Rhett, und sage Melly, wie leid es mir täte.«

Es kam eine lange Pause, dann sprach er in seinem weichsten Tonfall in die Finsternis hinein.

»Was bist du doch für ein Feigling!«

Er wußte es! Schaudernd lag sie da und konnte nicht sprechen. Sie hörte ihn im Dunkeln suchen, er zündete ein Streichholz an. Es wurde hell im Zimmer. Er kam ans Bett und schaute auf sie hernieder. Er hatte seinen Frack schon an.

»Steh auf«, sagte er mit einer Stimme, die nichts verriet. »Wir gehen auf die Gesellschaft. Du mußt dich beeilen.«

»Rhett, ich kann nicht. Siehst du nicht ...«

»Ich sehe schon. Steh auf.«

»Rhett, hat Archie sich unterstanden ...«

»Archie hat sich unterstanden. Ein tapferer Kerl ist Archie.«

»Du hättest ihn niederschießen sollen für seine Lüge ...«

»Ich habe nun einmal die merkwürdige Schwäche, Leute, die mir die Wahrheit sagen, nicht niederzuschießen. Aber wir haben jetzt keine Zeit zum Reden, steh auf!«

Sie setzte sich und zog ihren Schlafrock fester um sich, ihre Augen forschten in seinem Gesicht. Es war dunkel und unbewegt.

»Ich gehe nicht mit, Rhett, ich kann nicht, bis dieses ... Mißverständnis aufgeklärt ist.«

»Wenn du dich heute abend nicht zeigst, so kannst du dich dein Lebtag in der Stadt nicht mehr blicken lassen. Eine Dirne kann ich zur Not al s meine Frau dulden, eine feige Memme aber dulde ich nicht. Du kommst heute abend mit, und wenn dich jedermann von Alex Stephens abwärts schneidet und Mrs. Wilkes uns auffordert, das Haus zu verlassen.«

»Rhett, hör mich an.«

»Ich will nichts hören. Wir haben keine Zeit. Zieh dich an.«

»Sie haben es mißdeutet, India, Mrs. Elsing und Archie. Sie hassen mich alle. India haßt mich so sehr, daß sie sich nicht scheute, ihren Bruder zu verleumden, wenn sie mir damit schaden kann. Wenn du mich nur anhören wolltest! «

Ach, Mutter Gottes, dachte sie in ihrer Herzensangst, wenn er nun sagen würde: »Sprich«, was soll ich dann sagen? Wie kann ich es ihm klarmachen?

»Sie haben es natürlich schon allen vorgelogen. Ich kann nicht hingehen.«

»Du kommst mit«, sagte er, »und wenn ich dich beim Genick hinschleifen und dir Schritt für Schritt mit meinem Stiefel in deinen reizenden Hintern nachhelfen soll.«

Seine Augen glänzten eiskalt, als er sie aus dem Bett riß. Er nahm ihr Korsett und warf es ihr zu.

»Zieh an. Ich will dich schnüren. ja, ich verstehe mich aufs Schnüren. Nein, ich rufe nicht Mammy, denn dann schließt du, feige wie du bist, die Tür ab und verkriechst dich.«

»Ich bin nicht feige«, fuhr sie auf, und bei seiner Beschimpfung verging ihr die Angst. »Ich habe ...«

»Ach, verschone mich mit deinem Märchen von dem erschossenen Yankee und Shermans Armee, der du entgegengetreten bist. Du bist feige. Wenn nicht deinetwegen, so mußt du heute abend doch um Bonnies willen gehen. Willst du ihre Aussichten noch weiter verderben? Zieh dein Korsett an, schnell!«

Eilig ließ sie den Schlafrock fallen und stand im Hemd da. Wenn er nur sehen wollte, wie hübsch sie im Hemd war, vielleicht machte er dann nicht mehr ein so fürchterliches Gesicht. Er hatte sie ja seit Ewigkeiten nicht mehr im Hemd gesehen. Aber er schaute nicht hin. Er stand vor ihrem Schrank, musterte rasch ihre Kleider, suchte und nahm ihr neues jadegrünes Moirekleid heraus. Es war vorn tief ausgeschnitten, und der Rock war hinten über eine große Turnüre drapiert, auf der ein Strauß von roten Samtrosen steckte.

»Zieh das an«, sagte er, warf das Kleid aufs Bett und kam auf sie zu. »Kein sittsames frauliches Taubengrün und Lila heute abend. Du sollst deine Flagge am Mast festnageln, sonst streichst du sie mir noch. Und leg tüchtig Rouge auf. Die Frau, die die Pharisäer beim Ehebruch ertappten, sah bestimmt nicht halb so bleich aus wie du. Dreh dich um!«

Er nahm die Korsettschnüre in die Hand und zog so heftig daran, daß sie, beschämt und gepeinigt von seinem unpassenden Ton, angstvoll aufschrie.

»Tut weh, was?« Er lachte kurz auf, sein Gesicht konnte sie nicht sehen. »Schade, daß nicht der Hals drinsteckt.«

In Melanies Haus war jedes Zimmer hell erleuchtet, und schon von fern hörten sie die Musik. Als sie vorfuhren, drang das freudig erregte Gesumme und Geschwätz vieler vergnügter Leute ihnen entgegen. Das Haus war von Gästen überfüllt, die Zimmer waren zu eng, man strömte auf die Veranda heraus, viele saßen auf den Bänken in dem dämmerigen, von Laternen erhellten Garten.

»Ich kann nicht hinein, ich kann es nicht«, dachte Scarlett in ihrem Wagen und zerknüllte ihr Taschentuch. »Ich kann nicht, ich will nicht, ich springe hinauf und laufe weg, einerlei wohin, nach Hause, nach Tara. Warum hat Rhett mich gezwungen, herzukommen! Was werden die Leute tun? Was tut Melanie? Wie sie wohl aussieht? Ach, ich kann ihr nicht unter die Augen treten. Ich laufe davon.«

Als läse Rhett ihre Gedanken, faßte er ihren Arm so fest, daß ihr schien, er müsse braun und blau davon werden. Es war der harte Griff eines rücksichtslosen, ganz fremden Mannes. »Ich habe noch nie einen feigen Iren gesehen. Woist nun dein vielgerühmter Mut?«

»Rhett, ich bitte dich, laß mich nach Hause gehen und dir alles erklären.«

»Erklärungen kannst du mir in alle Ewigkeit noch geben, aber als Märtyrerin im Amphitheater erscheinen kannst du nur diesen einen Abend. Steig aus, mein Herz, ich will zusehen, wie die Löwen dich fressen. Steig aus!«

Wie sie den Gartenweg hinaufkam, wußte sie nicht. Der Arm, an dem sie ging, war hart und fest wie Granit und flößte ihr ein wenig Mut ein. Bei Gott, sie konnte ihnen entgegentreten, und sie wollte es auch. Es war ja nur eine Schar heulender, eifersüchtiger Katzen. Sie wollte schon mit ihnen fertig werden. Sie kehrte sich nicht daran, was sie von ihr dachten. Nur Melanie ... nur Melanie!

Jetzt standen sie vor der Haustür; Rhett, den Hut in der Hand, verbeugte sich nach rechts und links und redete leise und kühl. Die Musik brach ab, als sie hereinkamen, die Menschenmenge brandete ihr verworren entgegen und ebbte wieder zurück, stiller und immer stiller. Wollten sie sie alle schneiden? Heiliger Strohsack, dann sollten sie es tun! Sie warf das Kinn auf und lächelte herausfordernd, und in ihren Augenwinkeln erschienen die Fältchenkränze der Hei terkeit.

Ehe sie sich den Nächststehenden zuwenden konnte, kam jemand durchs Gedränge auf sie zu. Alles ringsum wurde sonderbar still, es griff ihr ans Herz. Dann kam durch die schmale Gasse auf kleinen eiligen Füßen Melanie daher, um Scarlett schon an der Tür zu begrüßen und anzureden, ehe jemand anders mit ihr sprechen konnte. Sie warf die schmalen Schultern zurück, die dünnen Lippen fest geschlossen, beachtete sie niemanden. Es war, als wäre Scarlett ihr einziger Gast. Sie trat zu ihr und legte den Arm um sie.

»Was für ein entzückendes Kleid du anhast, Liebes!« sagte sie mit ihrer feinen, klaren Stimme. »Willst du ein Engel sein? India konnte heute abend nicht kommen und mir helfen. Möchtest du mit mir die Gäste empfangen?«

54

Als Scarlett glücklich wieder in ihrem Zimmer war, fiel sie aufs Bett, ohne sich um das Moirekleid, die Turnüre und die Rosen zu kümmern. Eine ganze Zeit lang konnte sie nur still daliegen und daran denken, wie sie zwischen Melanie und Ashley gestanden und die Gäste begrüßt hatt e. Grauenhaft! Lieber träte sie Shermans ganzer Armee entgegen, als dies noch einmal durchzumachen. Schließlich stand sie auf, ging erregt im Zimmer auf und ab und ließ ein Kleidungsstück nach dem andern zu Boden gleiten.

Nach so viel Anspannung setzte nun die Ermattung ein. Ihre Glieder flogen. Die Haarnadeln entglitten ihren Fingern und klirrten zu Boden. Als sie versuchte, sich, wie allabendlich, hundertmal mit der Bürste übers Haar zu streichen, stieß sie sich schmerzhaft gegen die Schläfe. Immer wiede r ging sie auf Zehenspitzen an die Tür und horchte hinaus, aber wie ein stummer Abgrund lag unten die Halle.

Als die Gesellschaft zu Ende war, hatte Rhett sie im Wagen allein nach Hause geschickt, und sie hatte Gott für die Galgenfrist gedankt. Er war noch nicht da, gottlob, noch nicht. Heute nacht war sie, die vor Scham und Angst bebte, ihm nicht gewachsen. Wo mochte er stecken?

Wahrscheinlich bei jener Person. Zum erstenmal war Scarlett froh, daß Belle Watling auf der Welt war und daß es außerhalb des Hauses einen 0rt gab, wo Rhett weilen konnte, bis seine schreckliche Mordlaune verglomm. Es war unrecht, sich zu freuen, daß der Ehemann sich in einem Bordell aufhielt, aber sie konnte nichts dafür. Sie hätte sich selbst über seinen Tod gefreut, wenn sie dadurch diese Nacht vor ihm sicher gewesen wäre.

Mögen ... morgen war auch ein Tag. Morgen wollte sie sich etwas ausdenken, was sie ihrerseits ihm vorhalten konnte, um ihn ins Unrecht zu setzen. Morgen ging ihr die Erinnerung nicht mehr so fürchterlich nach, d aß sie an allen Gliedern zittern mußte. Morgen würde sie Ashleys Gesicht nicht mehr so nah vor sich sehen, seinen gebrochenen Stolz, seine Schande, an der sie so viel und er nur so wenig schuld hatte. Ihr geliebter, makelloser Ashley! 0b er sie nun haßte, weil sie ihn in Schande gebracht hatte? Sicherlich mußte er es, seitdem Melanie sie alle beide gerettet hatte, indem sie durch das feindselige Gedränge auf sie zugekommen war und mit herzlichen, vertrauensvollen Worten den Arm in den ihren gelegt hatte. Wi e vollendet hatte sie allen Skandal erstickt, indem sie den ganzen fürchterlichen Abend hindurch nicht von Scarletts Seite gewichen war! Und so waren die Leute zwar alle etwas kühl und betreten, aber doch höflich zu ihr gewesen.

Hinter Melanies Rücken hatte sie vor ihren Feinden, die sie haßten und sie am liebsten in Stücke gerissen hätten, Schutz suchen müssen! Welche Schande! Daß sie gerade in Melanies blindem Vertrauen Zuflucht finden mußte!

Bei diesem Gedanken überlief es Scarlett kalt. Sie mußte trinken, viel trinken, ehe sie sich hinlegen und versuchen konnte zu schlafen. Sie zog einen leichten Schlafrock über das Nachthemd und lief durch den dunklen Flur. Ihre flachen Pantoffeln klapperten laut durch die Stille. Sie war schon halbwegs die Treppe hinunter, da fiel ihr Blick auf die geschlossene Eßzimmertür, und sie sah durch den schmalen Spalt am Boden Licht schimmern. Ihr stockte der Herzschlag. War Rhett doch zu Hause? Er hatte leise durch die Küchentür hereinkommen können. Wenn er da war, so wollte sie schleunigst wieder ins Bett flüchten, um ihn nicht zu sehen. In ihrem Zimmer konnte sie sich einschließen.

Sie bückte sich, um ihre Pantoffeln auszuziehen. Da flog die Tür auf, und Rhett stand als eine schwarze Silhouette vor dem matten Kerzenlicht, riesengroß, ein beängstigender schwarzer Schatten, der ein wenig auf den Füßen schwankte.

»Bitte, kommen Sie herein, Mrs. Butler«, sagte er. Seine Stimme klang belegt.

Er war betrunken und machte keinen Hehl daraus. Das hatte sie an ihm noch nicht erlebt, selbst wenn er noch soviel getrunken hatte. Unentschlossen blieb sie stehen. Da hob er befehlend den Arm.

»Herkommen, verflucht noch mal!« sagte er roh.

Er ist sehr betrunken, dachte sie bebenden Herzens. Gewöhnlich wurde er, je mehr er trank, nur desto manierlicher. Er biß dann wohl mehr als sonst voller Hohn und Spott um sich, aber immer in vollendeter, allzu vollendeter Form.

Er darf nicht merken, daß ich vor ihm Angst habe, dachte sie, zog sich den Schlafrock fester über der Brust zusammen und schritt erh obenen Hauptes mit klappernden Absätzen die Treppe hinunter.

Er trat beiseite und dienerte sie so höhnisch zur Tür herein, daß sie zusammenfuhr. Er hatte seine Jacke ausgezogen, die Krawatte hing zu beiden Seiten des offenen Kragens herunter. Das Hemd klaffte über der schwarzbehaarten Brust. Sein Haar war wüst, die blutunterlaufenen Augen halb geschlossen. Auf dem Tisch brannte eine einzige Kerze, ein winziges Lichtchen, das ungeheure Schatten in das hohe Zimmer warf und den schweren Möbeln das Aussehen stummer sprungbereiter Tiere gab. Auf dem Tisch stand auf einem silbernen Tablett die Kristallkaraffe geöffnet und die Gläser darum.

»Setz dich!« sagte er schroff und folgte ihr ins Zimmer.

Da überkam sie ein neues Grauen, neben dem ihre Angst, ihm unter die Augen zu treten, ihr jetzt geringfügig erschien. Er sah aus, er sprach und benahm sich wie ein Fremder. Niemals hatte sie diesen flegelhaften Rhett gesehen. Nie hatte er sich, auch in den intimsten Augenblicken, anders als selbstbeherrscht gegeben. Auch im Zorn war er stets verbindlich und spöttisch gewesen, und der Whisky hatte ihn darin immer nur bestärkt. Zuerst hatte diese unerschütterliche Lässigkeit sie geärgert, aber mit der Zeit war sie ihr bequem geworden. Sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, es gäbe eigentlich nichts, woran ihm besonders gelegen wäre, und er betrachte alles im Leben, auch sie, als einen mehr oder weniger gelungenen Scherz. Als sie ihm aber jetzt über den Tisch hinweg ins Auge sah, fiel ihr das Herz in die Schuhe. Es gab doch etwas, woran ihm lag, sehr viel lag.

»Warum solltest du auf deinen Schlummertrunk verzichten, auch wenn ich so unerzogen bin, zu Hause zu sein«, sagte er. »Soll ich dir einschenken?«

»Ich wollte gar keinen Schnaps«, entgegnete sie abweisend. »Ich hörte etwas und kam deshalb ...«

»Gar nichts hast du gehört. Hättest du geahnt, daß ich zu Hause war, du wärest nicht heruntergekommen. Ich habe hier gesessen und zugehört, wie du da oben hin und her gerannt bist. Du hast den Schnaps sicherlich dringend nötig. Trink.«

»Ich möchte nicht ...«

Er nahm die Karaffe und pantschte nachlässig ein Glas voll.

»Da«, sagte er und gab es ihr in die Hand. »Du zitterst ja am ganzen Leibe. Verstell dich nicht. Ich weiß, daß du im stillen trinkst, und weiß auch, wieviel. Eine Zeitlang hatte ich vor, dir zu sagen, du solltest dein Vornehmtun aufgeben und in aller Öffentlichkeit trinken, wenn du trinken willst. Mir ist es weiß Gott egal, wenn dir dein Schnaps schmeckt.«

Sie nahm das übervolle Glas und verwünschte ihn im stillen. Er las in ihr wie in einem Buch. Er hatte sie immer durchschaut, und gerade vor ihm hätte sie gern so manches verborgen.

»Trink, sage ich.«

Sie hob das Glas und kippte den Inhalt mit steifem Handgelenk und einer jähen Drehung des Armes hinunter, genauso wie Gerald immer seinen ungemischten Whisky hinuntergestürzt hatte. Dann erst kam ihr zum Bewußtsein, wie unkleidsam und säuferhaft das wirken mußte. Ihm entging es nicht. Seine Mundwinkel zogen sich abwärts.

»Setz dich, dann wollen wir uns recht häuslich und gemütlich über die elegante Gesellschaft unterhalten, der wir eben beigewohnt haben.«

»Du bist betrunken«, sagte sie kühl, »ich gehe zu Bett.«

»Ich bin sogar sehr betrunken und will noch viel betrunkener werden, ehe der Abend zu Ende ist. Du aber gehst nicht zu Bett, noch nicht! Setz dich!«

In seiner Stimme klang noch ein Rest des gewohnten kühlen Singsangs; darunter aber spürte sie die nackte Brutalität heraufdrängen - grausam wie ein Peitschenhieb. Sie schwankte unentschlossen. Da stand er neben ihr und packte ihren Arm so fest, daß es schmerzte. Er verrenkte ihn ein wenig, und sie setzte sich schleunigst mit einem leisen Schmerzensschrei. Jetzt verspürte sie wirklich Angst, mehr als je in ihrem Leben. Als er sich über sie beugte, sah sie sein dunkles gerötetes Gesicht und in den Augen immer noch das beängstigende Flackern. In ihren Tiefen lag etwas, was sie nicht erkannte und nicht begriff, etwas, das wilder als Zorn und weher als Schmerz war und ihn ganz und gar beherrschte, so daß ihm die Augen glommen wie glühende Kohlen. Lange schaute er auf sie hernieder, bis endlich der Blick, mit dem sie ihm zu trotzen suchte, auswich und sich zu Boden senkte. Dann ließ er sich ihr gegenüber in einen Stuhl fallen und goß sich noch einen Schnaps ein. Ihr Gehirn arbeitete fieberhaft, sich einen Verteidigungsplan zurechtzulegen. Aber ehe er nicht das Wort ergriff, wußte sie nichts zu sagen, da sie im Ungewissen tappte, wessen er sie beschuldigen würde.

»Eine lustige Komödie heute abend, nicht wahr?«

Sie erwiderte nichts und krümmte in ihren Pantoffeln die Zehen vor Anstrengung, ihr Zittern zu meistern.

»Eine lustige Komödie, und keine Rolle fehlte darin. Das Dorf vollzählig versammelt, um die Frau für ihren Fehltritt zu steinigen, der betrogene Ehemann, der sich als Gentleman hinter seine Frau stellt, die betrogene Ehefrau, die in christlicher Nächstenliebe alles mit dem Mantel ihres makellosen Rufes zudeckt, der Liebhaber ...«

»Bitte!«

»Heute abend höre ich kein >Bitte<. Es ist zu lustig. Der Liebhaber sah aus wie ein begossener Pudel, als wäre er lieber tot als lebendig. Was mag das für ein Gefühl sein, mein Herz, wenn die Frau, die du haßt, dir beispringt und deine Sünde zudeckt. Setz dich!«

Sie setzte sich.

»Lieber wird sie dir dadurch kaum geworden sein. Nun möchtest du wohl gern wissen, ob sie über dich und Ashley wirklich alles erfahren hat, und, wenn es der Fall ist, warum sie so gehandelt hat ... falls sie es nicht nur tat, um das Gesicht zu wahren. Du wirst es dumm von ihr finden, wenn du auch dadurch mit heiler Haut davongekommen ist.«

»Ich will nichts davon hören ...«

»Doch, du sollst davon hören. Und ich will dir zu deiner Beruhigung sagen, Mrs. Melly ist zwar dumm, aber nicht so, wie du denkst. Ganz offensichtlich hat man es ihr gesagt, aber sie hat es nicht geglaubt. Selbst ihren eigenen Augen traute sie nicht. Sie ist so durch und durch ehrenhaft, daß sie von niemandem, den sie liebt, etwas Unehrenhaftes glauben kann. Ich weiß nicht, was Ashley Wilkes ihr vorgelogen hat. Die ungeschickteste Lüge hat jedenfalls genügt, denn sie liebt Ashley, und sie liebt dich. Ich kann wahrhaftig nicht begreifen warum, aber sie hat dich lieb. Dies Kreuz magst du nun auf dich nehmen.«

»Wenn du nicht so betrunken wärest und so ausfallend sprächest, wollte ich dir alles erklären«, sagte Scarlett, schon wieder einigermaßen gefaßt. »Aber jetzt ...«

»Deine Erklärungen interessieren mich nicht. Ich kenne die Wahrheit besser als du. Bei Gott, wenn du noch einmal von dem Stuhl aufstehst ... Was ich aber noch lustiger finde als die Komödie von heute abend: während du mir so tugendsam um meiner vielen Sünden willen die Freuden deines Bettes verweigertest, gelüstet es dich in deinem Herzen nach Ashley Wilkes. Ja, es gelüstete dich in deinem Herzen. Eine schöne Wendung, was? Es gibt viele schöne Wendungen in jenem Buch, nicht wahr?«

In welchem Buch, in welchem Buch? ging es ihr sinnlos durch den Kopf, während sie die Augen wild im Zimmer umherschweifen ließ.

»Mir wurde die Tür gewiesen, weil meine rohe Glut deinem Zartgefühl zuviel wurde - und weil du keine Kinder mehr haben wolltest. Nein, wie mir das ins Herz schnitt, geliebter Schatz! Ich ging also hin und fand angemessenen Trost; dich aber überließ ich dir selbst und deinem Zartgefühl. Die Zeit hast du damit verbracht, dem geduldig schmachtenden Mr. Wilkes nachzulaufen. Wie mag ihm denn eigentlich zumute sein, in drei Teufels Namen? Mit der Seele kann er seiner Frau nicht treu bleiben, und mit dem Leibe kann er ihr nicht untreu werden. Warum kommt er zu keinem Entschluß! Von ihm Kinder zu bekommen, dagegen hättest du wohl nichts - und sie dann als meine auszugeben?«

Mit einem Schrei sprang sie auf. Er aber erhob sich träge und mit einem leisen Lächeln, bei dem ihr das Blut erstarrte, von seinem Platz, drückte sie mit seinen großen braunen Händen auf den Stuhl zurück und beugte sich über sie.

»Sieh dir meine Hände an, liebes Kind«, sagte er und hielt sie ihr vor die Augen. »Ich könnte dich damit ohne weiteres in Stücke reißen und täte es auch, wenn ich dir damit Ashley aus dem Kopf vertreiben könnte. Aber ich fange es besser anders an. Siehst du, ich kann dir meine Hände zu beiden Seiten an die Schläfen legen und deinen Schädel wie eine Walnuß zerdrücken. Das würde sein Bild für immer auslöschen.«

In roher Liebkosung griffen seine Hände ihr unter dem gelösten Haar an den Kopf und hoben das Gesicht zu ihm empor. Sie blickte in das Antlitz eines betrunkenen fremden Mannes. An körperlichem Mut hatte es ihr nie gefehlt. Im Angesicht der Gefahr strömte er ihr heiß in die Adern zurück. Ihr Rücken straffte sich, ihre Augen wurden schmal.

»Du Säufer«, sagte sie, »Hände weg!«

Zu ihrer Überraschung nahm er sie wirklich weg, setzte sich auf die Tischkante und schenkte sich noch einen Schnaps ein.

»Ich habe immer deinen Schneid bewundert, mein Kind«, sagte er, »am meisten aber jetzt, wo du so in die Enge getrieben bist.«

Sie zog sich den Schlafrock fester um die Schultern. Ach, könnte sie nur in ihr Schlafzimmer und die schwere Tür abschließen. Sie mußte ihn sich auf irgendeine Weise vom Leibe halten, ihn anherrschen, bis er sich fügte - dieser Rhett, den sie noch nie so gesehen hatte. Gelassen stand sie auf, obwohl ihr die Knie bebten, raffte den Schlafrock fest um die Hüfte und schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht.

»Das bin ich keineswegs. Von dir, Rhett Butler, kann ich nicht in die Enge getrieben werden«, sagte sie schneidend. »Du bist ja nur ein betrunkenes Vieh, du hast so lange mit schlechten Frauenzimmern zusammengesteckt, daß du überhaupt nur noch Schlechtigkeiten begreifst. Ashley und mich kannst du nicht begreifen. Du hast allzulange im Schmutz gelebt, etwas anderes kennst du nicht. Du bist auf etwas eifersüchtig, was du nicht verstehst. Gute Nacht!«

Sie drehte sich um und ging zur Tür. Da hielt sein tolles Gelächter sie zurück. Sie schaute sich um und sah, wie er durch das Zimmer auf sie zugetaumelt kam. Wenn er nur mit diesem entsetzlichen Lachen aufhören wollte! Was gab es denn bei alledem zu lachen? Als er vor ihr stand, wich sie zur Tür hinaus und fand sich gegen die Wand gedrängt. Schwer legte er ihr die Hände auf die Schultern.

»Laß das Lachen!«

»Ich lache, weil du mir leid tust.«

»Du kannst dir selber leid tun.«

»Bei Gott, ja, du tust mir leid, mein Kind, mein hübsches Dummköpfchen. Das tut weh, was? Du erträgst ja weder Gelächter noch Mitleid.«

Er hörte auf zu lachen und lehnte sich so schwer auf ihre Schultern, daß es schmerzte. Sein verändertes Gesicht kam ihr immer näher, bis der starke Whiskygeruch seines Atems ihr Schwindel erregte.

»Eifersüchtig bin ich? Warum auch nicht! ja, ich bin eifersüchtig auf Ashley Wilkes. Wie sollte ich nicht? Du brauchst weiter nichts zu sagen und zu erklären. Ich weiß wohl, daß du mir körperlich treu geblieben bist, das war es doch wohl, was du mir sagen wolltest. Das habe ich die ganze Zeit gewußt, all die Jahre. Woher? 0h, ich kenne Ashley Wilkes und seinesgleichen. Er ist ein Gentleman, und das, mein Kind, ist mehr, als man von uns beiden behaupten kann. Wir beide sind nicht vornehm, wir haben keine Ehre, deshalb blühen und gedeihen wir wie die Magnolienbäume.«

»Laß mich los. Ich will nicht hier stehen und mich beschimpfen lassen.«

»Ich beschimpfe dich nicht. Ich preise deine körperliche Treue. Du hast mich nicht getäuscht. Du hältst die Männer für so dumm. Aber es tut nie gut, die Stärke des Gegners zu unterschätzen. Ich bin kein Tropf. Meinst du, ich wüßte nicht, daß du in meinen Armen gelegen und dir dabei vorgestellt hast, ich wäre Ashley Wilkes?«

Ihr blieb der Mund offenstehen. Angst und Erstaunen malten sich deutlich auf ihrem Gesicht.

»Schön ist so etwas, ganz gespenstisch sogar, als lägen drei im Bett, in das nur zwei gehören.« Er rüttelte sie an den Schultern, verbiß sich einen Schluckauf und lächelte spöttisch.

»0 ja, du bist mir treu geblieben, weil Ashley dich nicht wollte. Zum Teufel auch, deinen Körper hätte ich ihm gegönnt. Am Körper liegt nicht viel, schon gar nicht an einem Frauenkörper. Aber ich mißgönne ihm dein Herz und deine süße, skrupellose, eigensinnige Seele. Er will deine Seele nicht, der Trottel. Ich aber mache mir nichts aus deinem Körper. Frauen sind billig zu haben. Deine Seele will ich und dein Herz. Und die werden mir nie gehören, ebensowenig wie Ashleys Seele je dir gehören kann. Sieh, deshalb tust du mir leid.«

In all ihrer Angst und Verwirrung fühlte sie gut seinen Hohn. »Ich ... dir leid?«

»Ja, weil du solch ein Kind bist, Scarlett. Ein Kind, das nach dem Mond verlangt. Was aber soll ein Kind mit dem Mond anfangen, wenn es ihn bekommt? Was tätest du wohl mit Ashley? Ja, du tust mir leid, weil du mit beiden Händen dein Glück wegwirfst und nach etwas verlangst, was dich nimmermehr glücklich machen kann. Du tust mir leid, weil du in deiner Dummheit nicht weißt, daß es Glück nur gibt, wo Gleiches sich mit Gleichem paart. Wäre ich tot, wäre Miß Melly tot und du hättest deinen ehrenwerten Geliebten - meinst du, du wärest glücklich mit ihm? Teufel nein! Nie würdest du ihn begreifen, nie wissen, was in ihm vorgeht, und ihn ebensowenig verstehen wie Musik und Dichtung und Bücher und überhaupt alles, was nicht Dollar und Cent ist. Wir beide hingegen, teures Weib meines Herzens, könnten vollkommen glücklich sein, wenn du uns nur ein klein bißchen dazu hättest verhelfen wollen, denn wir sind einander merkwürdig gleich. Beide sind wir Schurken und beide schrecken wir vor nichts zurück, wenn wir etwas wollen. Wir hätten glücklich sein können, denn ich habe dich geliebt, Scarlett, und kenne dich bis ins Mark, wie Ashley es niemals könnte, und wenn er es täte, müßte er dich verachten. Aber nein, du mußt dein Leben lang hinter einem Manne herschmachten, den du nicht verstehst. Ich aber, Geliebte, schmachte weiter den Huren nach, und damit fahren wir wohl immer noch besser als manch anderes Paar.«

Plötzlich gab er sie frei und taumelte zur Karaffe zurück. Einen Augenblick konnte sich Scarlett nicht rühren. Die Gedanken rasten ihr durch den Kopf. Keiner von ihnen ließ sich fassen und untersuchen. Rhett hatte gesagt, er liebte sie. War das sein Ernst? 0der war er nur betrunken? War es vielleicht einer seiner entsetzlichen Spaße? Und Ashley ... nach dem Mond ... griff sie denn nach dem Mond? Blitzschnell war sie im dunklen Flur, als wären böse Geister hinter ihr her. Wenn sie doch nur bis in ihr Zimmer gelangte! Ihr Fuß knickte um, der Pantoffel rutschte ab, sie blieb stehen und schleuderte ihn wütend von sich. Da stand Rhett im Dunkeln neben ihr. Leichtfüßig wie ein Indianer war er ihr nachgelaufen. Sein Atem schlug ihr heiß ins Gesicht, roh faßten seine Hände ihr unter den Schlafrock und packten sie auf der bloßen Haut.

»Mich hast du auf die Straße gewiesen und bist ihm nachgelaufen. Bei Gott, heute nacht sollen nur zwei in meinem Bett liegen!«

Im Schwung hob er sie hoch, nahm sie auf den Arm und stürzte die Treppe hinauf. Ihr Kopf lag hart an seine Brust gepreßt, und sein Herz hämmerte an ihrem 0hr. Er tat ihr weh, dumpf schrie sie auf vor Angst. Hinauf ging es in der schwarzen Dunkelheit. Sie war vor Angst von Sinnen. Ein wahnsinniger fremder Mann hatte sie gepackt, in unbekannter schwarzer Finsternis, die schwärzer war als der Tod. Der Tod selbst trug sie davon. Halb erstickt an seiner Brust tat sie einen gellenden Schrei. Da blieb er auf dem Treppenabsatz stehen, drehte sie in seinen Armen um, beugte sich zu ihr hinab und begann sie wild und zügellos zu küssen, und alles andere versank in ihrem Gemüt bis auf die Finsternis, in die sie nun selbst versank, bis auf seine Lippen und ihre. Er wankte, als stünde er im Sturm. Seine Lippen wanderten von den ihren abwärts bis dahin, wo der Schlafrock herabgeglitten war, und trafen auf ihr bloßes Fleisch. Er stammelte Unverständliches, seine Küsse weckten in ihr nie gefühlte Empfindungen. Sie war ein Stück Finsternis gleich ihm, und nichts war in diesem Augenblick mehr als nur seine Lippen und die ihren. Sie versuchte zu sprechen, aber seine Lippen verschlossen ihren Mund. Plötzlich durchzuckte es sie wild, wie es sie noch nie durchzuckt hatte - Freude, Angst, Wahnsinn, Erregung, Hingabe an diese allzu starken Arme, diese allzu wilden Lippen und an das allzu rasende Schicksal. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie einem begegnet, der stärker war als sie, den sie weder beherrschen noch unter ihren Willen zwingen konnte, einem, der sie beherrschte und unter seinen Willen zwang. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, sie wußte nicht wie, ihre Lippen bebten unter den seinen, und wieder ging es hinauf und hinauf in die Finsternis, in die weiche, wirbelnde, alles umhüllende Finsternis.

Als sie am andern Morgen erwachte, war Rhett fort. Wäre nicht das zerwühlte Kissen neben ihr gewesen, sie hätte die Ereignisse der Nacht für einen wilden, wahnwitzigen Traum gehalten. Als sie daran zurückdachte, wurde sie glühendrot und zog sich die Decke bis zum Halse hinauf. Da lag sie, im Sonnenlicht gebadet, und versuchte, die wirren Eindrücke in ihrem Kopf zu ordnen.

Im Vordergrund stand zweierlei. Sie hatte jahrelang mit Rhett gelebt, Tisch und Bett mit ihm geteilt, sich mit ihm gezankt und sein Kind unter dem Herzen getragen - und doch kannte sie ihn nicht. Der Mann, der sie im Finstern die Treppe hinaufgetragen hatte, war ein fremder Mann, von dessen Dasein sie keine Ahnung gehabt hatte, und obwohl sie jetzt versuchte, ihn zu hassen, vermochte sie es doch nicht. Er hatte sie erniedrigt und geschändet, er hatte sie eine wilde, tolle Nacht lang gewaltsam genommen, und ihr war es eine Wonne gewesen.

Ach, sie sollte sich schämen und vor dem Gedanken an das Geschehene das Haupt verhüllen. Eine Dame, eine wirkliche Dame, konnte nach solcher Nacht den Kopf nie wieder hochhalten. Aber stärker als die Scham war der Nachklang der Wonne, der seligen Hingabe. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie sich lebendig gefühlt und eine hinreißende, urgewaltige Leidenschaft empfunden, so gewaltig wie damals die Angst, da sie aus Atlanta floh, so schwindelerregend, daß es nur mit dem kalten Haß verglichen werden konnte, mit dem sie auf Tara den Yankee niedergeschossen hatte.

Rhett liebte sie. Wenigstens hatte er es gesagt, und wie konnte sie noch daran zweifeln? Wie seltsam und befremdlich, wie unglaublich, daß er sie liebte, dieser fremde Wüstling, neben dem sie so kühl gelebt hatte. Sie wußte nicht recht, was sie von dieser Entdeckung halten sollte. Da ging ihr etwas auf, worüber sie auf einmal laut lachen mußte. Er liebte sie, und nun hatte sie ihn also endlich in ihrer Gewalt! Fast hatte sie vergessen, wie sie ihn schon früher hatte umgarnen wollen, damit sie über seinem unverschämten schwarzen Kopf die Peitsche schwingen könnte. Nun kam ihr die Lust daran zurück und tat ihr wohl. Eine einzige Nacht war sie auf Gnade und Ungnade sein gewesen, aber jetzt hatte sie die schwache Stelle in seiner Rüstung erkannt. Nun hatte sie ihn so weit, wie sie ihn haben wollte.

Bei der Vorstellung, ihm in nüchternem Tageslicht Aug' in Auge wieder zu begegnen, befiel sie eine nervöse, prickelnde Scheu, die aber voll erregenden Genusses war.

»Ich ängstige mich wie eine Braut«, dachte sie, »und das vor Rhett.« Bei diesem Gedanken fing sie an wie närrisch zu kichern.

Aber Rhett erschien nicht zu Tisch, und auch beim Abendessen saß er nicht an seinem Platz. Die Nacht verging, eine lange Nacht, in der sie bis zum Morgengrauen wach lag und horchte, ob nicht die Haustür ginge. Aber er kam nicht. Als der zweite Tag ohne eine Nachricht von ihm verfloß, war sie außer sich vor Enttäuschung und Angst. Sie ging zur Bank, er war nicht da. Sie ging in den Laden, und sobald die Tür sich öffnete und ein Kunde eintrat, blickte sie klopfenden Herzens auf und hoffte, es wäre Rhett. Sie fuhr zum Holzlager und schalt mit Hugh, bis er sich hinter einem Bretterstapel versteckte. Aber Rhett suchte auch dort nicht nach ihr.

Sie konnte es nicht über sich gewinnen, bei Freunden zu fragen, ob man ihn gesehen hätte. Unmöglich konnte sie sich bei den Dienstboten nach ihm erkundigen, obwohl sie das Gefühl hatte, sie wüßten alle etwas, was sie nicht wußte. Die Sklaven wußten immer alles. Mammy war in diesen Tagen ungewöhnlich still. Sie beobachtete Scarlett aus den Augenwinkeln und sagte nichts. Als die zweite Nacht vorüber war, entschloß sich Scarlett, zur Polizei zu gehen. Vielleicht hatte er einen Unfall gehabt, vielleicht hatte sein Pferd ihn abgeworfen, und er lag irgendwo hilflos im Graben. Vielleicht - schrecklicher Gedanke -, vielleicht war er tot.

Als sie nach dem Frühstück in ihr Zimmer ging und sich den Hut aufsetzte, vernahm sie einen raschen Schritt auf der Treppe. Ganz matt vor Dankbarkeit sank sie aufs Bett. Da trat Rhett herein, frisch rasiert und frisiert, nüchtern, aber mit blutunterlaufenen Augen und vom Tranke gedunsenem Gesicht. Er grüßte sie obenhin mit der Hand und sagte: »Hallo.«

Wie konnte der Mann einfach »Hallo« sagen, nachdem er zwei Tage ohne jede Erklärung weggeblieben war? Wie konnte er die Erinnerung an eine solche Nacht so nebensächlich abtun? Das konnte er nur, wenn - ein schreckliches Licht ging ihr auf -, wenn solche Nächte für ihn nichts Besonderes waren. Sie brachte kein Wort hervor, und all die hübschen Bewegungen, all das reizende Lächeln, womit sie sich an ihm hatte versuchen wollen, waren vergessen. Er kam nicht einmal zu ihr, um ihr den üblichen flüchtigen Kuß zu geben, sondern schaute sie nur mit seiner glimmenden Zigarre in der Hand grinsend an.

»Wo ... wo bist du gewesen?«

»Binde mir doch nicht auf, daß du es nicht weißt! Ich dachte, die ganze Stadt wüßte es inzwischen. Aber vielleicht wissen es alle, nur du nicht. Du kennst das alte Sprichwort: Die Ehefrau erfährt es immer zuletzt.« »Was soll das heißen?«

»Ich dachte, nachdem die Polizei vorletzte Nacht bei Belle war ...« »Bei Belle? DemFrauenzimmer! Du hast bei ihr ...«.

»Natürlich. Wo sollte ich sonst gewesen sein? Du hast dir doch keine Sorge ummich gemacht?«

»Du bist von mir zu ... 0h!«

»Scarlett, spiel nicht die betrogene Gattin. Das mit Belle weißt du doch längst.«

»Von mir bist du zu Belle gegangen, nach ... nach ... «

»Ach so.« Er machte eine flüchtige Handbewegung. »Ich verlerne noch all meine Manieren. Entschuldige bitte mein Benehmen bei unserem letzten Beisammensein. Ich war schwer betrunken, wie du wohl weißt, und von deinen Reizen völlig hingerissen. Soll ich sie dir erst aufzählen?«

Plötzlich kam sie die Lust an, zu weinen, sich auf ihr Bett zu werfen und ohne Ende zu schluchzen. Er hatte sich nicht verändert, nichts hatte sich verändert. Nur sie war eine Gans gewesen, eine alberne, eingebildete, dumme Gans, und hatte geglaubt, er liebe sie. Es war nur einer von seinen widerwärtigen, weinseligen Streichen gewesen. In der Trunkenheit hatte er sie genommen und genossen wie jede beliebige Person aus Beiles Lokal, und nun war er wieder da, beleidigend, höhnisch und nicht zu fassen. Sie schluckte die Tränen herunter und raffte sich auf. Er durfte nie und nimmer erfahren, was sie gedacht hatte. Wie er wohl lachte, wenn er es wüßte! Rasch sah sie zu ihm auf und erhaschte wieder den alten rätselhaften, beobachtenden Blick in seinen Augen, der so aufmerksam und angespannt war, als hinge sein Herz an ihren nächsten Worten, als hoffte er - ja, was hoffte er eigentlich? Daß sie sich lächerlich machte und heulte, damit er etwas zu lachen habe? Das fiel ihr nicht ein. Ihre schrägen Brauen zogen sich vor Haß zusammen. »Mir schwante längst, was für Beziehungen du zu der Person unterhieltest.«

»Dir schwante? Warum hast du mich nicht längst danach gefragt und deine Neugierde befriedigt? Ich hätte es dir nicht verschwiegen. Ich habe seit dem Tage mit ihr gelebt, da ihr beide, du und Ashley Wilkes, beschlossen habt, mir mein eigenes Schlafzimmer anzuweisen.«

»Du hast die Dreistigkeit, vor mir, deiner Frau, damit großzutun, daß ...«

»Verschone mich mit deiner moralischen Entrüstung. Dir war es immer völlig einerlei, was ich tat, solange ich nur deine Rechnungen bezahlte. Daß ich in letzter Zeit kein Engel gewesen bin, weißt du, und ob du meine Frau bist ... seitdem Bonnie da ist, kann davon wohl kaum noch die Rede sein. Du warst eine schlechte Kapitalanlage, Scarlett. Belle war eine bessere.«

»Kapitalanlage? Du willst doch damit nicht sagen, daß du ihr - «

»>Etabliert< habe ich sie, so lautet wohl der technische Ausdruck. Belle ist eine tüchtige Frau. Ich wollte ihr auf die Beine helfen, sie brauchte nichts weiter als Geld, um ein eigenes Lokal aufzumachen. Du solltest eigentlich am besten wissen, daß eine Frau Wunder tun kann, wenn sie nur ein bißchen Geld hat.«

»Du vergleichst mich ...?«

»Nun, ihr seid beide nüchterne Geschäftsfrauen und habt es beide zu etwas gebracht. Darin ist dir Belle freilich überlegen, daß sie eine warmherzige, gutmütige Seele ist.«

»Verlaß das Zimmer!«

Er schlenderte zur Tür, die eine Augenbraue spöttisch hinaufgezogen. Wie konnte er sie nur so beschimpfen, dachte sie voller Schmerz und Wut. Er tat, was er nur konnte, um sie zu kränken und zu erniedrigen. Der Gedanke, wie sehr sie sich nach ihm gesehnt hatte, während er betrunken in einem Bordell lag und sich mit der Polizei herumschlug, folterte sie.

»Geh aus dem Zimmer und komm mir nie wieder herein. Ich habe es dir schon einmal gesagt, und du warst nicht Gentleman genug, es zu verstehen. Künftig schließe ich die Tür ab.«

»Mach dir doch nicht die Mühe.«

»Ich schließe ab. Nachdem du dich neulich nacht so ekelhaft wie ein Betrunkener aufgeführt hast ...«

»Aber Herzblättchen, doch nicht ekelhaft!«

»Hinaus!«

»Beruhige dich, ich gehe schon. Ich verspreche dir, dich nie wieder zu belästigen, ein für allemal. Und da fällt mir ein: wenn dir mein schändliches Benehmen neulich zuviel geworden ist, so willige ich gern in eine Scheidung. Gib mir nur Bonnie, und ich bin mit allem einverstanden.«

»Ich denke nicht daran, meine Familie durch eine Scheidung in Verruf zu bringen.«

»Wäre Miß Melly tot, du besännest dich nicht lange. Mir schwirrt der Kopf, wenn ich daran denke, wie rasch du dann auf die Scheidung dringen würdest.«

»Willst du jetzt gehen?«

»Jawohl, ich gehe. Ich bin nur nach Hause gekommen, um dir das zu sagen. Ich gehe nach Charleston und New 0rleans ... nun, auf Reisen für recht lange Zeit. Ich fahre heute.«

»Was du sagst!«

»Und Bonnie nehme ich mit. Laß die dumme Prissy ihre kleinen Siebensachen packen. Prissy kommt auch mit.«

»Mein Kind lasse ich nicht aus dem Hause.«

»Mrs. Butler, es ist auch mein Kind. Sie werden wohl kaum etwas dagegen haben, daß ich mit ihr die Großmutter in Charleston besuche?«

»Großmutter? Was du nicht sagst! Meinst du, ich gäbe dir das Kind mit, wenn du dich jeden Abend betrinkst und sie womöglich in solche Lokale mitnimmst wie Beiles?«

Er schmiß die Zigarre auf den Fußboden, wo sie auf dem Teppich weiterqualmte, und der Geruch versengter Wolle stieg ihnen in die Nase. Im nächsten Augenblick stand er neben ihr, das Gesicht dunkel vor Wut.

»Wärst du ein Mann, ich bräche dir dafür das Genick. Dir aber kann ich nur raten, dein gotteslästerliches Maul zu halten. Meinst du, ich habe Bonnie nicht viel zu lieb, als daß ich ... meine Tochter! Du bist irre. Du tust fromm und mütterlich, und dabei ist noch jede Katze eine bessere Mutter als du. Was hast du jemals für die Kinder getan? Wade und Ella haben eine Todesangst vor dir, und wäre nicht Melanie Wilkes, sie wüßten überhaupt nicht, was Liebe und Zärtlichkeit ist. Aber Bonnie, meine Bonnie! Meinst du, ich könnte nicht besser für sie sorgen als du? Meinst du, ich lasse dich mit ihr herumkeifen und sie verschüchtern, wie du es mit Wade und Ella schon getan hast? Teufel, nein! In einer Stunde hat sie mit ihren Sachen reisefertig zu sein, oder der Sturm von neulich nacht soll dir noch milde vorkommen gegen das, was dann geschieht. Ich habe schon immer gemeint, eine Fuhrmannspeitsche müßte dir sehr guttun.«

Er machte kehrt, ehe sie etwas erwidern konnte, und verließ raschen Schrittes das Zimmer. Sie hörte ihn über den Flur ins Spielzimmer der Kinder gehen und die Tür öffnen. Sofort erscholl ein dreistimmiges Freudengeheul, Bonnies Stimme übertönte die andern.

»Pappie, wo bist du gewesen?«

»Im Hasenland! Hatte fast ein Karnickel für Bonnie am Wickel. Gib deinem allerliebsten Pappi einen Kuß, Bonnie - du auch, Ella!«

»Liebes, ich will keinerlei Erklärung von dir haben und überhaupt nichts weiter davon hören«, sagte Melly entschieden, legte sanft ihre kleine Hand auf Scarletts gequälte Lippen und brachte sie zum Schweigen. »Du beleidigst dich selbst und Ashley und mich, wenn du meinst, zwischen uns bedürfe es erklärender Worte. Wir drei haben doch so viele Jahre wie die Soldaten zusammen gegen die ganze Welt gekämpft, da schäme ich mich in deiner Seele, wenn du meinst, ein müßiger Klatsch könne zwischen uns treten. Bildest du dir denn ein, ich könnte glauben, daß du und mein Ashley ... was für eine Vorstellung! Ist dir denn nicht klar, daß ich dich besser kenne als irgend jemand auf der Welt? Meinst du, ich hätte alle deine wunderbaren, selbstlosen Handlungen für Ashley, Beau und mich vergessen? Das Leben hast du mir gerettet, vor dem Hunger hast du uns bewahrt, alles, alles hast du für uns getan. Meinst du, ich könnte daran zurückdenken, wie du fast barfuß mit zerschundenen Händen hinter dem Pferd des Yankees in der Ackerfurche gegangen bist, nur damit das Kleine und ich zu essen hätten - und dann so fürchterliches von dir glauben? Kein Wort mehr will ich von dir hören, Scarlett 0'Hara, kein Wort!«

»Aber ...« Scarlett suchte nach Worten, schließlich gab sie es auf.

Vor einer Stunde hatte Rhett mit Bonnie und Prissy die Stadt verlassen, und sie war in ihrer Schande und ihrem Ingrimm nun mutterseelenallein. Dazu kam die Schuld ihrer Liebe zu Ashley, und jetzt noch Melly, die für sie eintrat - das alles zusammen war mehr, als sie ertragen konnte. Hätte Melly India und Archie geglaubt und sie fortan geschnitten oder auch nur frostig behandelt, sie hätte den Kopf hoch tragen und sich mit allen Waffen ihrer Rüstkammer den Rückzug decken können. Nun aber stand Melly wie eine feine, blanke Klinge zwischen ihr und der Verfemung, kampflustig, leuchtenden Auges und voller Vertrauen. Nun sah Scarlett als einzig anständigen Weg nur noch ein offenes Bekenntnis vor sich, das von jenem fernen Anfang auf der sonnigen Veranda in Tara an alles rückhaltlos preisgab.

Ihr Gewissen trieb sie dazu, das lange unterdrückte, aber nie völlig ertötete, das nach Beichte und Sühne verlangende katholische Gewissen. »Bekenne deine Sünden und tue Buße dafür in Reue und Zerknirschung«, hatte Ellen ihr hundertmal gesagt, und an diesem Wendepunkt ihres Lebens bekam Ellens Erziehung wieder Gewalt über sie. Alles wollte sie bekennen, jeden Blick, jedes Wort, jede kleinste Zärtlichkeit, dann linderte Gott ihren Schmerz und gab ihr Frieden. Ihre Buße würde dann der schreckliche Anblick sein, wie in Melanies Gesicht sich das Vertrauen und die Liebe in ungläubiges Entsetzen, in Abscheu verwandelte. Ach nein, dachte sie in ihrer Not, mein Leben lang Melanies Gesicht vor mir sehen in der Gewißheit, daß sie um all meine Niedrigkeit, Treulosigkeit, Falschheit und Heuchelei weiß ... nein, die Buße ist allzuschwer.

Früher hatte sie sich wohl an der Vorstellung berauscht, wie sie Melanie die Wahrheit höhnisch ins Gesicht schleudern und dabei ihr törichtes Paradies zusammenstürzen sehen wollte, und sie hatte gemeint, die Schadenfreude könne alles, was sie dabei verlöre, aufwiegen. Aber nun hatte sich über Nacht alles verändert, und sie wünschte sich nichts weniger als das. Woher das kam, wußte sie nicht In ihrem Kopf war der Tumult widerstreitender Vorstellungen so groß, daß sie sie unmöglich ordnen konnte. Sie wußte nur, daß sie leidenschaftlich danach trachtete, sich Melanies gute Meinung zu erhalten, wie sie einst danach gestrebt hatte, vor ihrer Mutter sittsam, gütig und mit reinem Herzen dazustehen. Sie wußte nur, daß sie nicht danach fragte, was die Welt, was Ashley und Rhett von ihr dachten - aber Melanie durfte nicht anders von ihr denken als bisher.

Ihr graute davor, Melanie die Wahrheit zu sagen, aber einer ihrer seltenen Anfälle von Ehrlichkeit zwang sie dazu. Deshalb war sie an dem Morgen, nachdem Rhett und Bonnie das Haus verlassen hatten, sofort zu ihr gegangen.

Aber nach ihren ersten, rasch hervorgesprudelten Worten hatte Melanie sie gebieterisch zum Schweigen verwiesen. Scarlett stand schamrot vor den dunkeln Augen, die vor Liebe und Zorn blitzten, und erkannte schweren Herzens, daß der Friede und die Ruhe nach einer Beichte ihr nie beschieden sein würden. Melanie hatte mit ihren ersten Worten ihr diesen Weg für immer abgeschnitten, und eins der wenigen reifen Gefühle, die sich je in ihr regten, führte sie zu der Erkenntnis, daß es reine Selbstsucht wäre, ihr gefoltertes Herz zu erleichtern. Damit hätte sie ihre Last dem Herzen eines unschuldigen, vertrauensvollen Menschen aufgebürdet. Dafür, daß Melanie für sie eingetreten war, stand sie nun in ihrer Schuld, und diese Schuld war nur durch Schweigen abzuzahlen. Das wäre in der Tat ein grausamer Lohn, wenn sie Melanies Lebensglück mit der schrecklichen Eröffnung zerstörte, daß ihr Mann ihr mit ihrer geliebten Freundin die Treue brach!

»Ich kann es ihr nicht sagen«, dachte sie trostlos, »und wenn mein Gewissen mich dafür langsam tötet.« Rhetts Bemerkung kam ihr wieder in den Sinn: »Von keinem, den sie liebt, kann sie etwas Unehrenhaftes glauben ... Das Kreuz magst du nun auf dich nehmen.«

Ja, dieses Kreuz mußte sie nun bis zu ihrem Tode tragen. Schweigend mußte sie diese Qual in ihrem Innern erdulden, bei jeder liebevollen Bewegung Melanies mußte sie den Schrei unterdrücken: »Ich bin es nicht wert!«

»Wäre sie nur nicht so dumm, nur nicht ein so liebes, vertrauensvolles, einfältiges Ding, es wäre nicht halb so schwer.« Diese Last war wohl von allen, die sie geschleppt hatte, die schwerste und härteste,

Melanie saß ihr gegenüber auf einem niedrigen Stuhl, die Füße fest auf einer 0ttomane, die Knie emporgezogen wie ein kauerndes Kind, eine Stellung, die sie nie eingenommen hätte, hätte nicht ihr Zorn sie alle Schicklichkeit vergessen lassen. Sie war mit einer Handarbeit beschäftigt und fuhr mit der Nadel so gewaltsam hin und her, als gebrauchte sie ein Rapier im Duell.

In solchem Zorn hätte Scarlett mit beiden Füßen gestampft und dazu gebrüllt wie Gerald in seinen besten Tagen, hätte für all die Falschheit u nd Niedertracht der Menschen Gott zum Zeugen angerufen und mit Racheschwüren gedroht, daß einem das Blut in den Adern erstarrte. Melanies inneren Aufruhr aber zeigten nur die blitzende Nadel und die zusammengezogenen, zarten Augenbrauen an. Ihr Ton war kühl, ihre Worte kamen bestimmter hervor als sonst; aber die Scheltworte, die sie sprach, waren ihr wesensfremd, äußerte sie doch kaum je eine bestimmte Ansicht und nie ein unfreundliches Wort. Auf einmal spürte Scarlett, daß die Wilkes und Hamiltons eines Zornes fähig waren, der den 0'Haraschen noch übertraf.

»Ich habe es gründlich satt, die Leute über dich herziehen zu hören«, rief Melanie. »Dies setzt allem Bisherigen die Krone auf. Es muß etwas dagegen geschehen. Alles kommt nur daher, daß die Leute eifersüchtig auf dich sind, weil du tüchtig bist und vorwärtskommst. Du hast es zu etwas gebracht, wo viele Männer versagt hätten. Deshalb brauchst du nicht böse mit mir zu werden, mein Herz, ich meine durchaus nicht, daß du dich unweiblich betragen oder emanzipiert hättest, wie so viele behaupten. Das ist einfach nicht wahr. Die Leute verstehen dich nur nicht. Sie können eine tüchtige Frau nicht ertragen. Aber deine Tüchtigkeit und dein Erfolg geben ihnen noch lange nicht das Recht zu reden, du und Ashley ... oh, ihr himmlischen Mächte!«

Die sanfte Gewaltsamkeit dieses letzten Ausrufs hätte auf Männerlippen fast etwas Lästerliches gehabt. Scarlett starrte Melanie an, erschrocken über einen Ausbruch, der ihr so wenig ähnlich sah.

»Und dann kommen sie mit den schmutzigen Lügen, die sie zusammenbrauen, zu mir ... Archie, India und Mrs. Elsing! Wie konnten sie sich unterstehen! Mrs. Elsing ist freilich nicht hiergewesen, dazu hatte sie natürlich nicht den Mut. Aber sie hat dich immer gehaßt, weil du beliebter warst als Fanny. Ganz wutentbrannt war sie, als du Hugh die Leitung der Mühle abnahmst. Aber daran hast du recht getan, denn er ist ein kümmerlicher, untüchtiger Tagedieb!« So grausam tat Melanie den Spielgefährten und den Verehrer ihrer Backfischjahre ab. »Archies wegen mache ich mir bittere Vorwürfe. Ich härte dem alten Schuft kein 0bdach gewähren sollen, das haben mir alle gesagt, aber ich wollte nicht hören. Er mochte dich nicht, Herz, wegen der Sträflinge, aber wer ist er, daß er über dich, urteilen darf? Ein Mörder, ein Frauenmörder! Und nach allem, was ich für ihn getan habe, kommt er und sagt mir ... 0h, ich hätte es nicht bedauert, wenn Ashley ihn erschossen hätte. Nun, ich habe ihn seiner Wege geschickt, kann ich dir sagen. Er hat mich kennengelernt! Er hat die Stadt verlassen. - Und India, das niederträchtige Ding! Ach, das erstemal, da ich euch beide zusammen sah, ist es mir nicht entgangen, wie eifersüchtig sie war und dich haßte, weil du so viele Verehrer hattest und so viel hübscher warst als sie. Besonders Stuart Tarletons wegen hat sie dich gehaßt. Über Stuart hat sie so lange gegrübelt - es ist mir schrecklich, so etwas über Ashleys Schwester zu sagen, aber ich glaube, das viele Grübeln hat ihren Sinn verstört. Anders kann ich mir ihre Handlungsweise nicht erklären ... Ich habe ihr das Haus verboten und ihr gesagt, wenn sie dich auf so gemeine Weise verleumdet, würde ich sie öffentlich eine Lügnerin nennen.«

Melanie schwieg, und plötzlich schwand der Zorn aus ihrem Gesicht, und tiefer Kummer malte sich darin. Melanie besaß den leidenschaftlichen Familiensinn, der den Bewohnern Georgias eigen ist. Der Gedanke an einen Familienzwist zerriß ihr das Herz. Einen Augenblick schwankte sie, aber Scarlett hatte den ersten Platz in ihrem Herzen inne, und so fuhr sie fort: »Sie ist auch immer eifersüchtig gewesen, weil ich dich am liebsten habe. Sie kommt nie wieder in mein Haus, und das Haus, das sie aufnimmt, werde ich nie betreten. Ashley stimmt mit mir darin überein, aber es hat ihm fast das Herz gebrochen, daß seine eigene Schwester so etwas ...«

Als Ashleys Name fiel, gaben Scarletts überreizte Nerven nach, und sie brach in Tränen aus. Sollte sie denn nie aufhören, ihm weh zu tun? Ihr einziger Wunsch war immer gewesen, ihn glücklich zu machen, aber bei allem, was sie tat, fügte sie ihm Schmerz zu. Sie hatte ihn zugrunde gerichtet, seinen Stolz und seine Selbstachtung gebrochen und ihm den inneren Frieden und die Seelenruhe eines unbescholtenen Charakters geraubt. Und nun hatte sie ihn seiner heißgeliebten Schwester entfremdet! Damit Scarletts Ruf gerettet und Melanies Glück erhalten werde, hatte India geopfert und als verlogene, eifersüchtige alte Jungfer hingestellt werden müssen, obwohl sie mit jedem Argwohn, den sie gehegt, und mit jedem Wort der Anklage, das sie geäußert hatte, im Recht war. Wenn Ashley India ins Auge sah, sollte er fortan immer die Wahrheit darin erblicken, die Wahrheit, den Vorwurf und die kalte Verachtung, in der die Wilkes Meister

waren.

Scarlett wußte ja, daß ihm die Ehre über das Leben ging, und konnte sich gut in seine Qualen hineinversetzen. Wie sie selber mußte auch er sich hinter Melanie verkriechen. Als Frau hätte sie ihn höher geachtet, wenn er Archie erschossen und sich vor Melanie und der Welt zu allem bekannt hätte. Sicher, es war unbillig, dies zu verlangen, aber Rhetts Sticheleien kamen ihr nicht aus dem Sinn. Ging Ashley wirklich als Mann aus dieser Verstrickung hervor? Von nun an sollte unmerklich der Strahlenkranz verblassen, mit dem sie ihn seit dem ersten Tage, da sie sich in ihn verliebte, geschmückt hatte. Der Makel der Schande und Schuld, der auf ihr lag, ging auch auf ihn über. Heftig wehrte sie sich gegen den Gedanken, aber umso bitterer mußte sie weinen.

»Still, still!« rief Melanie, ließ ihre Handarbeit fallen, stürzte aufs Sofa und zog Scarletts Kopf an ihre Schulter. »Ich hätte gar nicht davon sprechen und dich nicht so quälen sollen. Es muß ja auch dir furchtbar nahegehen! Wir wollen nie wieder davon anfangen, weder untereinander noch anderen Menschen gegenüber. Dann ist es, als sei es nie geschehen. Aber«, fügte sie ruhig und fest hinzu. »India und Mrs. Elsing sollen mich kennenlernen. Sie sollen nur ja nicht glauben, daß sie über meinen Mann und meine Schwägerin ungestraft Lügen in die Welt setzen dürfen. Ich werde dafür sorgen, daß sie sich nicht mehr in Atlanta blicken lassen können, und wer ihnen glaubt und sie bei sich empfängt, ist mein Feind.«

Scarlett schaute bekümmert in die Zukunft und wußte, daß sie die Ursache zu einer Fehde war, die die Stadt und ihre Familien auf Menschenalter hinaus entzweien würde.

Melanie hielt Wort. Nie wieder erwähnte sie Scarlett und Ashley gegenüber den Vorfall, und auch mit anderen sprach sie sich nicht darüber aus. Sie wahrte eine kühle Gleichgültigkeit, die sich im Nu in eisige Steifheit verwandeln konnte, sobald jemand darauf anzuspielen wagte. In den Wochen, die auf ihre Gesellschaft folgten, gab sie, während Rhett auf Reisen war und die Stadt vor aufgeregtem Klatsch brodelte, Sc arletts Verleumdern keinen Pardon, selbst wenn es alte Freunde und Blutsverwandte waren. Sie sprach nicht, sie handelte.

Wie eine Klette hängte sie sich an Scarlett. Wenn Scarlett allmorgendlich in den Laden und zum Holzlager hinausfuhr, begleitete Melanie sie. Sie bestand darauf, daß Scarlett nachmittags spazierenfuhr, obwohl sie wenig Neigung verspürte, sich angaffen zulassen, und fuhr mit. Sie nahm Scarlett mit, wenn sie zu den verschiedenen Besuchstagen ging, und trieb sie mit sanfter Gewalt in Salons, in denen sie seit über zwei Jahren nicht gesessen hatte. Energisch gab sie zu verstehen, daß, wer sie liebe, gefälligst auch ihre Freundin zu lieben habe, und machte dabei mit der verblüfften Hausfrau die übliche Konversation.

An solchen Nachmittagen mußte Scarlett früh kommen und so lange bleiben, bis der letzte Besuch gegangen war. Dadurch sahen sich die Damen des Vergnügens beraubt, die Köpfe zusammenzustecken, zu munkeln und zu mutmaßen - was denn auch eine gelinde Entrüstung hervorrief. Diese Besuche waren für Scarlett eine ganz besondere Pein, aber sie wagte nicht, sich Melanie darin zu versagen. Angenehm war es nicht, zwischen lauter Frauen zu sitzen, die sich die Köpfe zerbrachen, ob sie wohl wirklich beim Ehebruch ertappt worden wäre, und die nur aus Liebe oder Freundschaft zu Melanie überhaupt mit ihr sprachen. Aber nachdem sie Scarlett einmal empfangen hatten, konnten sie sie fortan nicht mehr schneiden.

Es war bezeichnend für den Ruf, dessen sich Scarlett erfreute, daß man, wenn man sie verteidigte oder verurteilte, eigentlich nie von ihrer persönlichen Unantastbarkeit ausging. »Ich traue ihr alles zu« war der bezeichnende Ausdruck für die allgemeine Auffassung. Scarlett hatte zu viele Feinde, als daß sie jetzt wirkliche Verbündete hätte haben kö nnen. Ihre Worte und Taten brannten noch in allzu vielen Herzen, und es wurde nicht viel danach gefragt, ob dieser Skandal ihr noch schade oder nicht. Viel dringender lag allen die Frage am Herzen, ob Melanie oder India ein Unrecht geschehe oder nicht. Die Aufregung drehte sich weit mehr um diese beiden als um Scarlett. Im Mittelpunkt stand die Frage: Hat India gelogen?

Wer sich auf Melanies Seite schlug, führte triumphierend an, daß Melanie jetzt doch beständig mit Scarlett zusammen sei. Eine Frau von Melanies hohen Grundsätzen konnte doch wohl nicht für eine Frau eintreten, die schuldig geworden war, und nun gar mit Melanies eigenem Gatten. Unmöglich! India war eine verschrobene alte Jungfer, die Scarlett haßte und verleumdete und die es verstanden hatte, Archie und Mrs. Elsing ihre Lügen einzureden.

Aber, so fragten Indias Verteidiger, wenn Scarlett unschuldig ist, wo steckt dann Kapitän Butler? Warum steht er nicht seiner Frau zur Seite und stärkt ihr den Rücken? Auf diese Frage gab es keine Antwort. Als die Wochen dahingingen und schließlich ruchbar wurde, daß Scarlett schwanger sei, nickten die Verbündeten Indias voller Befriedigung. Kapitän Butlers Kind konnte es nicht sein. Allzulange schon war die Entfremdung der Gatten ein öffentliches Geheimnis, allzulange schon hatte die Stadt an den getrennten Schlafzimmern der beiden Anstoß genommen.

So ging der Klatsch um und spaltete die Stadt und selbst die eng verbundenen Familien Hamilton, Wilkes, Burr, Whitman und Winfield in zwei Parteien. In diesen Familien mußte jeder, einzelne sich entscheiden, Neutralität gab es nicht, dafür sorgte Melanie mit kühler Würde und India mit ätzender Bitterkeit. Aber auf welche Seite sich die Familienmitglieder auch schlugen, alle waren sie Scarlett als der Ursache des ganzen Zwistes gram und fanden, sie sei all die Aufregung nicht wert. Welcher Meinung sie auch anhingen, sie beklagten von Herzen, daß India sich nicht gescheut hatte, ihre schmutzige Wäsche in aller Öffentlichkeit zu waschen und Ashley in einen so erniedrigenden Skandal hineinzuziehen. Da es aber einmal geschehen war, traten viele für sie und gegen Scarlett ein, während die andern, die an Melanie hingen, sich umMelanie und Scarlett scharten.

Halb Atlanta war mit Melanie und India verwandt oder beh auptete wenigstens, es zu sein. Die Verzweigungen der Vettern- und Schwagerschaften waren so verflochten und verzwickt, daß nur ein geborener Georgianer sie entwirren konnte. Die Familien Hamilton und Wilkes hatten immer zusammengehalten und in Zeiten der Not aller Feindschaft der Welt eine unerschütterliche Phalanx entgegengestellt, einerlei, wie der einzelne im stillen über den andern dachte. Mit Ausnahme des Guerillakrieges zwischen Tante Pitty und 0nkel Henry, der jahrelang Stoff zur Heiterkeit gegeben hatte, war es nie und nirgends je zu offenen Zwistigkeiten gekommen. Es waren alles sanftmütige, stille und zurückhaltende Leute, die keine Neigung für die freundschaftlichen Zänkereien hatten, die bei den meisten Familien von Atlanta üblich waren.

Aber jetzt waren sie in zwei Lager gespalten, und die Stadt durfte zusehen, wie Vettern und Kusinen fünften und sechsten Grades einander bei diesem schändlichsten aller Skandale in die Haare gerieten. Das brachte die größten Schwierigkeiten mit sich und stellte die nicht verwandte Hälfte der Stadt vor harte Probleme, weil die Fehde zwischen Melanie und India so gut wie jede gesellschaftliche Vereinigung zerschlug. Der Thalia-Verein, der Nähzirkel für die Witwen und Waisen der Gefallenen, der Verein zur Verschönerung der Konföderiertengräber, der Sonnabendzirkel für Musik, das Damen-Tanzkränzchen, der Leseklub junger Männer - alles wurde in Mitleidenschaft gezogen, selbst die vier Kirchen in ihren Wohltätigkeitsorganisationen und Missionsgesellschaften. Man mußte mit äußerster Behutsamkeit vorgehen, um zu vermeiden, daß Mitglieder der beiden kriegführenden Parteien gleichzeitig in dasselbe Komitee zu sitzen kamen.

An ihren regelmäßigen Besuchstagen saßen die Damen zwischen vier und sechs Uhr wie auf Kohlen, ob nicht vielleicht Melanie und Scarlett erschienen, während India und ihre Gefolgschaft noch anwesend waren.

Von der ganzen Familie hatte die arme Tante Pitty am meisten auszustehen. Sie, die sich nichts weiter wünschte, als behaglich im liebevollen Verwandtenkreise dahinzuleben, wäre bei dieser Gelegenheit von Herzen gern Hund und Hase zugleich gewesen, aber das ließen weder die Hasen noch die Hunde zu.

India wohnte bei Tante Pitty, und wenn Pitty sich zu Melanie bekannte, was ihr Herzenswunsch war, dann zog India aus. Wenn aber India auszog, was sollte die arme Pitty dann machen? Allein konnte sie nicht leben. Sie hätte eine Fremde zu sich nehmen oder ihr Haus abschließen und zu Scarlett ziehen müssen, aber sie hatte eine Ahnung, als sei Kapitän Butler daran nicht viel gelegen. Sie konnte auch bei Melanie in dem Stübchen wohnen, das Beau als Kinderzimmer diente. Aber wenn sie auch India mit ihrer trockenen, eigensinnigen Art und ihrem Fanatismus nicht übermäßig gern hatte, so konnte sie doch dank ihr das gemütliche Heim für sich haben, und bei Pitty gab das persönliche Behagen leichter den Ausschlag als eine moralische Überzeugung. India blieb also da.

Aber ihre Gegenwart machte Tante Pitty arg zu schaffen, denn sowohl Scarlett wie Melanie zogen daraus den Schluß, daß sie auf Indias Seite stünde. Scarlett weigerte sich kurz und bündig, Pitty weiter mit Geld zu unterstützen, solange India mit ihr unter einem Dach lebte. Ashley schickte India jede Woche Geld, aber jedesmal ließ India es wortlos zurückgehen, was der alten Dame durchaus nicht recht war. In dem roten Backsteinhaus hätte die nackte Armut Einzug gehalten, wäre nicht 0nkel Henry eingesprungen, von dem Geld anzunehmen Pitty jedoch als eine tiefe Demütigung empfand.

Pitty liebte Melanie mehr als alle anderen Menschen, mit Ausnahme von sich selbst, und Melly benahm sich jetzt gegen sie kühl und höflich wie eine Fremde. 0bwohl sie so gut wie in Pittys Hintergarten wohnte, kam sie nicht ein einziges Mal mehr durch die Hecke herein, während sie doch sonst fortwährend bei ihr aus und ein gegangen war. Pitty besuchte sie hingegen, weinte und beteuerte ihr ihre Liebe und Anhänglichkeit, aber Melanie lehnte alle Erörterungen ab und erwiderte die Besuche nicht.

Pitty wußte ganz genau, wieviel sie Scarlett verdankte - eigentlich ihre ganze Existenz. Jedenfalls hatte Scarlett ihr in den schweren Tagen nach dem Kriege, als ihr nur zwischen Henry und dem Hunger die Wahl blieb, das Heim aufrechterhalten, sie ernährt und gekleidet und ihr die Stellung in der Gesellschaft gewahrt. Seitdem Scarlett sich verheiratet und ihr eigenes Haus bezogen hatte, war sie die Freigebigkeit selbst, und was den beängstigenden und doch so bestrickenden Kapitän Butler anging - wenn er ihr mit Scarlett einen Besuch gemacht hatte, fand sie oft auf ihrer Konsole ein funkelnagelneues Portemonnaie mit Geldscheinen, oder ein Spitzentaschentüchlein mit Goldstücken darin war ihr hinterrücks in den Nähkasten geschmuggelt worden. Rhett schwur jedesmal, er wisse nichts davon, und beschuldigte sie in wenig feinem Ton, sie habe gewiß einen heimlichen Verehrer, wobei dann gewöhnlich noch auf den backenbärtigen Großpapa Merriwether angespielt wurde.

Ja, Pitty schuldet Melanie Liebe und verdankte Scarlett ihr gesichertes Dasein. Was aber verband sie mit India? Gar nichts, nur daß Indias Anwesenheit sie davor bewahrte, ihr angenehmes Leben aufgeben und selbständig Entscheidungen treffen zu müssen. Es war alles höchst peinlich und äußerst schandbar. Pitty, die ihr Leben lang nie selbständig eine Entscheidung getroffen hatte, ließ alles gehen, wie es ging, und verweinte dabei viele Stunden ungetröstet.

Schließlich glaubten einige Leute wirklich an Scarletts Unschuld, nicht dank ihrer Tugend, sondern weil Melanie daran glaubte. Andere machten innerlich ihre Vorbehalte, gaben sich aber höflich gegenüber Scarlett, weil sie Melanie gern hatten und sich ihre Freundschaft nicht verscherzen wollten. Indias Parteigänger grüßten sie kalt oder schnitten sie offen. Das war höchst ärgerlich und peinlich, aber Scarlett mußte immerhin einsehen, daß die ganze Stadt gegen sie gestanden und sie ausgestoßen hätte, wäre nicht Melanie so rasch und entschlossen für sie eingetreten.

Rhett blieb ein Vierteljahr weg, und die ganze Zeit hörte Scarlett kein Sterbenswort von ihm. Sie wußte nicht, wo er sich aufhielt, und hatte nicht einmal eine Ahnung, ob er überhaupt wiederkäme. Die ganze Zeit ging sie erhobenen Hauptes und wehen Herzens ihren Geschäften nach. Sie fühlte sich körperlich nicht wohl, aber auf Melanies Geheiß ging sie täglich in den Laden und versuchte, sich wenigstens oberflächlich um die Mühlen zu kümmern. Aber der Laden hatte plötzlich keinen Reiz mehr für sie, und obwohl das Geschäft sich gegen das vorige Jahr verdreifacht hatte und viel Geld einbrachte, ließ es sie gleichgültig. Mit den Angestellten war sie sehr ungnädig. Johnnie Galleghers Mühle ging gut, und das Holzlager verkaufte seine Bestände mit Leichtigkeit, aber was auch Johnnie sagte oder tat, es mißfiel ihr alles. Johnnie, nicht minder irisch als sie, bekam schließlich bei ihren Nörgeleien einen Wutanfall und drohte zu kündigen, nachdem er einen langen Wortschwall mit der Wendung geschlossen hatte: »Sie können mir den Buckel herunterrutschen, Missis!« Sie mußte ihn schließlich demütig umEntschuldigung bitten, umihn zu besänftigen.

Nach Ashleys Mühle ging sie nicht ein einziges Mal, auch nicht ins Holzlager, wenn sie glaubte, sie würde ihn dort antreffen. Sie wußte, daß er sie mied und daß ihre beständige Gegenwart bei ihm zu Hause - auf Melanies unentrinnbare Einladungen hin - ihm eine Qual war. Nie sprachen sie unter vier Augen miteinander, und dabei verlangte sie verzweifelt danach, ihn nach manchem zu fragen. Sie wollte wissen, ob er sie nun haßte, sie wollte wissen, was er zu Melanie gesagt habe; er aber wahrte den Abstand und flehte sie schweigend an, gleichfalls zu schweigen. Der Anblick seines Gesichts, das unter den Gewissensbissen gealtert und eingefallen war, machte ihr das Herz noch schwerer, und obendrein wurmte es sie, daß seine Mühle allwöchentlich mit Verlust abschloß. Aber auch darüber mußte sie schweigen.

Seine Hilflosigkeit allen Dingen gegenüber ärgerte sie. Sie wußte zwar nicht zu sagen, was er tun sollte, aber sie hatte das Gefühl, irgend etwas müsse er tun. Rhett hätte ganz gewiß irgend etwas getan. Rhett tat immer etwas, wenn auch das Verkehrte; und ohne es zu wollen, mußte sie ihn deswegen achten.

Nachdem ihr erster Zorn über Rhett und sein schimpfliches Betragen verraucht war, fing sie an, ihn zu vermissen, und sie vermißte ihn immer mehr, als ein Tag nach dem andern ohne Nachricht von ihm verging. Aus dem Wirrwarr von Seligkeit und Wut, Herzweh und verletztem Stolz, in dem er sie zurückgelassen hatte, blieb nichts als eine tiefe Niedergeschlagenheit übrig, die sie wie mit Krähenflügeln beschattete. Sie vermißte ihn und den leichten kecken Ton, durch den er sie mit seinen Geschichten so herzhaft zum Lachen brachte, sein hämisches Grinsen, welches alle Schwierigkeiten auf ein richtiges Maß einschränkte, und sogar seine Spöttereien, die sie zu zornigen Gegenhieben reizten. Vor allen Dingen vermißte sie ihn, weil sie ihm nicht wie sonst alles erzählen konnte. In dieser Hinsicht war Rhett unübertrefflich. Harmlos und stolz konnte sie ihm berichten, wie sie die Leute über das 0hr gehauen hatte, und war seines Beifalls sicher. Wenn sie dergleichen andern gegenüber auch nur flüchtig erwähnte, nahmen sie sogleich Anstoß daran.

Sie fühlte sich vereinsamt ohne ihn und Bonnie. Sie vermißte das Kind schmerzlicher, als sie es für möglich gehalten hätte. Die letzten bösen Worte, die Rhett ihr wegen Wade und Ella an den Kopf geworfen hatte, fielen ihr wieder ein, und sie versuchte, sich in Gesellschaft der Kinder über die leeren Stunden hinwegzuhelfen. Aber es gelang ihr nicht. Rhetts Worte und die Art, wie sich die Kinder gegen sie verhielten, öffneten ihr die Augen für eine erschreckend bittere Wahrheit. Als beide Kinder klein waren, war sie zu beschäftigt mit ihren Geldangelegenheiten und zu reizbar gewesen, um ihr Vertrauen und ihre Liebe zu gewinnen. Jetzt aber war es zu spät - oder aber sie besaß nicht die Geduld und die Weisheit, in ihre kleinen verschwiegenenHerzen einzudringen.

Ella! Scarlett sah zu ihrem Verdruß, daß Ella ohne jeden Zweifel ein törichtes Kind war. Ihr kleiner Geist konnte sich nicht länger mit einem Gegenstand beschäftigen, als ein Vogel auf einem Ast sitzen blieb, und sogar wenn Scarlett ihr Geschichten erzählte, schweifte die Kleine kindisch ab und unterbrach sie mit Fragen, die nicht dazugehörten, und ehe Scarlett eine Antwort finden konnte, war die Frage schon wieder vergessen. Und Wade? Rhett hatte vielleicht recht. Der Junge war wirklich bange vor ihr. Das war ihr unverständlich und schmerzte sie. Warum sollte ihr eigener Junge, ihr einziger Junge Angst vor ihr haben? Wenn sie ihn auszuforschen suchte, sah er sie nur mit Charles' sanften braunen Augen an, wand sich vor Verlegenheit und trat von einem Fuß auf den andern. Bei Melanie dagegen sprudelte er vor Lebendigkeit über und brachte ihr alles was seine Taschen enthielten, vom Fischköder bis zu alten Bindfäden.

Es ließ sich nicht leugnen, daß Melanie mit Kindern umzugehen verstand. Ihr kleiner Beau war der manierlichste und reizendste Junge in Atlanta. Mit ihm kam Scarlett weiter als mit ihrem eigenen Sohn, weil der kleine Beau Erwachsenen gebenüber unbefangen war und ihr unaufgefordert aufs Knie kletterte, sooft er sie sah. Er war ein schöner blonder Junge, ganz wie Ashley. Wenn nur Wade so wäre wie Beau! Der Grund dafür, daß Melanie soviel mit ihm anzufangen wußte, wa r selbstverständlich, daß sie nur dieses eine Kind hatte und sich nicht hatte sorgen und schinden müssen wie Scarlett. Wenigstens versuchte Scarlett es sich so zu erklären. Dennoch war sie ehrlich genug, sich einzugestehen, daß Melanie Kinder sehr liebhatte und mit Freuden ein Dutzend zur Welt gebracht hätte. Jetzt überschüttete sie Wade und die Nachbarskinder mit ihremÜberschuß an Mutterliebe.

Scarlett konnte nie vergessen, wie sie eines Tages erschrak, als sie bei Melanie vorfuhr, um Wade abzuholen, und schon in der Einfahrt ihres Sohnes Stimme einen durchaus überzeugend klingenden Rebellenruf ausstoßen hörte - Wade, der zu Hause immer nur mäuschenstill war! - , mannhaft unterstützt von Beaus schrillem Kriegsgeschrei. Als sie ins Wohnzimmer kam, gingen die beiden gerade mit Holzschwertern auf das Sofa los und hielten verlegen inne, als sie sie gewahr wurden. Hinter dem Sofa aber war lachend, nach ihren Haarnadeln und fliegenden Löckchen greifend, Melanie aufgetaucht.

»Hier ist Gettysburg«, erklärte sie, »ich bin der Yankee, und es ist mir elend schlecht gegangen. Dies ist General Lee«, sie wies auf Beau, »und dies General Pickett«, damit legte sie Wade den Arm umdie Schulter.

Ja, Melanie hatte eine Art, mit Kindern umzugehen, die Scarlett nie begreifenkon nte.

»Wenigstens Bonnie hat mich lieb«, dachte sie bei sich, »und spielt gern mit mir.« Aber sie konnte sich nicht verhehlen, daß Bonnie ihr bei weitem Rhett vorzog. Vielleicht sah sie Bonnie überhaupt niemals wieder! Rhett konnte für immer nach Persien oder Ägypten gefahren sein, sie hatte keine Ahnung, wo er steckte.

Als Dr. Meade ihr sagte, sie wäre schwanger, war sie sehr erstaunt. Sie hatte sich ihr Befinden aus Stoffwechselstörungen und überreizten Nerven erklärt. Dann aber kam ihr plötzlich jene wilde Nacht in den Sinn, und sie wurde dunkelrot. Aus jenen Augenblicken höchster Wonne, erwuchs also ein Kind! Zum erstenmal in ihrem Leben freute sie sich auf ein Kind. Wenn es nur ein Junge würde! Ein ganzer Kerl, nicht ein so zaghaftes Geschöpf wie Wade. Nun würde sie ja Muße haben, sich ihm zu widmen, und Geld, um seinen Lebensweg zu ebnen. Nun wollte sie glücklich sein! Sie war drauf und dran, Rhett unter der Adresse seiner Mutter in Charleston die Neuigkeit zu schreiben. Jetzt sollte er nach Hause kommen. Schrecklich, wenn er nun bis nach der Geburt des Kindes fortblieb! Wenn sie ihm aber schrieb, dann würde er denken, sie habe Sehnsucht nach ihm, und würde sich darüber lustig machen. Das ging nicht an, dergleichen durfte er niemals denken.

Sie war sehr froh, daß sie ihrem ersten Antrieb nicht gefolgt war, als sie durch einen Brief von Tante Pauline aus Charleston zum erstenmal wieder von Rhett hörte. Er war dort anscheinend bei seiner Mutter zu Besuch. Es war tröstlich, ihn noch in den Vereinigten Staaten zu wissen, wenn auch Tante Paulines Brief sie in Wut brachte. Rhett hatte sie und Tante Eulalie mit Bonnie besucht, und der Brief war des Lobes voll.

»Was für ein süßes Kind! Wenn sie erwachsen ist, wird sie sicher eine richtige Schönheit. Aber wer ihr den Hof macht, bekommt es unweigerlich mit Kapitän Butler zu tun. Einen so liebevollen Vater habe ich noch nicht gesehen. Kind, ich muß Dir ein Geständnis machen. Ich hatte immer das Gefühl, Deine Heirat mit ihm sei ein furchtbarer Mißgriff. In Charleston hörte man ja nicht viel Gutes von ihm und hat das innigste Mitgefühl für seine Familie. Eulalie und ich, wir wußten nicht einmal recht, ob wir ihn überhaupt empfangen sollten, aber schließlich ist die liebe Kleine ja unsere Großnichte. Doch als Kapitän Butler dann zu uns kam, waren wir auf da angenehmste überrascht und sahen ein, wie unchristlich es ist, auf müßigen Klatsch zu hören. Er ist ja einfach charmant. Wir finden ihn auch gut aussehend, und er macht einen gesetzten, ritterlichen Eindruck und hängt so sehr an Dir und dem Kind.

Und nun, meine Liebe, muß ich Dir etwas schreiben, was uns zu 0hren gekommen ist und was Eulalie und ich durchaus nicht glauben wollten. Wir hatten gehört, Du beschäftigtest Dich manchmal in einem Laden, den Mr. Kennedy Dir hinterlassen hat, und haben es natürlich nicht geglaubt. Wir sehen ja ein, daß es sich damals in den schrecklichen Nachkriegsjahren vielleicht nicht ganz vermeiden ließ, jetzt aber liegt doch keinerlei Notwendigkeit dafür mehr vor! Kapitän Butler befindet sich in sehr guten Verhältnissen und ist in der Lage, alles, was Dir an Geschäft und Vermögen gehört, für Dich zu verwalten. Wir mußten dann erfahren, daß das Gerücht der Wahrheit entspricht, und sahen uns gezwungen, Kapitän Butler unumwunden danach zu fragen, was für uns alle äußerst peinlich war.

Gegen seinen Willen brachten wir aus ihm heraus, Du seiest immer den ganzen Morgen im Laden und ließest niemand anders an die Buchführung heran. Auch gestand er ein, Du wärest an einer oder mehreren Sägemühlen beteiligt - wir sind deswegen nicht weiter in ihn gedrungen, es war uns neu und hat uns sehr aufgebracht - und müßtest infolgedessen allein oder in der Begleitung eines Raufboldes ausfahren, von dem Kapitän Butler uns versicherte, er sei ein Mörder. Wir haben ihm angemerkt, wie sehr er es sich zu Herzen nimmt. Er muß ein ungemein nachsichtiger, ja ein viel zu nachsichtiger Ehemann sein. Scarlett, das muß aufhören! Deine Mutter ist nicht mehr am Leben, und deshalb muß ich es Dir untersagen. Was werden Deine Kinder denken, wenn sie groß werden und erfahren, Du habest ein Geschäft gehabt! Wie demütigend für sie, sich sagen zu müssen, Du habest Dich den Roheiten ungebildeter Leute und den Gefahren gewissenlosen Geredes ausgesetzt! Ein so unweibliches ...«

Scarlett las nicht weiter und schleuderte den Brief mit einem Fluch zu Boden. Sie sah Tante Pauline und Tante Eulalie vor sich, wie sie in ihrem baufälligen Hause auf der Schanze über sie zu Gericht saßen. Dabei hatten sie doch außer Scarletts monatlicher Beihilfe kaum noch etwas, was sie vor dem Hunger bewahrte. Unweiblich? Bei Gott, hätte sie sich nicht unweiblich benommen, Tante Pauline und Tante Eulalie hätten heute kein Dach mehr über dem Kopf. Was fiel Rhett ein, ihnen von dem Laden, der Buchführung und den Sägemühlen zu erzählen! Gegen seinen Willen? Sie wußte ganz genau, wie es ihm Spaß machte, sich vor den alten Damen gesetzt, ritterlich und charmant zu geben und sich als treusorgenden Gatten und Vater aufzuspielen. Mit wahrem Hochgenuß mußte er den Armen von ihrem Laden, ihren Sägemühlen, ihrer Kneipe erzählt haben. Er war doch ein Satan. Wie konnte er nur an solchen Bosheiten Vergnügen finden?

Aber bald verlor sich auch dieser Zorn in völlige Gleichgültigkeit. In letzter Zeit hatte das Leben kaum noch etwas Verlockendes und Zündendes mehr für sie. Könnte sie sich doch wieder für Ashley erwärmen, ach, oder käme doch Rhett nach Hause und brächte sie wieder zum Lachen!

0hne Anmeldung waren sie eines Tages wieder da. Ihr erstes Lebenszeichen war das Gepolter, mit dem die Koffer auf den Boden der Halle abgeladen wurden, und Bonnies Stimme, als sie »Mutti!« rief.

Scarlett stürzte aus ihrem Zimmer an die Treppe und sah, wie ihre Tochter die kurzen runden Beine reckte, um die Stufen zu erklimmen - ein gottergebenes gestreiftes Kätzchen fest an die Brust gedrückt.

»Hat Großmama mir geschenkt!« rief sie ihr in großer Aufregung entgegen und packte das Kätzchen beim Genick.

Scarlett nahm sie stürmisch auf den Arm und küßte sie, voller Dankbarkeit, daß des Kindes Gegenwart es ihr ersparte, Rhett unter vier Augen zu begrüßen. Über Bonnies Kopf hinweg sah sie ihn unten in der Halle, wie er den Droschkenkutscher bezahlte. Er blickte herauf, sah sie, zog mit großer Gebärde den Hut und verbeugte sich. Als sie ihm in die dunklen Augen sah, hüpfte ihr das Herz. Einerlei, wie er war, einerlei, was er getan hatte, er war wieder zu Hause, und sie war froh.

»Wo ist Mammy?« fragte Bonnie und sträubte sich in Scarletts Armen. Ungern stellte sie das Kind wieder auf die Füße.

Es war doch nicht so einfach, wie sie sich gedacht hatte, Rhett so obenhin zu begrüßen, wie sie es für richtig hielt. Und nun gar die Neuigkeit von dem Kinde, das sie erwartete!

Sie schaute ihm ins Gesicht, als er die Treppe heraufkam, in das dunkle, gleichgültige, leere, undurchdringliche Gesicht. Nein, sie wollte lieber noch warten. Hier auf der Stelle konnte sie es ihm nicht sagen. Und doch gebührte solche Kunde dem Manne zuerst. Männer freuten sich immer darüber, aber sie glaubte nicht, daß er sich freuen würde.

Sie stand auf dem Treppenabsatz ans Geländer gelehnt, neugierig, ob er sie wohl küssen werde. Er tat es nicht. Er sagte nur: »Sie sehen blaß aus, Mrs. Butler. Ist das Rouge knapp geworden?«

Kein Wort, daß er sie vermißt hatte - er hätte es ja nicht ernst zu meinen brauchen. Wenigstens hätte er ihr doch vor Mammy, die nach einem Knicks Bonnie ins Kinderzimmer geleitete, einen Kuß geben können. Er stand neben ihr auf dem Treppenabsatz und maß sie flüchtig mit den Augen. »Kann etwa deine Blässe bedeuten, du habest mich vermißt?« fragte er.

Seine Lippen lächelten dazu, aber seine Augen nicht.

So also hatte er es mit ihr vor, abscheulich wie nur je. Auf einmal erregte das Kind unter ihrem Herzen ihr Ekel. Die beglückende Last wurde zur beschwerlichen Bürde und der Mann, der da mit dem breitrandigen Panamahut an der Hüfte lässig vor ihr stand, zum bittersten Feinde, zur Ursache aller Kümmernisse. Gift lag in ihrem Blick, und das Lächeln wich aus ihren Zügen, als sie ihm erwiderte:

»Wenn ich blaß bin, so ist es allerdings deine Schuld; aber nicht daher kommt es, daß ich dich vermißt hätte, du eingebildeter Mensch, sondern ...« Ach, so hatte sie es ihm nicht mitteilen wollen, aber die hitzigen Worte quollen ihr auf die Lippen, und sie sprudelte sie hervor, ohne Rücksi cht darauf, daß die Dienstboten es hören konnten: »Ich erwarte ein Kind!«

Er zog ganz plötzlich den Atem ein und sah sie an. Schnell trat er vor, als wollte er ihr die Hand auf den Arm legen, aber sie wich ihm aus, und vor dem Haß in ihren Augen verdunkelte sich sein Gesicht.

»Ach«, sagte er kühl, »wer ist denn der glückliche Vater? Ashley?«

Sie packte den Treppenpfosten so krampfhaft, daß die 0hren des geschnitzten Löwen sich ihr schmerzhaft in die Handflächen bohrten. So gut sie ihn auch kannte, auf diese Beleidigung war sie nicht gefaßt gewesen. Natürlich sagte er es nur im Scherz, aber ein so ungeheuerlicher Scherz war nicht mehr zu ertragen. Sie hätte ihm gern mit den scharfen Nägeln die Augen ausgekratzt und den eigentümlichen Schimmer darin für immer gelöscht.

»Verdammter ...«, fing sie an, ihre Stimme bebte vor hilfloser Wut, »du ... du weißt ganz genau, daß es deins ist. Du willst es nicht? Ich will es auch nicht. Nein, von einem Schuft wie dir will wohl keine Frau ein Kind. Wäre es doch - ach Gott - wäre es doch das Kind des ersten besten, nur nicht deins!«

Auf einmal veränderte sich sein sonnenverbranntes Gesicht, es zuckte auf wie unter einem Stich. War es Zorn? War da nicht noch etwas, was sich ihrem Begreifen entzog? »Da!« dachte sie in rasender Freude, »jetzt habe ich ihm weh getan!«

Schon wieder lag die alte unbewegliche Maske über seinen Zügen. Er strich sich den Bart. »Gib die Hoffnung nicht auf«, sagte er, wendete sich ab und schritt die Treppe hinauf, »vielleicht wird es ja eine Fehlgeburt.«

Verworren schoß es ihr durch den Kopf, was es heißt, ein Kind zu gebären, die qualvolle Übelkeit, das mühselige Warten, der schwellende Leib, die Stunden der Wehen, all das, was kein Mann je begreift. Er aber wagte zu scherzen. Zerkratzen hätte sie ihn mögen. Nur Blut auf seinem dunklen Gesicht konnte ihr die Herzensqual noch stillen. Wie eine Katze sprang sie auf ihn los. Erschrocken trat er einen Schritt beiseite und hob den Arm, um sie abzuwehren. Sie stand auf der Kante der obersten frisch gebohnerten Stufe, als sie mit voller Wucht auf seinen ausgestreckten Arm schlug und das Gleichgewicht verlor. Blindlings faßte sie nach dem Treppenpfosten, griff aber vorbei und fiel rücklings die Treppe hinunter. Als sie aufschlug, spürte sie einen betäubenden Stich zwischen den Rippen, hatte aber nicht mehr die Kraft, sich zu halten, und überschlug sich immer weiter, bis sie ganz unten an der Treppe liegen blieb.

Abgesehen von ihren Wochenbetten, die kaum mitzählten, war Scarlett zum erstenmal in ihrem Leben krank. Damals war ihr durchaus nicht so verlassen und bange zumute gewesen wie jetzt in ihrer fassungslosen Schwäche und ihren schrecklichen Schmerzen. Sie wußte, daß sie kränker war, als man sich getraute ihr zu sagen. Ihr dämmerte matt, daß sie vielleicht sterben müßte. Die gebrochene Rippe stach bei jedem Atemzug, der Kopf tat ihr weh, das zerschundene Gesicht und der ganze Körper schienen bösen Geistern ausgeliefert zu sein, die mit glühenden Zangen zwickten und mit stumpfen Messern zersägten, und in den ku rzen Atempausen, die sie ihr gewährten, war. sie so kraftlos, daß ihr die deutliche Empfindung ihrer selbst erst mit ihren Peinigern wiederkam. Nein, dies war etwas ganz anderes als das Wochenbett. Zwei Stunden nach Wades, Ellas und Bonnies Geburt hatte sie doch wieder tüchtig essen können, aber jetzt wurde ihr schon bei dem Gedanken an etwas anderes als kaltes Wasser übel und schwach.

Wie leicht war es, ein Kind zu bekommen - aber es nicht zu bekommen, wie schwer! Seltsam, wie es sie in all ihren Schmerzen immer durchfuhr, daß dieses Kind nun nicht zur Welt kommen sollte. Seltsam noch, daß es das erste Kind war, auf das sie sich wirklich gefreut hatte. Sie suchte darüber nachzudenken, aber ihr Kopf war zu müde. In ihm hatte nur eins Raum: die Angst vor dem Tode. Der Tod war in ihrem Zimmer, und sie hatte nicht die Kraft, ihm die Stirn zu bieten. Sie hatte Angst. Sie brauchte jemand Starkes, der ihr beistand, der ihr die Hand hielt und den Tod abwehrte, bis sie wieder kräftig genug war, ihren Kampf selber zu kämpfen.

Ihre Wut war in den Schmerzen untergegangen, und sie verlangte nach Rhett. Aber er war nicht da. Sie konnte es nicht über sich gewinnen, ihn kommenzu lassen.

Ihre letzte Erinnerung an ihn war sein Gesicht in dem Augenblick, da er sie unten an der Treppe im dunklen Flur aufhob, ein bleiches Gesicht, in dem die furchtbare Angst alles andere ausgelöscht hatte. Dabei hatte er mit heiserer Stimme nach Mammy gerufen. Sie entsann sich dunkel, daß sie hinauf getragen wurde; was dann geschehen war, wußte sie nicht mehr. Seitdem gab es nur Schmerzen und immer wieder Schmerzen, flüsternde Stimmen im Zimmer, Tante Pittys Schluchzen, Dr. Meades barsche Anweisungen, eilige Schritte auf der Treppe, die dann über den Flur geschlichen kamen, und zuletzt wie ein blendender Blitzstrahl die Erkenntnis der Todesnähe, die Angst, aus der sie plötzlich laut, laut einen Namen rufen wollte. Aber aus dem Schrei wurde nur ein Flüstern.

Doch auf das hilflose Flüstern kam sofort Antwort irgendwoher aus der Dunkelheit neben dem Bett, und die leise Stimme, nach der sie verlangt hatte, wiegte sie gleichsam ein.

»Hier bin ich, Liebes. Ich bin doch die ganze Zeit bei dir.«

Angst und Tod wichen leise zurück, als Melanie ihre Hand nahm und sie sich sanft an die kühle Wange legte. Scarlett versuchte sich umzudrehen und ihr Gesicht zu sehen, aber sie konnte es nicht. Melly sollte ein Kind bekommen, die Yankees kamen. Die Stadt war ein Flammenmeer, sie mußten fliehen. Aber Mellys Kind kam, sie konnte nicht fort, sie mußte dableiben, bis das Kind da war, und stark sein, weil Melly ihre Kraft brauchte. Melly hatte solche Schmerzen. Glühende Zangen zwickten sie, Messer folterten sie, sie mußte Mellys Hand halten.

Aber Dr. Meade war doch gekommen, obwohl ihn die Soldaten auf dem Bahnhof so nötig brauchten. Er sagte: »Sie phantasiert. Wo ist Kapitän Butler?«

Die Nacht war dunkel und dann wieder hell. Manchmal lag sie selbst in Wehen, manchmal war es Melanie, die schrie, aber die ganze Zeit war Melly bei ihr, ihre Hände waren kühl, sie schluchzte nicht und fuchtelte nicht sinnlos umher wie Tante Pitty. Sobald Scarlett die Augen aufschlug, sagte sie: »Melly?«, und die Stimme antwortete. Gewöhnlich begann sie dann zu flüstern: »Rhett ... Rhett soll kommen.« Aber dann erinnerte sie sich wie aus einemTraum, daß er nichts von ihr wissen wollte.

Rhetts Gesicht war dunkel wie das eines Indianers und bleckte höhnisch die weißen Zähne. Sie verlangte nach ihm, aber er wollte sie nicht.

Einmal sagte sie wieder: »Melly«, und Mammys Stimme antwortete: »Ich bin es bloß, Kind«, und man legte ihr ein kaltes Tuch auf die Stirn. Sie aber jammerte: »Melly, Melly!«, immer wieder. Doch eine ganze Weile kam Melanie nicht, denn Melanie saß auf Rhetts Bertkante, er aber lag schluchzend und betrunken am Boden mit dem Kopf in ihrem Schoß.

Immer, wenn Melanie aus Scarletts Zimmer gekommen war, hatte sie ihn bei weit offener Tür auf seinem Bett sitzen und quer über den Flur die Tür des Krankenzimmers anstarren sehen. Das Zimmer war unaufgeräumt, voller Zigarrenstummel und unangerührter Speisen. Das Bett war zerwühlt, er saß darauf, unrasiert und plötzlich ganz hager, und rauchte ohne Unterlaß. Er stellte nie eine Frage, wenn er sie sah. Jedesmal blieb sie ein Weilchen in der Tür stehen und gab ihm Nac hricht: »Es tut mit leid, heute geht es weniger gut«, oder: »Nein, sie hat noch nicht nach Ihnen gefragt, sie phantasiert ja noch«, oder: »Sie müssen nicht die Hoffnung aufgeben. Ich mache Ihnen heißen Kaffee und bringe Ihnen etwas zu essen. Sie machen sich noch selber krank.«

Das Herz krampfte sich ihr vor Mitleid zusammen, obwohl sie fast zu müde war, um überhaupt noch etwas zu empfinden. Wie konnten nur die Leute immer schlecht über ihn reden und ihm nachsagen, er sei herzlos und böse und halte Scarlett die Treue nicht, wo er doch hier vor ihren Augen abmagerte und die Qual ihm auf dem Gesicht geschrieben stand? Trotz ihrer Müdigkeit versuchte sie, noch freundlicher zu sein als sonst, wenn sie ihm aus dem Krankenzimmer berichtete. Er sah aus wie eine verdammte Seele, die ihr Urteil erwartet, wie ein Kind in einer plötzlich feindlich gewordenen Welt. Vor Melly freilich wurde mancher zum Kind.

Als sie aber schließlich voller Freude an seine Tür kam, um ihm zu sagen, es ginge Scarlett besser, sah sie etwas, worauf sie nicht gefaßt wa r. Auf dem Nachttisch stand eine halbleere Whiskyflasche, und das Zimmer war von Schnapsgeruch erfüllt. Er sah mit verglasten Augen zu ihr empor, seine Kiefer bebten trotz seiner Anstrengung, die Zähne zusammenzubeißen.

»Sie ist tot?«

»0 nein, es geht ihr viel besser.«

Er sagte: »Ach mein Gott«, und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Sie sah seine breiten Schultern schaudern und beben, während sie ihn mitleidig betrachtete, und als sie sah, daß er weinte, verwandelte sich ihr Erbarmen in Entsetzen. Melanie hatte noch nie einen Mann weinen sehen, und nun weinte dieser überlegene, spöttische Rhett, der in jedem Augenblick Herr seiner selbst war!

Sein verzweifeltes, ersticktes Schluchzen ängstigte sie. Ihr kam der entsetzliche Gedanke, er sei am Ende betrunken. Vor Trunkenheit hatte Melanie Angst. Als er den Kopf hob und sie seine Augen erblickte, kam sie eilig herein, zog leise die Tür hinter sich zu und trat zu ihm. Einen Mann hatte sie noch nie weinen sehen, aber sie hatte schon viele Kindertränen getrocknet. Als sie ihm die weiche Hand auf die Schulter legte, schlangen sich seine Arme plötzlich um ihre Röcke. Ehe sie sich's versah, saß sie auf seinem Bett, er aber lag auf dem Boden, mit dem Kopf in ihrem Schoß, und hielt sie mit Armen und Händen krampfhaft umklammert, bis es ihr weh tat.

Sie streichelte ihm sanft den schwarzen Kopf und sagte beschwichtigend: »Still, still! Sie wird ja wieder gesund.«

Bei ihren Worten griff er noch fester zu und begann zu sprechen, rasch, heiser, stammelnd, wie zu einem Grabe, das sein Geheimnis bewahrt. Zum erstenmal in seinem Leben brach alles aus ihm hervor, und ohne Erbarmen entblößte er vor Melanie sein ganzes Herz. Verständnislos, aber ganz mütterlich hörte sie ihm zu. Er sprach in abgerissenen Sätzen, den Kopf in ihrem Schoß, und zerrte an den Falten ihres Rockes. Zuweilen kamen die Worte verschwommen und gedämpft, dann aber viel zu deutlich an ihr 0hr, harte bittere Worte, Bekenntnisse, Selbsterniedrigungen, Dinge, die sie nicht einmal unter Frauen hatte nennen hören, Geheimnisse, die ihr die Scham heiß in die Wangen trieben, wobei sie nur dankbar war, daß er sie nicht sehen konnte.

Sie streichelte ihm den Kopf, als wäre es der kleine Beau, und sagte: »Still, Kapitän Butler, das dürfen Sie mir nicht erzählen! Sie sind ja ganz außer sich. Still!« Aber der wilde Wortschwall ergoß sich weiter, und er klammerte sich an ihr Kleid, als sei es seine letzte Hoffnung.

Er legte sich Taten zur Last, von denen sie nichts verstand, undeutlich vernahm sie dazwischen den Namen Belle Watlings; dann wieder schüttelte er sie gewaltsam und schrie: »Ich habe Scarlett umgebracht, ich habe sie getötet! Das verstehen Sie nicht. Sie wollte das Kind nicht ...«

»Nun schweigen Sie aber! Sie wissen nicht, was Sie sagen! Ein Kind nicht wollen? Jede Frau will doch ...«

»Nein, nein! Sie wollen Kinder haben, aber Scarlett nicht, nicht von mir ...«

»Seien Sie still.«

»Sie verstehen das nicht. Sie wollte kein Kind, und ich habe dies ... dies Kind ... alles ist meine Schuld! Wir hatten nicht miteinander geschlafen ...«

»Seht, Kapitän Butler! Das schickt sich doch nicht.«

»Ich war betrunken und von Sinnen und wollte ihr weh tun, weil sie mir weh getan hatte, ich wollte ... und tat es auch ... aber sie wollte mich nicht. Sie hat mich nie gewollt, und ich habe doch versucht ... ich habe mir solche Mühe gegeben, um ...«

»Ach bitte!«

»Ach, ich wußte von diesem Kinde gar nichts, bis neulich, als sie fiel. Sie wußte nicht, wo ich war, und konnte es mir nicht schreiben ... Sie hätte es mir auch nicht geschrieben, wenn sie es gewußt hätte. Ich sage Ihnen, ich wäre geradewegs nach Hause gekommen, hätte ich nur gewußt, ob sie mich zu Hause haben wollte oder nicht ...«

»Ja, ja, ich weiß, Sie wären gekommen!«

»Mein Gott, ich bin wahnsinnig gewesen, all die Wochen wah nsinnig und betrunken, und als sie es mir sagte, dort auf der Treppe ... was habe ich getan? Was habe ich gesagt? Gelacht habe ich: >Gib die Hoffnung nicht auf, vielleicht wird es eine Fehlgeburt< habe ich gesagt, und sie ...«

Plötzlich verfärbte sich Melanie, und ihre Augen wurden ganz groß vor Grauen, als sie auf den gequälten schwarzen Kopf in ihrem Schoß herniederblickte. Die Nachmittagssonne schien zum offenen Fenster herein, und plötzlich gewahrte sie wie zum erstenmal seine großen braunen Hände mit den dichten schwarzen Haaren darauf. Unwillkürlich schreckte sie davor zurück, so raubgierig und grausam sahen sie aus, und doch so gebrochen und hilflos, wie sie da ihren Rock umklammerten. War es denn möglich, daß er die schändlichen Lügen über Scarlett und Ashley geglaubt hatte und eifersüchtig geworden war? Freilich, er hatte ja die Stadt unmittelbar nach dem Ausbruch des Skandals verlassen. Aber nein, das konnte nicht sein. Er ging doch oft so plötzlich auf Reisen. Den Klatsch konnte er nicht geglaubt haben. Dazu war er zu klug, und hätte ihm das ans Herz gegriffen, so hätte er gewiß versucht, Ashley zu erschießen; wenigstens aber hätte er Aufklärung verlangt.

Nein, das konnte es nicht sein. Es kam wohl nur daher, daß er betrunken und vor Kummer krank war und seine Gedanken wie in Fieberphantasien mit ihm durchgingen. Solche Anspannungen konnten Männer nicht so gut ausholten wie Frauen. Etwas hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Vielleicht hatte er mit Scarlett eine kleine Meinungsverschiedenheit ge habt, die er nun vergrößerte. Vielleicht war einiges von dem Fürchterlichen, das er erzählte, sogar wahr, aber alles konnte nicht wahr sein - das letzte sicherlich nicht! Das konnte kein Mann zu einer Frau sagen, die er so leidenschaftlich liebte, wie dieser Mann hier Scarlett liebte. Melanie hatte nie das Böse und Grausame gesehen; nun sah sie es zum erstenmal, und es war ihr so unbegreiflich, daß sie es nicht glauben konnte. Er war betrunken und krank, und mit kranken Kindern mußte man Nachsicht haben .

»So, so«, summte sie. »Ganz still, ich verstehe schon.«

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Heftig hob er den Kopf, blickte sie aus seinen blutunterlaufenen Augen an und schleuderte gewaltsam ihre Hände weg.

»Nein, beim Himmel, Sie verstehen mich nicht! Das können Sie nicht verstehen! Um das zu verstehen, sind Sie zu gut. Sie glauben mir nicht ... aber es ist alles wahr. Ich bin ein Schwein. Wissen Sie auch, warum ich es getan habe? Aus Wut. Ich war verrückt vor Eifersucht. Sie hat sich nie etwas aus mir gemacht, und ich dachte, ich könnte sie dazu zwingen. Ich war ihr immer gleichgültig. Sie liebt mich nicht. Sie hat mich nie geliebt. Sie liebt ...«

Sein leidenschaftlicher, trunkener Blick begegnete ihren Augen, und mit offenem Mund hielt er inne, als begriffe er erst jetzt, mit wem er sprach. Ihr Gesicht war bleich und abgespannt, aber ihre Augen waren ruhig und lieb, voller Mitleid, ganz und gar ungläubig. Eine leuchtende Klarheit lag darin, und die Unschuld aus ihrer sanften braunen Tiefe traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, so daß sich der Alkohol in seinem Hirn verflüchtigte und er mitten in seinem tollen, rasenden Wortschwall innehielt. Es verklang im Gemurmel, er senkte die Augen und rang nach Fassung.

»Ich bin ein Schwein«, stammelte er und ließ den Kopf müde in ihren Schoß zurücksinken, »aber ein solches Schwein bin ich doch nicht, und wenn ich es Ihnen sagte, Sie glaubten es mir ja doch nicht, nicht wahr? Sie sind zu gut, um es mir zu glauben. Ich habe noch nie jemand gekannt, der wirklich gut war. Sie würden es mir nicht glauben, nicht wahr?«

»Nein, ich würde es Ihnen nicht glauben«, sagte Melanie beruhigend und begann wieder, sein Haar zu streicheln. »Sie wird wieder gesund. Nein, Kapitän Butler, nicht weinen! Sie wird ja wieder gesund.«

57

Einen Monat später setzte Rhett eine blasse, magere Frau in den Zug nach Jonesboro. Wade und Ella, die mitreisen sollten, waren schweigsam. Das stille weiße Gesicht der Mutter war ihnen nicht geheuer. Sie drängten sich an Prissy; sogar für ihr Kindergemüt hatte die unpersönliche Kühle zwischen der Mutter und dem Stiefvater etwas Beklemmendes.

0bwohl Scarlett noch sehr schwach war, fuhr sie doch nach Tara heim. Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn sie noch einen Tag länger in Atlanta bliebe und ihr müder Geist immer erneut die tief ausgefahrenen Geleise nutzloser Gedanken durchliefe, um über die verzweifelte Lage nachzudenken, in der sie sich befand. Sie war krank an Leib und Seele und stand wie ein verlassenes Kind in einem düsteren Traumland, wo kein vertrautes Wahrzeichen ihr mehr den Weg wies.

Wie sie einst vor einer feindlichen Armee aus Atlanta geflohen, so floh sie auch jetzt wieder und drängte ihren Kummer zurück und verschanzte sich hinter ihrem gewohnten: »Ich will jetzt nicht daran denken, denn ich halte es nicht aus. Morgen denke ich darüber nach, morgen ist auch ein Tag.« Ihr war, als müsse all ihr Kummer von ihr abfallen, wenn sie nun in die Stille der grünen Baumwollfelder heimkehrte, und als könne sie erst dann aus ihren zerrütteten Gedanken wieder etwas formen, wovon sie leben durfte.

Rhett blickte dem Zug nach, bis er außer Sicht war. In seinem Gesicht lag eine grüblerische Bitterkeit, die furchtbar anzusehen war. Er seufzte auf, schickte den Wagen weg, bestieg sein Pferd und ritt die Efeustraße hinunter zu Melanie.

Es war ein warmer Morgen, und Melanie saß auf ihrer weinumrankten Veranda vor ihrem Stopfkorb, in dem die Socken sich türmten. Sie war verwirrt und bestürzt, als sie Rhett vom Pferde steigen und die Zügel über den Arm der gußeisernen Sklavenfigur werfen sah, die an der Straßenecke stand. Seit dem schrecklichen Tage, da Scarlett so krank und er so fassungslos und betrunken gewesen war, hatte sie ihn nicht wieder unter vier Augen gesehen. Betrunken! Melanie dachte nicht gern daran. Während Scarletts Genesungszeit hatte sie nur flüchtig mit ihm gesprochen und dabei Mühe gehabt, ihm ins Auge zu sehen. Er war liebenswürdig wie immer gewesen und hatte sich nie durch ein Wort oder einen Blick das Erschütternde anmerken lassen, das zwischen ihnen vorgegangen war. Ashley hatte ihr einmal erzählt, Männer erinnerten sich oft nicht daran, was sie im Rausch gesagt und getan hätten. Melanie betete inbrünstig, Kapitän Butler möge sein Gedächtnis in dieser Hinsicht im Stich lassen. Das Blut stieg ihr in die Wangen, als er den Gartenweg heraufkam. Vielleicht wollte er nur fragen, ob Beau heute Bonnie besuchen könne. So geschmacklos konnte er doch nicht sein, ihr für ihren damaligen Beistand zu danken!

Sie stand auf und ging ihm entgegen. Wie immer fiel ihr auf, wie leicht sein Gang im Verhältnis zu seinem Körper war.

»Ist Scarlett abgereist?«

»Ja, Tara wird ihr guttun«, versetzte er lächelnd. »Manchmal meine ich, sie gliche dem Riesen Antäus, der jedesmal stärker wurde, wenn er die Muttererde berührte. Es bekommt Scarlett nicht gut, wenn sie von dem Flecken roter Erde, den sie liebhat, zu lange fernbleibt. Der Anblick der wachsenden Baumwolle wird ihr besser helfen als Dr. Meades sämtliche Medikamente.«

»Wollen Sie sich nicht setzen?« fragte Melanie, und ihre Hände zitterten.

Er war so sehr groß und männlich, und das Männliche brachte sie immer aus der Fassung. Es ging eine Macht und eine Lebenskraft davon aus, neben der sie sich noch kleiner und schwächer fühlte, als sie war. So sonnverbrannt und gewaltig sah er aus, die starken Muskeln seiner Schultern spannten das weiße Leinenzeug und flößten ihr Angst ein. Es kam ihr ganz unmöglich vor, so viel Kraft und Verwegenheit je zu ihren Füßen gesehen und den schwarzen Kopf auf ihrem Schoß gehalten zu haben.

»Miß Melly«, begann er sanft, »soll ich lieber fortgehen? Sagen Sie es mir bitte ganz offen.«

»Ach Gott«, dachte sie bei sich, »er weiß es noch, und er weiß auch, wie unruhig ich bin.«

Flehend blickte sie zu ihm auf, aber plötzlich schwand ihre Befangenheit und Verwirrung. Seine Augen blickten so ruhig, freundlich und verständnisvoll, daß sie gar nicht begriff, wie sie so töricht hatte sein können, sich aufzuregen. Sein Gesicht sah müde und sehr, sehr traurig aus. Wie hatte sie ihm nur die Ungezogenheit zutrauen können, davon anzufangen, was sie beide lieber vergaßen!

»Armer Kerl, er macht sich so viel Sorge um Scarlett«, dachte sie, brachte ein Lächeln zustande und sagte: »Nehmen Sie doch bitte Platz, Kapitän Butler.«

Schwer ließ er sich auf den Stuhl fallen und sah ihr zu, wie sie ihre Stopf arbeit wieder zur Hand nahm.

»Miß Melly, ich möchte Sie um einen sehr großen Gefallen bitten.« Er lächelte und sein Mund verzog sich. »Ich rechne auf Ihre Hilfe bei einem Betrug, vor dem Sie sich doch sicher scheuen.«

»Einem Betrug?«

»Ja, ich möchte etwas Geschäftliches mit Ihnen besprechen.«

»0 je! Da sollten Sie sich aber lieber an Mr. Wilkes wenden. In geschäftlichen Sachen bin ich eine Gans. Ich bin nicht so tüchtig wie Scarlett.«

»Scarlett, fürchte ich, ist tüchtiger, als ihr gut ist«, erwiderte er, »und gerade davon wollte ich mit Ihnen sprechen. Sie wissen, wie krank sie gewesen ist. Wenn sie von Tara zurückkommt, stürzt sie sich natürlich mit Feuereifer wieder auf den Laden und die Mühlen, denen ich von Herzen wünsche, sie möchten eines Tages in die Luft fliegen. Ich fürchte für Scarletts Gesundheit, Miß Melly.«

»Ja, sie tut viel zuviel. Sie müssen sie zurückhalten und dafür sorgen, daß sie sich schont.«

Er lachte.

»Sie wissen doch, wie eigensinnig sie ist. Niemals versuche ich, sie zu etwas zu überreden. Sie will sich nicht helfen lassen, von mir nicht und von niemandem. Ich habe versucht, sie dazu zu bewegen, ihren Anteil an den Mühlen zu verkaufen, aber sie will nicht. Und nun, Miß Melly, kommt das Geschäftliche. Ich weiß, daß Scarlett den Rest ihres Anteils an den Mühlen gern an Mr. Wilkes verkaufen würde, aber an keinen andern, und ich möchte, daß Mr. Wilkes ihn kauft.«

»Du liebe Zeit, das wäre wunderhübsch, aber ...« Melanie brach ab und biß sich auf die Lippen. Sie konnte mit einem Außenstehenden nicht über Geldsachen sprechen. Trotz Ashleys Verdienst bei der Mühle hatten sie nie recht genug. Sie machte sich schon Sorge darüber, daß sie so wenig zurücklegte.

Sie wußte nicht, wo das Geld blieb. Ashley gab ihr genug für den Haushalt, aber wenn Extraausgaben notwendig wurden, waren sie oft knapp dran. Ihre Arztrechnungen waren hoch, und teuer waren die Bücher und die Möbel, die Ashley in New York bestellte. Außerdem gab es immer eine Anzahl Landstreicher, die sie im Keller schlafen ließ, beköstigte und bekleidete. Auch mochte Ashley keinem, der in der konföderierten Armee gedient hatte, je ein Darlehen abschlagen.

»Miß Melly, ich möchte Ihnen das Geld leihen«, sagte Rhett.

»Das ist reizend von Ihnen, aber wir können es vielleicht nie zurückzahlen.«

»Ich will es auch nicht zurückgezahlt haben. Bitte, seien Sie nicht böse, Miß Melly, hören Sie mich zu Ende an. Wenn Scarlett damit aufhört, täglich meilenweit zu den Mühlen zu fahren und sich dabei aufzureiben, so ist mir das Vergütung genug. Der Laden reicht aus, sie zu beschäftigen, verstehen Sie mich nicht?«

»Nun ja ...«, sagte Melanie unsicher.

»Sie möchten doch ein Pony für Ihren Jungen haben, nicht wahr? Er soll doch auf die Universität nach Harvard und auf eine Europare ise?«

»0 freilich!« Melanie strahlte, wie immer, wenn von Beau die Rede war. »Amliebsten soll er alles haben ... Ach, man ist heutzutage so arm ...«

»Mr. Wilkes könnte eines Tages einen Haufen Geld mit den Mühlen verdienen«, sagte Rhett. »Es würde mich freuen, wenn Beau alles Schöne bekäme, was er verdient.«

»Kapitän Butler, Sie sind ein Schlauberger«, lächelte Melanie. »Sie packen mich bei meinem Mutterstolz, ich lese in Ihnen wie in einem offenen Buch.«

»Das will ich nicht hoffen«, erwiderte Rhett, und zum erstenmal war wieder der alte Schimmer in seinen Augen zu sehen. »Darf ich Ihnen also das Geld leihen?«

»Wo aber fängt der Betrug an?«

»Wir müssen eine Verschwörung aushecken, um sowohl Scarlett wie Mr. Wilkes hinters Licht zu führen.«

»Ach nein, das möchte ich nicht!«

»Wenn Scarlett wüßte, daß ich hinter ihrem Rücken etwas einfädele, selbst wenn es zu ihrem Besten geschieht - nun, Sie wissen ja, wie leicht sie in Hitze gerät -, und Mr. Wilkes, fürchte ich, lehnt jedes Darlehen, das ich ihm anbiete, ab. Deshalb dürfen sie beide nicht wissen, woher das Geld kommt.«

»Ach, Mr. Wilkes sagt sicher nicht nein, wenn er weiß, um was es sich handelt. Er hält doch soviel von Scarlett.«

»Ja, das tut er freilich«, sagte Rhett glattzüngig. »Aber trotzdem wird er ablehnen. Sie wissen, wie stolz die Wilkes sind.«

Melly war ganz unglücklich. »Im Ernst, Kapitän Butler, meinen Mann könnte ich nicht betrügen.«

»Nicht einmal, um Scarlett zu helfen?« Rhett machte ein sehr enttäuschtes Gesicht. »Sie hat Sie doch so lieb.«

In Melanies Wimpern schimmerten Tränen.

»Sie wissen ja, ich täte alles auf der Welt für sie. Nie und nimmer kann ich ihr auch nur zum Teil vergelten, was sie für mich getan hat.«

»Ja«, sagte er kurz, »ich weiß, was sie für Sie getan hat. Könnten Sie nicht sagen, das Geld sei ein Vermächtnis von einem Verwandten?«

»Ach, Kapitän Butler, meine Verwandten haben samt und sonders keinen roten Heller.«

»Wenn ich nun also Mr. Wilkes das Geld mit der Post schicke, ohne den Absender anzugeben, könnten Sie wohl dafür sorgen, daß die Mühlen davon gekauft werden und daß es nicht an verarmte Konföderierte verschenkt wird?«

Zunächst machte sie bei diesen Worten ein etwas gekränktes Gesicht, als wäre in ihnen etwas Abfälliges über Ashley enthalten gewesen, aber Rhett lächelte so verständnisvoll, daß sie sein Lächeln erwiderte.

»Darauf können Sie sich verlassen.«

»Also abgemacht? Und es wird unser Geheimnis bleiben?«

»Aber ich habe doch nie etwas vor meinem Mann geheimgehalten.« »Davon bin ich überzeugt, Miß Melly.«

Als sie ihn ansah, fand sie, daß sie ihn doch immer richtig beurteilt hatte, während viele andere Leute ihm bitter Unrecht taten. Es hieß, er sei roh, höhnisch, ungezogen, ja unehrlich. Freilich gaben jetzt viele aus den besten Familien zu, daß er ein prachtvoller Mensch war. Sie hatte von ihm immer nur Güte, Rücksicht, tiefste Ehrerbietung und viel, viel Verständnis erfahren. Und wie er Scarlett liebte! Wie schön es von ihm war, seiner Frau auf diesem Umweg etwas von der Last, die sie trug, abnehmen zu wollen!

Das Herz trat ihr auf die Zunge. »Welch ein Glück Scarlett mit einem Manne hat, der so gut zu ihr ist!«

»Meinen Sie? Ich fürchte, Scarlett ist anderer Meinung. Vor allem aber möchte ich auch gegen Sie gut sein, Miß Melly, Ihnen würde ich mehr damit geben als Sca rlett.«

»Mir?« fragte sie höchst erstaunt. »Ach, Sie meinen Beau!«

Er nahm seinen Hut und stand auf. Einen Augenblick schaute er herab auf das unscheinbare, herzförmige Gesichtchen mit dem spitz zulaufenden Haaransatz, der einer Witwenhaube glich, und den ernsten dunklen Augen, auf dieses ganz unweltliche, dem Leben schutzlos preisgegebene Gesicht.

»Nein, nicht Beau. Ich möchte Ihnen etwas geben, was noch mehr ist als Beau, wenn Sie sich das überhaupt vorstellen können.«

»Nein, das kann ich nicht«, erwiderte sie verwirrt. »Nichts auf der Welt ist mir soviel wert wie Beau, bis auf Ash ... auf Mr. Wilkes.«

Rhett sagte nichts und blickte auf sie hernieder. Sein dunkles Gesicht war ganz ruhig.

»Es ist furchtbar lieb von Ihnen, daß Sie etwas für mich tun wollen, Kapitän Butler, aber ich habe doch schon so viel Glück. Ich habe alles, was eine Frau sich überhaupt wünschen kann.«

»Das ist schön«, sagte Rhett in plötzlich sehr ernstem Ton. »Ich will dafür sorgen, daß Sie es auch behalten.«

Als Scarlett aus Tara zurückkam, war die ungesunde Blässe aus ihrem Gesicht verschwunden, ihre Wangen waren wieder runder geworden und schimmerten rosig. Ihre grünen Augen funkelten in alter Lebendigkeit. Zum erstenmal seit Wochen lachte sie laut auf, als Rhett und Bonnie sie, Wade und Ella am Bahnhof abholten - vor Vergnügen und vor Ärger. Rhett trug zwei schwankende Truthahnfedern am Hut, Bonnie hatte ihr schrecklich zerrissenes Sonntagskleid an, über ihre Bäckchen liefen lauter indigoblaue Streifen, und in den Locken stak ihr eine Pfauenfeder, die halb so lang war sie sie selbst. 0ffenbar hatten die beiden gerade Indianer gespielt, als es Zeit wurde, an den Zug zu gehen, und aus Rhetts hilflos lustigem Gesicht und Mammys grollendem Mißmut war klar zu ersehen, daß Bonnie nicht einmal, um ihre Mutter abzuholen, sich ordentlich hatte anziehen lassen wollen.

Scarlett sagte: »0h, ihr schrecklichen Strolche!«, gab dem Kind einen Kuß und bot Rhett die Wange. Der Bahnhof war überfüllt, sonst hätte sie diese Liebesbezeigung nicht gefordert. Trotz ihrer Verlegenheit über Bonnies Aussehen entging ihr nicht, wie alle Leute über Vater und Tochter lächelten, nicht abfällig, sondern belustigt und von Herzen freundlich. Jedermann wußte, daß Scarletts Jüngste den Vater unter dem Pantoffel hatte, und Atlanta hatte seinen Spaß und seine helle Freude daran. Rhetts große Liebe zu dem Kinde hatte viel dazu beigetragen, seinen Ruf in der Meinungder Leute wiederherzustellen.

Auf dem Weg nach Hause war Scarlett noch ganz erfüllt von den Neuigkeiten aus der Provinz. Bei dem heißen, trockenen Wetter höre man schier die Baumwolle wachsen, so schnell gehe es, aber Will meine, die Baumwollpreise würden zum Herbst sinken. Suellen erwarte wieder ein Kind - Scarlett buchstabierte dies, damit die Kleinen es nicht verständen - , und Ella habe sich erstaunlich temperamentvoll gezeigt und Suellens älteste Tochter gebissen - was die kleine Susie auch verdient habe, fügte Scarlett hinzu, denn sie sei das Abbild ihrer Mutter. Aber Suellen sei wütend geworden, und sie hätten sich herzerquickend miteinander gezankt, genau wie in alter Zeit. Wade habe ganz allein einen Fischotter zur Strecke gebracht Randa und Camilla Tarleton unterrichteten in der Schule - ein Witz, was? Kein Tarleton habe noch je das Wort »Katze« buchstabieren können! Betsy Tarleton habe einen dicken einarmigen Mann aus Lovejoy geheiratet, und das Ehepaar ziehe mit Hetty und Jim Tarleton gute Baumwolle auf Fairhill. Mrs. Tarleton besitze wieder eine Mutterstute und ein Fohlen und sei so glücklich, als wären es eine Million Dollar. In dem alten Calvertschen Hause wohnten jetzt Sklaven! Ein ganzer Schwarm, und das Haus gehöre ihnen wirklich. Sie hätten es in der öffentlichen Versteigerung gekauft

Alles sei dort verfallen, es sei ein Jammer. Wo Cathleen und ihr nichtsnutziger Mann geblieben seien, wisse niemand. Alex heirate Sally, die Witwe seines Bruders - eine sonderbare Vorstellung, nachdem sie jahrelang in demselben Hause gewohnt hätten. Es heiße allgemein, es sei eine Vernunftehe. Die Leute fingen an, sich darüber aufzuhalten, daß sie nach dem Tode der alten wie der jungen Miß dort ganz allein hausten. Dimity Munroe habe es fast das Herz gebrochen, aber es geschehe ihr ganz recht. Hätte sie nur einen Funken Energie in sich gehabt, sie hätte sich längst einen anderen Mann gekapert, anstatt zu warten, bis Alex genug Geld hätte, umsie zu heiraten.

So schwatzte Scarlett lustig weiter. Aber es gab manches in der Provinz, was sie verschwieg, manches, woran man nur mit Schmerzen denken konnte. Sie war mit Will über Land gefahren und hatte versucht zu vergessen, daß einst all die Tausende von Morgen fruchtbaren Landes voll grüner Baumwolle gestanden hatten. Jetzt wurde eine Plantage nach der anderen wieder zum Urwald, trübselig wucherten Gräser, Zwergeichen und verkümmerte Kiefern um schweigende Trümmer und auf den früheren Äckern und breiteten sich unmerklich immer weiter aus. Wo früher hundert Morgen unter den Pflug kamen, wurde jetzt nur noch einer bebaut. Es war wie eine Fahrt durch ein gestorbenes Land.

»Dieses Gebiet kommt in fünfzig Jahren nicht wieder in Kultur - wenn überhaupt je«, hatte Will gesagt. »Tara ist die beste Farm in der Provinz, dank dir, Scarlett, und mir. Aber es ist eine Farm für zwei Maultiere und keine Plantage mehr. Nach Tara kommt der Fontainesche Besitz und dann Tarletons. Viel Geld verdienen sie nicht, aber sie halten sich und haben Mut. Die meisten anderen Leute und die anderen Plantagen hingegen ...«

Nein, Scarlett erinnerte sich ungern an die verödete Provinz. Und jetzt kam sie ihr neben dem betriebsamen und aufblühenden Atlanta noch trostloser vor.

»Ist hier etwas vorgefallen?« fragte sie, als sie endlich zu Hause waren und auf der vorderen Veranda saßen. Während des ganzen Heimwegs hatte sie rasch und ohne Unterlaß aus Angst vor einer Gesprächspause geredet. Seit dem Tage, da sie die Treppe heruntergefallen war, hatte sie mit Rhett kein Wort unter vier Augen gesprochen und verlangte auch nicht sonderlich danach. Sie wußte nicht, wie er innerlich zu ihr stand. Während ihrer traurigen Genesungszeit war er die Freundlichkeit selber gewesen, doch auf eine ganz unpersönliche Art, wie ein Fremder. Er war all ihren Wünschen zuvorgekommen, hatte dafür gesorgt, daß die Kinder ihr nicht lästig fielen, und sich um Laden und Mühlen gekümmert. Aber nicht ein einziges Mal hatte er gesagt: »Es tut mir leid.« Vielleicht tat es ihm auch wirklich nicht leid. Vielleicht glaubte er immer noch, das nie geborene Kind sei nicht seins. Woher sollte sie wissen, was hinter diesem liebenswürdigen dunklen Gesicht vorging? Aber zum erstenmal in ihrer Ehe hatte er Anwandlungen von Ritterlichkeit gehabt und den Wunsch durchblicken lassen, das Leben möge seinen Gang weitergehen, als sei nie etwas Unerfreuliches zwischen ihnen geschehen und als hätten sie, meinte Scarlett verzagt, überhaupt nie etwas miteinander zu schaffen gehabt. Nun, wenn er es so wollte, auch diese Rolle vermochte sie zu spielen.

»Alles in 0rdnung?« wiederholte sie. »Sind die neuen Schindeln für den Laden da? Bist du die Maultiere auf gute Art losgeworden? Um Himmels willen, Rhett, nimm die Federn vom Hut, du siehst ganz närrisch damit aus und gehst womöglich noch damit in die Stadt, weil du nicht daran denkst, sie herunterzunehmen.«

»Nein«, rief Bonnie und griff abwehrend nach dem Hut ihres Vaters.

»Hier ist alles in schönster 0rdnung«, antwortete Rhett. »Bonnie und ich haben uns gut miteinander vertragen. Ihr Haar ist wohl kaum gekämmt worden, seitdem du fort bist. Nicht an den Federn lutschen, Liebling, es könnte Schmutz daran sein! Ja, die Schindeln sind gedeckt, und für die Maultiere habe ich einen guten Preis bekommen. Nein, etwas Neues ist nicht geschehen. Alles geht seinen langweiligen Gang.«

Dann fügte er noch hinzu, als fiele es ihm ganz nebenher ein: »Der ehrenwerte Ashley war gestern abend da. Er fragte mich, ob du wohl Lust hättest, ihm deinen Anteil an seiner Mühle und deine andere Mühle zu verkaufen.«

Scarlett hielt ihren Schaukelstuhl an und hörte auf, sich mit dem Truthahnfächer zu fächeln.

»Verkaufen? Wo in aller Welt hat denn Ashley das Geld her? Du weißt doch, sie haben nie einen Cent. Melanie gibt immer sofort aus, was er verdient.«

Rhett zuckte die Achseln. »Ich habe sie immer für eine anspruchslose kleine Person gehalten, aber ich bin ja mit den Einzelheiten des Wilkesschen Familienlebens nicht so vertraut wie du.«

Diese Stichelei erinnerte wieder an Rhetts alte Art, und Scarlett ärgerte sich.

»Lauf in den Garten, Kind«, sagte sie zu Bonnie. »Mutter will etwas mit Vater besprechen.«

»Nein«, sagte Bonnie bestimmt und kletterte auf Rhetts Schoß.

Scarlett machte ein böses Gesicht, was Bonnie in einer so verblüffenden Ähnlichkeit mit Gerald 0'Hara zurückgab, daß Scarlett lachen mußte.

»Laß sie nur hier«, sagte Rhett behaglich. »Woher er das Geld hat? Wie es scheint, hat es ihm jemand geschickt, der in Rock Island unter seiner Pflege die Blattern glücklich überstanden hat. Es gibt also noch Dankbarkeit, man braucht den Glauben an die Menschheit nicht ganz aufzugeben.«

»Wer war das? Jemand Bekanntes?«

»Der Brief kam aus Washington und trug keine Unterschrift. Ashley wußte nicht recht, wer der Schreiber sein könnte. Selbstlose Leute wie Ashley tun ja so viel Gutes in der Welt, daß sie nicht alles im Gedächtnis behalten können.«

Wäre sie nicht über Ashleys unverhofften Reichtum so überrascht gewesen, sie hätte den Fehdehandschuh aufgenommen, obwohl sie auf Tara beschlossen hatte, sich nie wieder mit Rhett in einen Streit über Ashley einzulassen. Sie stand in dieser Sache doch auf allzu unsicheren Füßen, und ehe sie nicht genau wußte, woran sie mit beiden Männern war, lag ihr nichts daran, sich ausholen zu lassen. »Er will mir die Anteile abkaufen?«

»Ja. Ich habe ihm natürlich gesagt, du dächtest nicht daran.« »Wenn du doch meine Angelegenheiten mir selber überlassen wolltest!« »Du trennst dich ja nicht von den Mühlen. Ich habe ihm gesagt, er wisse so gut wie ich, daß du durchaus in alles deine Nase stecken müßtest. Wenn er nun das Ganze kauft, kannst du ihm nicht mehr in alles dreinreden.«

»Du hast dich unterstanden, ihm so etwas über mich zu sagen?« »Warum nicht? Ist es etwa nicht wahr? Ich glaube, er war ganz meiner Ansicht, aber er war natürlich zu sehr Gentleman, um es auszusprechen.« »Gelogen ist es«, brauste Scarlett auf. »Ich verkaufe sie ihm!« Bis zu diesem Augenblick hatte sie niemals daran gedacht, sich von den Mühlen zu trennen, und aus verschiedenen Gründen hätte sie sie gern behalten. Ihr geldlicher Wert sprach dabei noch am wenigsten mit. In den letzten Jahren hätte sie sie jederzeit für eine hohe Summe losschlagen können, aber sie hatte alle Angebote abgelehnt. Die Mühlen waren der greifbare Beweis für das, was sie ohne jede Hilfe und unter den ungünstigsten Umständen geleistet hatte. Sie war stolz auf sie und auf sich selbst. Vor allem aber wollte sie sie behalten, weil sie die einzige Möglichkeit bot, ihr noch einen Weg zu Ashley offenzulassen. Wenn sie die Mühlen aus den Händen gab, konnte sie Ashley nur noch selten sehen, unter vier Augen wohl überhaupt niemals mehr. Das aber war ihr unmöglich! Sie wußte nicht, wie er jetzt zu ihr sta nd und ob nicht seit jenem furchtbaren Abend von Melanies Gesellschaft seine Liebe im Gefühl tiefster Beschämung untergegangen war. Im Geschäftsbetrieb fanden sich viele Gelegenheiten, sich mit ihm zu unterhalten, ohne daß jemand auf den Gedanken kam, sie liefe ihm nach. Mit der Zeit wollte sie schon alles zurückgewinnen, was sie etwa in seinem Herzen eingebüßt hatte. Wenn sie aber die Mühlen verkaufte ...

Nein, sie hatte es nicht wollen. Aber die wenig schmeichelhafte, wenn auch völlig wahrheitsgetreue Art, in der Rhett sie Ashley dargestellt hatte, war ein Stachel, der sie nun einmal zum Entschluß trieb. Ashley sollte die Mühlen haben, und zwar zu einem so niedrigen Preis, daß er gar nicht anders konnte als ihre Großzügigkeit bewundern. »Ich verkaufe sie«, rief sie wütend. »Was sagst du dazu?« Eine Spur von Triumph lag in Rhetts Augen, als er sich bückte, umBonnie das Schuhband zuzubinden.

»Es wird dich noch reuen«, sagte er.

Schon jetzt reuten sie die hastigen Worte. Hätte sie sie an irgend jemand anders gerichtet, sie hätte sie widerrufen, ohne sich dessen zu schämen. Warum war sie nur damit herausgeplatzt? Mit zornig gefurchter Stirn sah sie Rhett an. Er beobachtete sie mit seinem alten wachsamen Blick wie die Katze das Mauseloch. Als er ihre finstere Miene gewahrte, lachte er, daß seine weißen Zähne blitzten. Scarlett hatte das unbestimmte Gefühl, ihm in eine Falle gegangen zu sein.

»Hast du etwa deine Finger darin?« fragte sie argwöhnisch.

»Ich?« In gespieltem Erstaunen zog er die Augenbrauen hoch. »Mi ch solltest du doch besser kennen. Ich tue nie in aller Welt etwas Gutes, wenn ich es irgend vermeiden kann.«

Am selben Abend noch verkaufte sie Ashley die Mühlen mit den gesamten Anteilen, die sie daran hatte. Sie machte dabei nicht einmal ein schlechtes Geschäft. Ashley schlug ihre erste, niedrige Forderung aus und hielt sich an den höchsten Preis, der ihr je dafür geboten worden war. Als sie dann den Vertrag unterschrieben hatte und die Mühlen endgültig los war, als Melanie Rhett und Ashley ein Glas Wein reichte, um den Abschluß würdig zu begehen, kam Scarlett sich so verloren vor, als habe sie eins ihrer Kinder verkauft.

Die Mühlen waren ihre Lieblinge, ihr ganzer Stolz gewesen, das Werk ihrer kleinen tatkräftigen Hände. Mit einer bescheidenen Mühle hatte sie angefangen, damals in den bösesten Tage der Not, da Atlanta sich aus einem Trümmerhaufen mühsam emporzuringen begann. Unter Kämpfen und Listen hatte sie ihr Werk über die dunkle Zeit hinübergerettet, da die Yankees sie ständig zu rauben drohten, das Geld entwertet war und die besten Männer an die Wand gestellt wurden. Jetzt begannen die Narben sich zu schließen, neue Gebäude wuchsen überall empor, jeder Tag führte der Stadt frisches Blut zu; jetzt hatte Scarlett zwei schöne Mühlen, zwei Holzlager und ein Dutzend Maultiergespanne. Der Abschied ging ihr so nahe, als schlösse sich für immer eine Tür und trennte sie von einem Teil ihres Lebens, von einem harten und rauhen Abschnitt, an den sie mit einer solchen Befriedigung zurückdachte, daß es demHeimweh nahekam.

Sie hatte das Geschäft aufgebaut, und nun hatte sie es verkauft. Was sie vor allem bedrückte, war die Gewißheit, daß Ashley alles wieder verlieren würde, sobald sie das Steuer nicht mehr in der Hand hielt. Ashley traute jedem und wußte selber noch immer kaum die Brettersorten zwei-zu- vier und sechs-zu-acht zu unterscheiden. Nun konnte sie ihm nicht mehr mit ihrem Rat beistehen, nur weil Rhett ihm gesagt hatte, sie habe die Neigung, ihre Nase in alles hineinzustecken.

»Der verwünschte Rhett«, dachte sie bei sich, und als sie ihn beobachtete, verstärkte sich in ihr die Überzeugung, daß er die ganze Geschichte eingefädelt habe. Wie und warum, wußte sie freilich nicht. Er sprach mit Ashley, und es fielen Worte, bei denen sie auf einmal scharf aufhorchen mußte.

»Sie werden nun wohl die Sträflinge auf der Stelle zurückschicken?« sagte er.

Die Sträflinge zurückschicken, wie kam er darauf? Rhett wußte doch ganz genau, daß die Mühlen nur bei der billigen Sträflingsarbeit Gewinn abwerfen konnten; wie kam er dazu, sich so bestimmt über Ashleys künftige Handlungsweise zu äußern?

»Ja, sie gehen sofort«, erwiderte Ashley und vermied es, Scarlett anzusehen, die wie vomDonner gerührt war.

»Hast du den Verstand verloren?« fuhr sie ihm dazwischen. »Der ganze Gewinn, der dann noch bleibt, wird für die Miete drauf gehen; und was für Arbeiter sind sonst überhaupt zu bekommen?«

»Ich stelle freie Schwarze ein«, sagte Ashley.

»Freie Schwarze? Dummes Zeug! Du weißt doch, was für hohe Löhne die kosten! Außerdem hast du dann keine Minute Ruhe vor den Yankees, die dir auf die Finger sehen, ob du den Leuten auch dreimal täglich Huhn zu essen gibst und sie unter Daunen schlafen läßt. Ziehst du aber einem Drückeberger mal ein paar über, dann gibt es Geschrei, daß es von hier bi s Dalton zu hören ist, und du endest im Gefängnis. Sträflinge sind die einzigen ...«

Melanie blickte in den Schoß auf ihre ineinandergekrampften Hände. Ashley machte ein unglückliches, aber fest entschlossenes Gesicht. Einen Augenblick schwieg er. Dann tauschte er mit Rhett einen Blick, und es war, als fände er in Rhetts Augen Verständnis und Ermutigung. Es entging Scarlett nicht.

»Ich arbeite nicht mit Sträflingen, Scarlett«, sagte er ruhig.

»Sieh mal an!« Ihr stockte der Atem. »Warum denn nicht, wenn ich fragen darf? Hast du etwa Angst, man könnte über dich herziehen wie über mich?«

Ashley hob den Kopf.

»Davor fürchte ich mich nicht, solange ich im Recht bin. Aber Sträflingsarbeit ist ein Unrecht, davon war ich immer überzeugt.«

»Und warum?«

»Aus der Zwangsarbeit und dem Elend anderer Menschen Nutzen schlagen, das kann ich nicht.«

»Aber du hast doch Sklaven gehalten.«

»Die haben nicht im Elend gelebt. Außerdem hätte ich sie nach Vaters Tode alle freigelassen, wenn sie nicht schon durch den Krieg befreit worden wären. Aber dies ist etwas anderes. Mit der Zwangsarbeit kann allzuviel Mißbrauch getrieben werden. Vielleicht weißt du es nicht, ich aber weiß es. Ich weiß, daß Johnnie Gallegher mindestens einen Mann in seinem Holzlager auf dem Gewissen hat, vielleicht sogar mehrere. Wem liegt denn was an einem Sträfling? Er behauptet, der Mann sei auf einem Fluchtversuch umgekommen, aber von anderen habe ich es anders gehört. Ich weiß auch, daß er die Leute arbeiten läßt, wenn sie krank sind. Nenne es Aberglauben, wenn du willst, aber Geld, das aus dem Leiden anderer Menschen stammt, kann kein Glück bringen.«

»Heiliger Strohsack! Das heißt also ... du liebe Zeit, Ashley, dir ist doch nicht in den Kopf gestiegen, was Pastor Wallace von der Kanzel gegen unsauberes Geld gewettert hat?«

»Das war gar nicht nötig, es war schon längst meine eigene Auffassung.«

»Dann mußt du ja all mein Geld unsauber nennen«, ereiferte Scarlett sich. »Ich habe mit Sträflingen gearbeitet, ich bin Eigentümer einer Kneipe ...« Sie brach ab, und Wilkes waren beide verlegen. Rhett grinste über das ganze Gesicht. Scarlett verwünschte ihn inbrünstig. »Jetzt denkt er, ich stecke wieder einmal meine Nase in fremde Angelegenheiten, und Ashley denkt genauso. Könnte ich doch den beiden die Schädel zusammenschlagen!« Sie schluckte ihren Grimm herunter und suchte eine würdevoll überlegene Miene anzunehmen, aber ohne viel Erfolg.

»Mir kann es ja gleich sein«, sagte sie.

»Scarlett, denk nicht, daß ich dir Vorwürfe mache. Das tue ich nicht! Wir sehen nun einmal die Dinge verschieden an, und was du für gut hältst, braucht nicht auch für mich gut zu sein.«

Plötzlich verspürte sie ein heißes Verlangen, Rhett und Melanie bis ans Ende der Welt verschwinden zu sehen und mit ihm allein zu sein. Dann könnte sie ihm zurufen: »Ich will doch genauso denken wie du! Sag mir nur, wie du es meinst, damit ich es begreife und sein kann wie du!«

Aber vor Melanie, der der Auftritt unbeschreiblich peinlich war, und vor Rhett, der sie aus der Tiefe seines Lehnstuhles angrinste, konnte sie nur mit soviel Kühle und soviel gekränkter Unschuld als möglich zu ihm sagen: »Selbstverständlich, es ist dein Geschäft, Ashley, und ich denke nicht daran, dir dreinzureden. Aber das muß ich sagen, verstehen kann ich deine Auffassung nicht.«

Ach, wären sie doch nur allein, dann brauchte sie nicht noch kühle Worte, die ihn unglücklich machten, zu ihm zu sprechen!

»Ich habe dich gekränkt, Scarlett, und das wollte ich nicht. Verzeih mir. Ich habe gar nichts andeuten wollen. Ich glaube nur, daß auf gewisse Weise erworbenes Geld kein Glück bringt.«

»Da irrst du dich!« Sie konnte sich nicht länger beherrschen. »Sieh mich doch an. Du weißt, wie ich zu Geld gekommen bin, du weißt, wie es um uns stand, ehe ich Geld verdiente. Du erinnerst dich des Winters auf Tara, als es so kalt war und wir die Teppiche zerschnitten, um Sohlen daraus zu machen, und nicht genug zu essen hatten und uns den Kopf zerbrachen, wie wir Beau und Wade eine gute Erziehung verschaffen sollten. Du erinnerst dich ...«

»Ich erinnere mich«, sagte Ashley müde, »aber lieber vergäße ich es.«

»Du kannst doch nicht behaupten, daß jemand von uns damals glücklich war? Und jetzt? Du hast dein gemütliches Heim und eine gesicherte Zukunft, und wer wohnt so hübsch wie ich? Wer zieht sich so gut an, wer hat so schöne Pferde? Ich führe ein großes Haus, man speist elegant bei mir, meine Kinder haben alles, was sie brauchen. Wie bin ich denn zu all dem Gelde gekommen, das mir das ermöglicht hat? Habe ich es vom Baume geschüttelt? nein! Sträflinge, Kneipenverpachtung ...«

»Und vergiß auch nicht den ermordeten Yankee«, warf Rhett sanft ein. »Er hat dich zuerst auf die Füße gestellt.«

Scarlett fuhr herum, Zornesworte auf den Lippen.

»Und das Geld hat dich sehr, sehr glücklich gemacht, nicht wahr, mein Herz?« fragte er mit giftig süßem Ton.

Scarlett blieb der Mund offenstehen, sie schaute von einem zum andern. Melanie weinte fast vor Verlegenheit, Ashley war auf einmal blaß und in sich zurückgezogen, und Rhett betrachtete sie über die Zigarre hinweg mit sachlichem Vergnügen. Sie setzte an zu dem Ausruf: »Natürlich, wie sollte es mich nicht glücklich gemacht haben!«

Aber merkwürdig, sie brachte kein Wort über die Lippen.

In diesen Wochen nahm Scarlett an Rhett eine Veränderung wahr und wußte nicht recht, ob sie ihr eigentlich gefiel. Er war nüchtern und ruhig und offenbar mit seinen Gedanken ganz woanders. Er kam viel öfter zum Abendessen nach Hause als sonst, behandelte die Dienstboten freundlicher und beschäftigte sich liebevoller auch mit Wade und Ella. Nie spielte er auf Vergangenes an, Erfreuliches oder Unerfreuliches, und wartete anscheinend im stillen ab, ob sie sich daran wagen wolle oder nicht. Scarlett aber hütete ihre Zunge. Es war so viel leichter, sich mit dem erträglichen Heute abzufinden, und das Leben verlief äußerlich ruhig und glatt. Die unpersönliche Höflichkeit, mit der er sie während ihrer Genesungszeit behandelt hatte, behielt er bei und verzichtete darauf, ihr hin und wieder in sanften Tönen einen Stich zu versetzen und ihr mit seinem Spott weh zu tun. Jetzt ging ihr auf, daß er sie früher zwar mit seinen boshaften Glossen oft in Wut gebracht und zu hitzigen Ausfällen angestiftet, zugleich aber doch damit bewiesen hatte, daß ihm an dem, was sie sagte und tat, gelegen war. Sie fragte sich, ob ihm das nun alles ganz gleichgültig geworden sei. Er war höflich, aber ohne jedes Interesse, und sie vermißte seine Anteilnahme, auch wo sie boshaft gewesen war, sie vermißte die alten scharfen Wortgefechte auf Hieb und Stich.

Er war jetzt fast so zuvorkommend gegen sie wie gegen eine Fremde. Wie seine Augen früher ihr gefolgt waren, so folgten sie jetzt Bonnie, als sei der wilde Strom seines Lebens in einen einzigen engen Kanal abgelenkt worden. Manchmal meinte Scarlett, das Leben hätte ganz anders ausfallen können, wenn Rhett ihr nur halb soviel Zärtlichkeit gegönnt hätte wie Bonnie. Manchmal fiel es ihr schwer zu lächeln, wenn die Leute sagten: »Wie er doch das Kind vergöttert!« Lächelte sie aber nicht, so erregte sie Anstoß, und auch sie selber gestand sich nicht gern ein, auf ein kleines Mädchen, und nun gar auf ihre leibhaftige Lieblingstochter eifersüchtig zu sein. Scarlett wollte immer in den Herzen ihrer Nächsten die Erste sein, und jetzt kam es zutage, daß Rhett und Bonnie einander auf alle Zeiten die liebsten waren.

Rhett kam abends oft spät, aber immer nüchtern nach Hause. 0ft hörte sie ihn leise vor sich hin pfeifen, wenn er an ihrer geschlossenen Tür vorbeiging. Manchmal kamen Herren mit ihm spät nach Hause, saßen im Eßzimmer um die Schnapskaraffe und unterhielten sich. Es waren nicht mehr dieselben wie in den ersten Jahren ihrer Ehe. Keine reichen Schieber, Gesinnungslumpen und Republikaner kamen mehr ins Haus. Scarlett schlich manchmal auf Zehenspitzen ans Treppengeländer, horchte hinu nter und hörte zu ihrer höchsten Verwunderung die Stimmen Rene Picards, Hugh Elsings, der Simmons oder Andy Bonnells. Großpapa Merriwether und 0nkel Henry waren jedesmal dabei. Einmal hörte sie zu ihrem Erstaunen sogar Dr. Meade. Und früher hatten alle die Herren den Galgen noch zu gut für Rhett gefunden!

Für sie war dieser Kreis für immer mit Franks Tode verknüpft, und Rhetts spätes Heimkommen gemahnte sie lebhaft an die Zeit vor der Unternehmung des Klans, bei der Frank umgekommen war. Voller Grauen gedachte sie der Bemerkung Rhetts, er wolle sogar ihrem verdammten Klan beitreten, um ein ehrbarer Bürger zu werden, wenn er auch hoffe, Gott werde ihm eine so schwere Buße ersparen. Wenn er nun auch wie Frank ...?

Eines Abends blieb er noch länger aus als sonst, und sie ertrug die Spannung nicht länger. Als sie seinen Schlüssel im Schloß vernahm, warf sie sich den Schlafrock um, ging in den mit Gas beleuchteten, oberen Flur und fing ihn an der Treppe ab. Er war in Gedanken vertieft und machte ein überraschtes Gesicht, als er sie da vor sich stehen sah.

»Rhett, ich muß es wissen! Ich muß wissen, ob du ... ob es wegen des Klans ist, daß du so spät kommst? Gehörst du ...?«

In dem grellen Gaslicht schaute er sie gleichmütig an und lächelte.

»Du bist hinter der Zeit zurück«, sagte er. »In Atlanta gibt es keinen Klan mehr, und wahrscheinlich in ganz Georgia nicht. Du glaubst wohl den Greuelmärchen über den Klan immer noch, die dir deine Freunde unter den Schiebern aufbinden?«

»Keinen Klan mehr? Lügst du das, ummich zu beruhigen?«

»Mein Kind, wann hätte ich dich je beruhigen wollen? Nein, es gibt keinen Klan mehr, denn wir sind zu der Ansicht gekommen, daß er mehr Schaden als Gutes stiftet, weil er die Yankees immer von neuem aufhetzte und Wasser auf die Greuelmühle Seiner Exzellenz des Gouverneurs war. Er weiß, daß er nur so lange an der Macht bleibt, wie er die Bundesregierung und die Yankeezeitungen davon überzeugt, daß in Georgia der Aufruhr gärt und hinter jedem Busch ein Mitglied des Klans auf der Lauer liegt. Um sich zu halten, fabriziert er daher mit aller Gewalt Greuelmärchen, Geschichten, die nie geschehen sind, von getreuen Republikanern, die an den Daumen aufgehängt, und von ehrbaren Schwarzen, die wegen Vergewaltigungen gelyncht worden seien. Er schießt nach einem Ziel, das gar nicht vorhanden ist, und weiß es auch. Vielen Dank für deine Besorgnis, aber der Klan hat seine Tätigkeit schon sehr bald eingestellt, nachdem ich aus einem Konjunkturritter zu einembescheidenen Demokraten geworden bin.«

Was er von Gouverneur Bullock sagte, ging ihr zum größten Teil zum einen 0hr hinein und zum andern wieder heraus. Sie war ganz erfüllt von der Nachricht, daß es keinen Klan mehr gäbe. Rhett konnte nun nicht mehr umkommen, wie Frank umgekommen war, der Laden und sein Vermögen konnten nicht mehr verlorengehen. Aber eines seiner Worte war ihr vor allem aufgefallen. »Wir«, hatte er gesagt und sich ganz unbefangen mit denen zusammen genannt, die er früher als »die alte Garde« bezeichnet hatte.

»Rhett«, fragte sie plötzlich, »hast du mit der Auflösung des Klans etwas zu schaffen?«

Er schaute sie lange an. »Ja, Kind. Ashley Wilkes und ich tragen die Hauptverantwortung dafür.«

»Ashley ... und du?«

»Ja, die Politik führt seltsame Schlafgenossen zusammen. Weder Ashley noch ich legen besonderen Wert darauf, Schlafgenossen zu sein, aber so ist es nun einmal. Er hat nie an den Klan geglaubt, weil er überhaupt gegen Gewalttaten ist; ich habe nie daran geglaubt, weil ich ihn für eine Dummheit und für ein völlig verfehltes Mittel hielt, das zu erreichen, was wir wollten. Mit ihm hätten wir nur erreicht, daß uns die Yankees bis zum Jüngsten Tag an der Kehle gesessen hätten. Ashley und ich haben gemeinsam die Brauseköpfe überzeugt, daß wir besser fahren, wenn wir die Augen offenhalten, warten und arbeiten, als wenn wir in Nachthemden mit Feuerkreuzen herumziehen.«

»Du willst doch nicht sagen, daß die Männer wirklich auf dich gehört haben, auf dich, der du ...«

»Ein Spekulant warst? Ein Gesinnungslump, der mit den Yankees zusammensteckte? Sie vergessen, Mrs. Butler, daß ich jetzt ein angesehener Demokrat bin und geschworen habe, unseren geliebten Staat bis zum letzten Blutstropfen gegen die Räuberbande zu verteidigen. Mein Rat war gut. Sie haben darauf gehört. Mein Rat in anderen politischen Fragen war gleichfalls gut. Wir haben doch jetzt eine demokratische Mehrheit im Parlament, nicht wahr? Und bald, mein Kind, bringen wir auch ein paar von unseren guten Republikanerfreunden vor Gericht. Sie sind ein bißchen zu raubgierig geworden und gehen gar zu offen vor.«

»Du bringst sie ins Gefängnis? Aber es sind doch unsere Freunde! Sie haben dich doch an dem Geschäft mit den Eisenbahnpapieren beteiligt, das dir Tausende eingebracht hat!«

Da grinste Rhett wieder auf seine alte, spöttische Art.

»0h, ich hege keinen Groll gegen sie, aber ich stehe jetzt auf der anderen Seite, und wenn ich etwas dazutun kann, sie dahin zu bringen, wohin sie gehören, so geschieht es, und es wird meinen Ruf nur heben! Ich kenne gerade genug von diesen Transaktionen und weiß, wie sie von innen aussehen, um dem Parlament, falls es in all das einmal hineinleuchten will, von großem Nutzen sein zu können, und das wird bald geschehen, sollte ich meinen, wenn ich mir die gegenwärtige Lage ansehe. Nach Möglichkeit werden sie auch dem Gouverneur eine Untersuchung anhängen und ihn ins Gefängnis stecken. Sag lieber deinen guten Freunden Gelerts und Hundons, sie möchten sich bereit halten, auf Abruf die Stadt schleunigst zu verlassen. Wenn man den Gouverneur faßt, faßt man sie auch.«

Zu viele Jahre hatten die Republikaner mit Hilfe der Militärmacht Georgia drangsaliert, als daß Scarlett Rhetts hingeworfenen Worten hätte glauben können. Der Gouverneur hatte eine zu feste Stellung, ihm konnte kein Parlament etwas anhaben.

»Was du nicht alles redest!« bemerkte sie.

»Wenn er nicht ins Gefängnis kommt, so wird er doch jedenfalls nicht wiedergewählt. Nächstes Mal bekommen wir zur Abwechslung eine demokratische Regierung.«

»Und dabei willst du am Ende mitwirken?« fragte sie spöttisch , »Freilich, mein Herz, will ich das, ich tue es jetzt schon. Deshalb komme ich abends so spät nach Hause. Ich arbeite schwerer, als ich je mit der Schaufel während des >Goldrush< gearbeitet habe, um die Wahl zu organisieren. Und das wird Sie nun weiter wurmen, Mrs. Butler, ich steuere auch eine Menge Geld dazu bei. Weißt du noch, als du mir vor Jahren einmal in Franks Laden sagtest, es sei unredlich von mir, das Gold der Konföderierten zu behalten? Wir sind endlich einer Meinung; das Gold der Konföderierten wird nun ausgegeben, und zwar um die Konföderierten wieder an die Macht zu bringen.«

»Was, du wirfst dein Geld in ein Rattenloch?«

»Du nennst die demokratische Partei ein Rattenloch?« Seine Augen lachten sie aus, aber dann wurden sie wieder ruhig und ausdruckslos. »Es ist mir völlig gleichgültig, wer in der Wahl siegt. Das einzige, worauf es mir ankommt, ist, daß alle wissen, ich habe dafür gearbeitet und Geld ausgegeben, das kommt dann Bonnie auf Jahre hinaus zugute.«

»Fast hatte ich schon Angst, du leistetest dir jetzt eine Gesinnung. Aber nun sehe ich ein, daß du bei den Demokraten nicht aufrichtiger bist als überall sonst.«

»Keine Gesinnung, nur eine neue Haut. Wenn du dem Leoparden all seine Flecken abwäschst, er bleibt doch ein Leopard.«

Von den Stimmen auf dem Flur war Bonnie aufgewacht und rief schläfrig, aber gebieterisch: »Papi!« Rhett ging und ließ Scarlett stehen.

»Rhett, einen Augenblick! Ich wollte dir noch etwas sagen. Du darfst Bonnie nicht mehr nachmittags in politische Versammlungen mitnehmen. Wie sieht das aus! Ein kleines Mädchen in solchen Lokalen! Du machst dich damit lächerlich. Ich hatte keine Ahnung, bis 0nkel Henry einmal davon sprach, in der Annahme, ich wüßte es.«

Rhett fuhr herum, sein Gesicht war hart.

»Wie kannst du ein Unrecht darin sehen, daß ein kleines Mädchen bei seinem Vater auf dem Schoß sitzt, wenn er sich mit Freunden unterhält? Du magst es albern finden. Es ist aber durchaus nicht albern. Daran denken die Leute noch jahrelang, daß Bonnie auf meinem Schoß gesessen hat, während ich die Republikaner aus dem Staat habe verjagen helfen. Jahrelang werden sich die Leute daran erinnern.« Die Härte schwand wieder aus seinem Gesicht, ein spöttischer Funke tanzte in seinen Augen.

»Weißt du auch, was sie antwortet, wenn man sie fragt, wen sie am liebsten hat? >Papi und die Demikaten.< Und wen sie am meisten haßt: >Die Sinnungslumpen.

»Dann sagst du ihr womöglich auch, ich sei ein Gesinnungslump!« rief Scarlett ärgerlich.

»Papi«, rief das Stimmchen jetzt schon böse, und Rhett ging lachend den Flur hinunter zu seiner Tochter.

Im 0ktober trat Gouverneur Bullock zurück und floh aus Georgia. Der Mißbrauch öffentlicher Gelder, die Verschwendung, die Korruption hatten unter seiner Verwaltung einen solchen Umfang angenommen, daß das Gebäude von selbst aus dem Gleichgewicht kam und zusammenstürzte. Sogar seine eigene Partei war gespalten, so groß war die allgemeine Empörung. Die Demokraten hatten jetzt die Majorität im Parlament, und das konnte nur eins bedeuten. Bullock wußte, daß ihm eine Untersuchung drohte, bei der mancherlei ans Licht kommen mußte, und wartete sie nicht ab. Heimlich machte er sich in aller Eile aus dem Staube und sorgte dafür, daß sein Rücktritt erst bekannt wurde, als er sicher im Norden saß.

Als acht Tage nach seiner Flucht sein Rücktritt bekannt gegeben wurde, herrschte in Atlanta die freudigste Erregung. Auf den Straßen drängte sich die Menschenmenge, die Männer schüttelten einander lachend die Hände und wünschten sich Glück. Damen fielen einander um den Hals und weinten. Überall wurden zur Feier des Ereignisses Gesellschaften gegeben. Die Feuerwehr hatte alle Hände voll zu tun, die um sich greifenden Freudenfeuer der jubelnden kleinen Jungen zu löschen.

Aus dem Gröbsten war man heraus. Mit dem »Wiederaufbau« war es nun bald vorbei. Allerdings war der stellvertretende Gouverneur ebenfalls ein Republikaner, aber im Dezember war Neuwahl, und an dem Ergebnis bestand nirgends ein Zweifel. Als es dann soweit war, bekam Georgia trotz der verzweifelten Anstrengungen der Republikaner wieder seinen demokratischen Gouverneur.

Die freudige Aufregung war allgemein, aber die Stimmung war doch noch anders als nach Bullocks Flucht. Es war eine vernünftigere, herzlichere Freude, ein Dankgefühl in tiefster Seele. Die Kirchen waren überfüllt, als die Geistlichen Gott in Ehrfurcht für die Befreiung des Staates dankten. Auch Stolz mischte sich in das freudige Hochgefühl, Stolz darauf, daß Georgia den Seinen wiedergegeben war, trotz aller Ränke der Regierung in Washington, trotz der Armee, der Schieber, der Gesinnungslumpenund Republikaner.

Siebenmal hatte der Kongreß drakonische Gesetze gegen den Staat verabschiedet, die ihn in dem Zustand einer eroberten Provinz erhalten sollten, dreimal hatte die Armee alle bürgerlichen Rechte außer Kraft gesetzt. Die Sklaven hatten sich im Parlament gute Tage gemacht, habgierige Leute von außerhalb hatten den Staat heruntergewirtschaftet, Privatpersonen hatten sich an öffentlichen Geldern bereichert. Quälereien und Gewalttaten aller Art hatte der Staat erlitten und sich hilflos mit Füßen treten lassen müssen. Aber trotz allem war Georgia aus eigener Kraft nun wieder zu sich selbst gekommen.

Nicht jeder freute sich des plötzlichen Umschwungs. In den Reihen der Emporkömmlinge herrschte Bestürzung. Geleits und Hundons hatten offenbar von Bullocks Flucht Wind bekommen, ehe sein Rücktritt bekannt wurde, und die Stadt schleunigst verlassen. Sie waren wieder in das Nichts verschwunden, aus dem sie aufgetaucht waren. Ihre Spießgesellen, die in Atlanta zurückblieben, wurden ängstlich und unsicher und hockten zusammen, um einander zu beruhigen in der Sorge, was wohl bei den bevorstehenden Untersuchungen alles über ihre eigenen Privatangelegenheiten ans Licht kommen würde. Jetzt waren sie nicht mehr unverschämt, sondern bestürzt, ratlos und bange. Die Damen, die Scarlett besuchten, sagten immer wieder:

»Wer hätte das gedacht? Wir hatten den Gouverneur doch für zu mächtig gehalten. Wir glaubten, er würde ewig bleiben. Wir meinten ...«

Scarlett war nicht minder betroffen von der Wendung der Dinge, obwohl Rhett ihr vorausgesagt hatte, wohin die Ereignisse steuerten. Sie war nicht etwa traurig darüber, daß Bullock weg war und die Demokraten wiederkamen. Wenn es ihr auch niemand glaubte, so freute sie sich doch grimmig darüber, daß das Yankeeregiment endlich zusammengebrochen war. Ihre Nöte aus den ersten Zeiten der Nachkriegsjahre waren ihr noch sehr frisch im Gedächtnis, ihre Sorge, Geld und Eigentum durch die Soldaten und die Schieber zu verlieren. Sie dachte an ihre Hilflosigkeit und all die Ängste zurück, die sie hatte ausstehen müssen, an ihren Haß gegen die Yankees, die dem Süden dieses harte Joch auferlegt hatten. Nie hatte sie aufgehört, sie zu hassen. Aber in dem Bestreben, zu retten, was zu retten war und vollständig sicherzugehen, hatte sie sich zu den Eroberern geschlagen, einerlei, wie sehr sie ihr zuwider waren. Sie hatte sie in ihren Kreis gezogen und sich von ihren alten Freunden und alten Lebensgewohnheiten losgesagt. Nun war es plötzlich mit der Macht der Sieger vorbei. Sie hatte alles auf das Fortbestehen des Bullockschen Regimes gesetzt und hatte verloren.

Als sie Weihnachten 1871 um sich schaute, in der glücklichsten Weihnachtszeit, die die Stadt seit zehn Jahren erlebt hatte, machte sie sich schwere Sorgen. Sie sah, daß Rhett, einst einer der verhaßtesten Männer von Atlanta, jetzt zu den beliebtesten zählte. Er hatte seine republikanischen Ketzereien in Demut widerrufen und seine Zeit, sein Geld, sein e Arbeitskraft und seine Gaben dafür eingesetzt, Georgia wieder aufzurichten. Wenn er lächelnd durch die Straßen ritt und an seinen Hut tippte, vor ihm auf dem Sattel das kleine Bündelchen Bonnie, wurde sein Gruß überall erwidert, und warme Worte und Blicke gaben ihm und dem kleinen Mädchen das Geleit. Sie aber, Scarlett ...

59

Kein Zweifel, Bonnie Butler war ein Wildfang und brauchte eine feste Hand. Darüber waren sich alle einig, aber niemand hatte das Herz, dem allgemeinen Liebling die nötige Strenge angedeihen zu lassen. Schon in den Monaten, da sie mit ihrem Vater auf Reisen war, war sie ganz außer Rand und Band geraten. Während des Aufenthaltes in New 0rleans und Charleston hatte Rhett ihr erlaubt, so lange aufzubleiben, wie sie wollte, und im Theater, im Restaurant und beim Kartenspiel war sie dann auf seinem Schoß eingeschlafen. Später konnte sie nur noch mit Gewalt zur gleichen Zeit wie die gehorsamere Ella zu Bett gebracht werden. Solange sie mit Rhett auf Reisen war, hatte sie auch alles anziehen dürfen, was ihr gerade gefiel, und seitdem bekam sie einen Wutanfall, wenn Mammy sie in Barchentkleider und Schürzen stecken wollte statt in blauen Taft und Spitzen.

Anscheinend war kaum nachzuholen, was auf Reisen und später während Scarletts Krankheit und Abwesenheit versäumt worden war. Als Bonnie größer wurde, suchte Scarlett sie an Zucht zu gewöhnen, denn ihr Eigenwille nahm überhand - aber ohne viel Erfolg. Rhett trat immer für das Kind ein, einerlei, wie sinnlos ihr Begehren, wie ungezogen ihr Betragen sein mochte. Er ermunterte sie zum Reden und behandelte sie wie eine Erwachsene, hörte ernsthaft zu, wenn sie ihre Meinung sagte, und tat, als richte er sich danach. Die Folge davon war, daß Bonnie andere Leute unterbrach, wenn es ihr paßte, daß sie ihrem Vater widersprach und ihn zurechtwies. Er lachte nur und erlaubte nicht einmal, daß Scarlett dem Mädchen zur Strafe einen Klaps auf die Hand gab.

»Wäre sie nicht ein so süßes Ding, sie wäre einfach unmöglich«, dachte Scarlett wehmütig und merkte, daß ihr Kind ihr an Willenskraft nicht nachstand. »Sie vergöttert Rhett. Ihm zuliebe würde sie sich schon besser aufführen, wenn er sie nur dazu anhalten wollte.«

Aber Rhett zeigte keinerlei Neigung, Bonnie zu erziehen. Was sie auch tat, sie bekam recht, und hätte sie nach dem Mond verlangt, er hätte ihn ihr womöglich vom Himmel heruntergeholt. Sein Stolz auf ihre Schönheit, ihre Locken, ihre Grübchen, ihre anmutigen kleinen Bewegungen kannte keine Grenzen. Er liebte ihre Schlagfertigkeit, ihr Temperament und die putzige Art, mit der sie ihm ihre Liebe bezeigte. Bei allem Eigensinn war sie so reizend, daß er nicht das Herz hatte, ihren Willen zu beugen. Er war ihr Gott, der Mittelpunkt ihrer kleinen Welt, und das wollte er durch Ermahnungen nicht aufs Spiel setzen.

Sie hing an ihm wie sein Schatten. Sie weckte ihn morgens früher, als ihm lieb war, saß neben ihm beim Frühstück und aß abwechselnd von seinem und von ihrem Teller, sie ritt vor ihm auf dem Sattel und erlaubte niemand anderem als Rhett, sie auszuziehen und in ihr Bettchen neben dem seinen zu legen.

Belustigt und gerührt sah Scarlett, wie das kleine Kind seinen Vater mit eiserner Hand regierte. Wer hätte gedacht, daß gerade Rhett es mit seinen Vaterpflichten so ernst nehmen würde? Aber oftmals durchzuckte es sie doch wie Eifersucht, weil Bonnie mit ihren vier Jahren Rhett besser verstand, als sie ihn je verstanden hatte, und besser mit ihm fertig wurde, als es ihr je gelungen war.

Als Bonnie vier Jahre alt war, fand Mammy es höchst unschicklich, daß ein kleines Mädchen im Herrensitz vor ihrem Pa im Sattel saß und das Kleid ihr in die Luft flog. Rhett ließ es sich gesagt sein wie alles, was Mammy über die richtige Erziehung kleiner Mädchen zu sagen wußte, und das Ergebnis war ein kleines, braun und weiß geflecktes Shetland-Pony mit langer, seidiger Mähne und ebensolchem Schwanz, samt einem zierlichen Damensättelchen mit silbernem Beschlag. Angeblich sollte das Pony allen drei Kindern gehören, und Rhett kaufte auch einen Sattel für Wade, aber Wade hatte seinen Bernhardiner viel lieber, und Ella hatte vor allen Tieren Angst. Das Pony war also Bonnies Eigentum und bekam den Namen »Mr. Butler«. Bonnies Besitzerstolz wurde einzig dadurch getrübt, daß sie nicht mehr rittlings wie ihr Vater sitzen durfte. Als er ihr aber auseinandersetzte, wieviel schwerer es sei, im Damensattel zu reiten, gab sie sich zufrieden und lernte es rasch. Rhett war ungemein stolz auf ihren guten Sitz und ihre leichte Hand.

»Warte nur, bis sie groß genug für die Jagd ist«, prahlte er, »dann kommt ihr auf keinem Gelände jemand gleich. Dann nehme ich sie mit nach Virginia. Dort gibt es richtige Jagden, und nach Kentucky, wo man gute Reiter zu würdigen weiß.«

Als sie ihr Reitkleid bekommen sollte, blieb ihr, wie gewöhnlich, die Wahl der Farbe überlassen, und wie gewöhnlich wählte sie Blau.

»Aber Liebling, nicht den blauen Samt! Der ist für ein Abendkleid für mich«, lachte Scarlett. »Kleine Mädchen tragen hübsches schwarzes Tuch zum Reiten.« Als sie die kleinen Brauen sich furchen sah, wandte sie sich an Rhett. »Um Himmels willen, sag ihr doch, daß es nicht geht, der Samt wird ja so leicht schmutzig.«

»Ach, laß ihr doch den blauen Samt. Wenn er schmutzig ist, bekommt sie ein neues Kleid«, sagte Rhett gemütlich.

So kam Bonnie zu einem blausamtenen Reitkleid, dessen Rock dem Pony über die Flanke herabhing. Dazu trug sie einen schwarzen Hut mit roter Straußenfeder, weil Tante Mellys Geschichten von Job Smart und seiner Feder auf dem Hut es ihr angetan hatten. An klaren, sonnigen Tagen ritten die beiden miteinander die Pfirsichstraße entlang, und Rhett zügelte seinen schweren Rappen, daß er mit dem fetten Pony Schritt hielt. Manchmal galoppierten sie zusammen durch die stillen Straßen der Stadt und scheuchten Hühner, Hunde und Kinder auf. Bonnies wirre Locken flogen, sie gab Mr. Butler die Peitsche, Rhett hielt sein Pferd mit fester Hand zurück, und Mr. Butler gewann das Rennen.

Als Rhett ihres Sitzes, ihrer Zügelhaltung und ihrer unbedingten Furchtlosigkeit sicher war, fand er es an der Zeit, daß sie springen lerne, wenn auch nur in den Grenzen, die Mr. Butlers kurze Beine erlaubten. Zu diesem Zweck errichtete er im Hintergarten eine Hürde und zahlte Wash, 0nkel Peters kleinem Neffen, fünfundzwanzig Cents den Tag mit dem Auftrag, Mr. Butler das Springen beizubringen. Er fing mit einer Stange zwei Zoll über dem Fußboden an und brachte es schließlich zu einem ein Fuß hohen Sprung.

Diese Regelung mißfiel allen drei Beteiligten, Wash, Mr. Butler und Bonnie. Wash hatte Angst vor Pferden, und nur die fürstliche Bezahlung konnte ihn dazu bewegen, unzählige Male am Tage das störrische Pony über die Stange zu hetzen; Mr. Butler, der sich zwar geduldig von seiner kleinen Herrin am Schwanz ziehen und unaufhörlich die Hufe untersuchen ließ, fand doch, der Schöpfer des Ponys habe ihn nicht dazu bestimmt, mit seinem fetten Bauch über eine Stange zu setzen. Bonnie endlich duldete überhaupt nicht gern jemand anderen auf ihrem Pony und zappelte vor Ungeduld, während Mr. Butler Unterricht hatte.

Als Rhett endlich entschied, nun sei das Pony ausreichend geschult und Bonnie könne ihm anvertraut werden, war das Kind über alle Maßen aufgeregt. Gleich beim erstenmal setzte es mit fliegenden Fahnen über die Hürde, und von nun an hatte das Ausreiten mit ihrem Vater für sie keinen Reiz mehr. Scarlett mußte über den Stolz und über die Begeisterung von Vater und Tochter lachen. Sie meinte aber, wenn der Reiz der Neuheit vorüber sei, würde Bonnie sich schon wieder anderen Dingen zuwenden und die Nachbarn ihre Ruhe haben. Doch das Spiel behielt seinen Reiz. Von der Laube ganz hinten im Hintergarten bis an die Hürde lief schon eine kahle Spur, und den ganzen Morgen hallte der Garten wider von Bonnies wildem Geschrei. Großpapa Merriwether, der 1849 über Utah nach Kalifornien gegangen war, sagte, es klänge genau wie der Kriegsruf der Apachen über einen glücklich skalpierten Feind.

Nach der ersten Woche bettelte Bonnie, die Stange möchte höher gelegt werden, anderthalb Fuß von der Erde.

»Wenn du sechs Jahre alt bist«, sagte Rhett, »bist du groß genug, um höher zu springen, und ich kaufe dir ein größeres Pferd. Mr. Butlers Beine sind nicht lang genug.«

»Das sind sie doch. Ich bin über Tante Mellys Rosen gesprungen, die sind furchtbar hoch.«

»Nein, du mußt warten«, sagte Rhett diesmal sehr entschieden. Aber allmählich schwand seine Entschiedenheit vor dem unaufhörlichen Drängen des Kindes dahin.

»Dann nur zu«, sagte er eines Morgens lachend und stellte die schmale weiße Stange etwas höher. »Wenn du fällst, heul aber nicht und gib mir nicht die Schuld.«

»Mutter!« jauchzte Bonnie und schaute zu Scarletts Schlafzimmer hinauf. »Mutter! Schau her, Papi sagt, ich darf!«

Scarlett war gerade dabei, sich das Haar zu machen. Sie trat ans Fenster und blickte lächelnd auf das aufgeregte kleine Ding hinunter, das in seinem schmutzigen blauen Reitkleid höchst abenteuerlich aussah.

»Ich muß ihr wirklich ein neues machen lassen«, dachte sie. »Aber weiß der Himmel, wie ich sie dazu bringen soll, von dem alten schmutzigen zu lassen.«

»Mutter, paß auf!«

»Ich sehe ja, Kind«, erwiderte Scarlett lächelnd, und als Rhett das Kind aufhob und in den Sattel setzte, rief sie in aufwallendem Stolz über den geraden Rücken und die freie Kopfhaltung Bonnies hinunter: »Fein siehst du aus, mein Liebling!«

»Du auch«, erwiderte Bonnie großmütig, stieß Mr. Butler den Absatz in die Weiche und sprengte durch den Garten nach der Laube zu.

»Paß auf, Mutter! Jetzt nehm' ich auch diesen!« rief sie hinauf und gab Mr. Butler die Peitsche.

>Paß auf! Jetzt nehm' ich auch diesen! <

Tief unten in Scarletts Gedächtnis schlug eine Glocke an. Die Worte hatten einen unheilverkündenden Klang. Was war das doch? Warum kam sie nicht darauf? Sie schaute auf ihre kleine Tochter herab, die so anmutig auf dem galoppierenden Pferd saß, und plötzlich zogen ihre Brauen sich zusammen, und es durchfuhr sie eiskalt. Bonnie kam herangeprescht, die krausen schwarzen Locken flogen auf, die blauen Augen leuchteten.

»Wie Pa's Augen«, dachte Scarlett, »irisch blau, sie ist durch und durch wie er.«

Bei dem Gedanken an Gerald kam ihr die Erinnerung, nach der sie getastet hatte, plötzlich wieder, klar wie ein sommerlicher Blitz, der auf einen Augenblick die ganze Landschaft übernatürlich erhellt. Ihr stockte das Herz. Sie hörte eine irische Stimme singen, hörte den harten Aufschlag rascher Hufe, die die Koppel von Tara hinauf jagten, und eine verwegene Stimme, ganz wie die ihres Kindes, erschallen:

»Paß auf, Ellen! Jetzt nehm' ich auch diesen!«

»Nein«, schrie sie hinunter, »nein, Bonnie, halt!« Sie hatte sich kaum zum Fenster hinausgebeugt, da gab es auch schon ein entsetzliches Krachen von splitterndem Holz, einen heiseren Schrei aus Rhetts Munde, am Boden einen Wirrwarr von blauem Samt und schlagenden Hufen. Dann kam Mr. Butler wieder auf die Beine und trabte mit leerem Sattel davon.

Am dritten Abend nach Bonnies Tode kam Mammy mühsam die Hintertreppe zu Melanie hinaufgewatschelt. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, von den riesigen Männerschuhen an, die aufgeschlitzt waren, damit ihre Zehen sich frei bewegen konnten, bis zu dem schwarzen Kopftuch. Ihre trüben alten Augen waren blutunterlaufen und rot gerändert, jeder Zoll ihrer riesenhaften Gestalt kündete tiefstes Weh. Ihr runzeliges Gesicht hatte den schwermütig verwunderten Ausdruck eines alten Affen, aber umihren Mund lag ein Zug fester Entschlossenheit.

Sie wechselte ein paar leise Worte mit Dilcey, die freundlich nickte, als wäre es in der alten Fehde der beiden zu einem stillschweigenden Waffenstillstand gekommen. Dilcey setzte die Schüsseln fürs Abe ndessen, die sie trug, nieder und ging leise durch die Anrichte ins Eßzimmer. Im nächsten Augenblick stand Melanie in der Küche, mit angstvollem Gesicht, die Serviette in der Hand.

»Miß Scarlett ist doch nicht ...?«

»Miß Scarlett trägt es wie immer«, sagte Mammy bedrückt. »Ich wollte Sie nicht beim Abendessen stören, Miß Melly, ich kann warten, bis Sie fertig sind, und Ihnen dann sagen, was ich auf dem Herzen habe.«

»Das Abendessen kann warten«, sagte Melanie. »Dilcey, trag drinnen weiter auf. Mammy, komm.«

Mammy watschelte hinter ihr her durch den Flur und das Eßzimmer, wo Ashley am oberen Ende saß, neben ihm sein kleiner Beau, der zusammen mit Scarletts Kindern ihm gegenüber ein ungeheures Geklapper mit den Suppenlöffeln vollführte. Wades und Ellas frohe Stimmen füllten das Zimmer. Für sie war es ein Fest, so lange bei Tante Melly zu Besuch sein zu dürfen. Tante Melly war immer so lieb und heute ganz besonders. Der Tod ihrer kleinen Schwester war ihnen nicht weiter nahegegangen. Bonnie war vom Pony gefallen, Mutter hatte lange geweint, und Tante Melly hatte sie mit nach Hause genommen, wo sie im Hintergarten mit Beau spielen und Teekuchen essen durften, soviel sie wollten.

Melanie ging in das mit Büchern vollgestellte kleine Wohnzimmer voran, schloß die Tür und bot Mammyeinen Platz auf dem Sofa an.

»Ich wollte ohnehin gleich nach dem Abendessen hinüberkommen«, sagte sie. »Da Kapitän Butlers Mutter jetzt da ist, findet das Begräbnis wohl morgen früh statt?«

»Das Begräbnis, das ist es«, sagte Mammy. »Miß Melly, wir sind alle in schweren Sorgen, und ich wollte Sie zu Hilfe holen. Nichts wie schwere Lasten, Missis, schwere Lasten!«

»Ist Miß Scarlett zusammengebrochen?« fragte Melly ängstlich. »Ich habe sie kaum gesehen, seitdem Bonnie ... sie war immer in ihrem Zimmer, und Kapitän Butler war weg und ...«

Plötzlich flossen Mammy die Tränen über das schwarze Gesicht. Melanie setzte sich zu ihr und streichelte ihr den Arm, und bald hob auch Mammyden Saum ihres schwarzen Rockes und trocknete sich die Augen.

»Sie müssen uns zu Hilfe kommen, Miß Melly, ich habe getan, was ich konnte, aber es hat nichts genützt.«

»Miß Scarlett...?«

Mammy richtete sich auf. »Miß Melly, Sie kennen Miß Scarlett so gut wie ich. Was das Kind aushalten muß, dazu gibt der liebe Gott ihr auch die Kraft. Dies hat ihr das Herz gebrochen, aber aushalten tut sie es. Ich komme wegen Mister Rhett.«

»Ich wollte ihn ja so gern besuchen, aber jedesmal, wenn ich hinüberkam, war er entweder in der Stadt oder hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen mit... und Scarlett sah aus wie ein Geist und wollte nichts sagen ... Sprich rasch, Mammy, du weißt ja, ich helfe euch, wenn ich kann.«

Mammywischte sich mit dem Handrücken die Nase.

»Ich sage ja, Miß Scarlett hält schon aus, was der Herr ihr schickt, sie hat schon viel ausgehalten. Aber Mister Rhett ... ach, Miß Melly, er hat nie etwas aushalten müssen, was er nicht wollte, nie das geringste, und seinetwegen wollte ich Sie sprechen ...«

»Aber ...«

»Miß Melly, Sie müssen heute abend mit nach Hause kommen.« Mammys Ton war drängend. »Vielleicht hört Mister Rhett auf Sie. Er hat immer viel darauf gegeben, was Sie sagten.«

»0 Mammy, was ist denn, was meinst du eigentlich?«

Mammystraffte die Schultern.

»Miß Melly, Mister Rhett hat ... hat den Verstand verloren. Wir sollen die kleine Miß nicht wegbringen.«

»Den Verstand verloren? Ach, Mammy, nein!«

»Das ist wirklich wahr, Gott kann es bezeugen. Er will nicht erlauben, daß wir das Kind begraben. Das hat er mir selbst gesagt, noch keine Stunde ist es her.«

»Aber er kann doch nicht ... er ist doch nicht ...« »Deshalb sage ich ja ... er hat den Verstand verloren.« »0 mein Gott!«

»Miß Melly, ich will Ihnen was erzählen. Eigentlich sollte ich es niemand erzählen, aber Sie gehören doch zu unserer Familie und sind die aller-, allereinzigste, der ich es erzählen kann. Sie wissen ja, wieviel er von dem Kind gehalten hat, so etwas habe ich nie bei einem Manne gesehen, nicht bei einem weißen und nicht bei einem schwarzen. Er sah aus, als würde er auf der Stelle wahnsinnig, als Dr. Meade sagte, das Genick ist gebrochen, und er packte sein Gewehr und lief hinaus und schoß das arme Pony tot, und bei Gott, ich dachte, sich selbst wollte er auch totschießen, und es hat mich ganz verrückt gemacht, Miß Scarlett und all die Nachbarn, die ein- und ausgingen, und Mister Rhett, der sich so aufregte und immer nur das Kind festhielt und nicht einmal erlaubte, daß ich ihm das kleine Gesicht wusch, wo der Kies es zerschunden hatte, und als Miß Scarlett wieder zu sich kam, dachte ich, Gott sei Dank, nun können sie sich gegenseitig trösten.«

Wieder tropften Mammy Tränen herunter, aber diesmal wischte sie sie nicht mehr weg.

»Aber als sie wieder zu sich kam, ging sie in das Zimmer, wo er mit Miß Bonnie im Arm saß, und sagte zu ihm: >Gib mir mein Kind wieder, du hast esaufdemGewissen. <«

»Aber nein! Das ist doch unmöglich!«

»Doch, Missis, das hat sie gesagt. >Du hast es auf dem Gewissen<, hat sie gesagt, und Mister Rhett tat mir leid, und ich fing an zu weinen, und er sah aus wie ein geprügelter Hund, und ich habe gesagt: >Geben Sie das Kind seiner Mammy, solche Wirtschaft um meine kleine Miß will ich nicht haben.< Und ich habe ihm das Kind weggenommen und es in sein Zimmer gebracht, und ihm das Gesicht gewaschen, und dann hörte ich sie reden, und beinahe ist mir das Blut erstarrt bei solchen Worten. Miß Scarlett nannte ihn Mörder, weil er es dem Kind erlaubt hatte, so hoch zu springen, und er sagte, Miß Scarlett hatte Bonnie niemals liebgehabt und überhaupt keins von den Kindern ...«

»Hör auf, Mammy! Erzähl mir nicht mehr. Es ist unrecht, daß du so redest!« fiel Melly ihr ins Wort. Ihr graute vor dem Bilde, das Mammys Worte heraufbeschworen.

»Ich weiß ja, das geht mich alles gar nichts an, und ich darf es Ihnen nicht sagen, aber das Herz ist mir zu schwer. Und dann brachte er sie selbst zum Beerdigungsunternehmer und brachte sie wieder zurück und legte sie in ihr Bett in seinem Zimmer, und als Miß Scarlett sagte, sie gehört ins Wohnzimmer in ihren Sarg, da dachte ich, Mister Rhett will sie schlagen, und er sagte ganz eiskalt: >In mein Zimmer gehört sie.< Und er dreht sich zu mir und sagt: >Mammy, du sorgst dafür, daß sie hierbleibt, bis ich wieder da bin<, und dann jagt er zum Hause hinaus, steigt aufs Pferd und bleibt bis Sonnenuntergang weg, und als er dann zurückgejagt kommt, sehe ich ihm an, daß er getrunken hat, viel getrunken, aber läßt es sich nicht anmerken. Dann ist er drin und Hals über Kopf die Treppe hinauf, ohne ein Wort zu Miß Scarlett und Miß Pitty und den andern, die zu Besuch da waren, und reißt die Tür zu seinem Zimmer auf und schreit, ich soll herkommen, und als ich gerannt komme, so schnell ich kann, steht er vor dem Bett, und im Zimmer ist es so dunkel, daß ich ihn kaum sehen kann, denn die Läden sind zu, und er schreit mich wie ein Verrückter an: >Mach die Läden auf, es ist ja dunkel hier drinnen!< Ich machte sie auf, und er sieht mich an, und bei Gott, Miß Melly, die Knie zittern mir, so unheimlich sieht er aus, und er schreit >Lichter her, viel Lichter, und daß sie mir ja brennen bleiben! Und schließt mir keine Läden und Jalousien zu, ihr wißt doch, Miß Bonnie ist im Dunkeln so bange!<«

Mammys Augen begegneten Melanies entsetztem Blick, und sie nickte düster:

»Das hat er gesagt: >Miß Bonnie ist imDunkeln so bange.<« Mammyschauderte zusammen.

»Als ich ihm dann ein Dutzend Kerzen brachte, sagte er: >Raus!<, und dann schloß er ab, und da sitzt er nun mit der kleinen Miß und macht Miß Scarlett die Tür nicht auf, und wenn sie noch soviel dagegen schlägt und nach ihm schreit. Und so ist es seit zwei Tagen, und von der Beerdigung will er nichts wissen, und morgens schließt er die Tür zu und setzt sich aufs Pferd und reitet weg, und bei Sonnenuntergang kommt er betrunken nach Hause und ißt nicht und schläft nicht, und nun ist seine Ma, die alte Miß Butler aus Charleston, zum Begräbnis da. Auch Miß Suellen und Master Will aus Tara, aber Mister Rhett spricht mit niemand. 0h, Miß Melly, es ist schrecklich, und es wird noch schlimmer. Was werden die Leute reden!«

Mammy hielt inne und wischte sich wieder die Nase mit der Hand. »Und dann heute abend! Da hat Miß Scarlett ihn oben auf dem Flur abgefangen, als er nach Hause kam, und ist mit ihm hineingegangen und hat gesagt: >Das Begräbnis ist morgen früh<, und er hat gesagt: >Wenn du mir das antust, schlage ich dich morgen tot.<«

»Ach, er muß ja wirklich den Verstand verloren haben!«

»Ja, Missis, und dann haben sie ganz leise miteinander gesprochen, und ich habe nicht alles gehört, nur, daß er wieder davon anfing, Miß Bonnie ist im Dunkeln so bange, und im Grabe ist es doch furchtbar dunkel, und dann hat Miß Scarlett gesagt: >Du bist mir der Richtige, jammerst und zeterst und hast sie doch für deinen Stolz in den Tod gejagt.< Da hat er gesagt: >Hast du denn kein Erbarmen?< Und sie hat gesagt: >Nein! Und ein Kind habe ich auch nicht mehr. Und ich habe es satt, wie du dich aufführst seit Bonnies Tod, du machst dich ja zum Skandal in der Stadt, die ganze Zeit bist du betrunken, und wenn du meinst, ich weiß nicht, wo du steckst, dann bist du ein Schafskopf, ich weiß wohl, du bist bei der Person, bei der Belle Watling bist du gewesen.< «

»Ach, Mammy, nein!«

»Ja, Missis, das hat sie gesagt, und das ist auch wahr, Miß Melly. Sklaven wissen immer alles viel eher als die Weißen. Ich wußte schon lang, wo er gewesen war, aber ich habe nichts gesagt, und er hat es auch nicht geleugnet, er sagte: >Ja, Mrs. Butler, da bin ich gewesen, und du brauchst gar nicht solchen Lärm zu machen. Dir ist es ja doch ganz gleich. Im Bordell fühlt man sich ordentlich geborgen nach der Hölle hier zu Hause. Belle hat das beste Herz von der Welt, sie schleudert mir nicht ins Gesicht, daß ich meinKind umgebracht habe.<«

»0 mein Gott!« Melanie war bis ins Innerste getroffen.

Ihr eigenes Leben verlief so freundlich, war so behütet und umhegt von Menschen, die sie liebhatten, so voller Glück, daß sie das, was Mammy erzählte, nicht fassen und nicht glauben konnte. Doch unversehens tauchte ihr eine Erinnerung auf, ein Bild, vor dem sie eilig die Augen schloß, wie vor dem Anblick eines nackten Menschen. Damals, als Rhett mit dem Kopf auf ihrem Schoß geweint hatte, war auch Belle Watlings Name gefallen. Aber er liebte doch Scarlett! Darin konnte sie sich unmöglich geirrt haben. Und selbstverständlich liebte Scarlett ihn. Was war denn nur zwischen sie getreten? Wie konnten denn Mann und Frau sich gegenseitig so quälen?

Bekümmert nahmMammyihre Geschichte wieder auf.

»Nach einer Weile kommt Miß Scarlett aus dem Zimmer und ist bleich wie ein Tischtuch, hat aber die Zähne zusammengebissen und sieht mich da stehen und sagt: >Die Beerdigung ist morgen, Mammy.< Und dann ist sie an mir vorbei wie ein Geist, und mir dreht sich aber das Herz um, denn was Miß Scarlett sagt, tut sie auch, und was Mister Rhett sagt, tut er auch, und er hat doch gesagt, er will sie totschlagen, wenn sie das tut. Ich bin ganz außer mir, Miß Melly, weil ich nämlich die ganze Zeit etwas auf dem Gewissen habe, und es drückt mich schrecklich. Miß Melly, ich habe der kleinen Miß vor demDunkeln bange gemacht.«

»Ach, Mammy, das ist doch jetzt ganz einerlei.«

»Nein, Missis, das ist es gar nicht, das ist ja die Geschichte. Ich dachte, besser ich sage es Mister Rhett, weil es mir gar zu schwer auf dem Gewissen liegt, auch wenn er mich dafür totschlägt, und dann bin ich drinnen, ehe er wieder abschließen kann, und sage: >Mister Rhett, ich muß etwas beichten.< Da fährt er herum wie ein Wahnsinniger und schreit: >Raus!< Ach mein Gott, mein Lebtag bin ich noch nicht so bange gewesen.

>Ach bitte, Mister Rhett<, sagte ich, >ich muß es sagen, es bringt mich sonst um, ich habe der kleinen Miß vor dem Dunkeln bange gemacht.< Den Kopf habe ich ihm hingehalten, Miß Melly, und gedacht, nun schlägt er mich, aber er sagte gar nichts. Da sage ich: >Ich habe es ja nicht bös gemeint, aber, Mister Rhett, das Kind war auch so unvorsichtig, und vor nichts war ihr bange. Und sie kam immer aus dem Bett, wenn schon alles schlief, und lief barfuß im Hause herum, und mir war so bange, sie kann sich weh tun, und darum habe ich ihr gesagt, im Dunkeln sind böse Geister und der schwarze Mann.<

Und dann, Miß Melly, wissen Sie was er dann getan hat? Sein Gesicht wird wieder ganz sanft, er kommt zu mir her und legt mir die Hand auf den Arm, zum erstenmal, daß er das getan hat, und er sagt: >Sie war doch ein tapferes Kind, nicht wahr. Vor nichts war ihr bange, nur vor dem Dunkeln. < Und als ich anfange zu weinen, sagte er: >Mammy, Mammy<, und streichelt mich und sagt: >Mammy, gräm dich nicht, ich bin froh, daß du es mir gesagt hast, ich weiß, du hast Miß Bonnie lieb, und darum schadet es auch nichts, nur auf das Herz kommt es an.< Ja, Missis, das hat mich ein bißchen getröstet, und da habe ich gewagt, ihn zu fragen: >Mister Rhett, wie wird es denn mit der Beerdigung?< Da fährt er wie ein Wilder über mich her und schreit: >Barmherziger Gott, ich dachte, wenigstens du verstehst mich, wenn mich sonst auch niemand versteht. Glaubst du denn, ich lege mein Kind ins Dunkle, wo ihm davor so bange ist? Ich höre sie ja jetzt noch schreien, wie damals, als sie im Dunkeln aufwachte. Es soll ihr nicht bange sein, hörst du?< Miß Melly, da wußte ich, daß er den Verstand verloren hat. Er hat getrunken und braucht Schlaf und was zu essen, aber das ist es nicht allein. Er ist richtig wahnsinnig, und er schiebt mich einfach aus der Tür und sagt: >Pack dich zum Teufel!<, und da gehe ich hinunter und denke in meinem Kopf, er hat doch gesagt, es gibt keine Beerdigung, und Miß Scarlett sagt, die Beerdigung ist morgen, und er sagt, er schlägt sie tot. Und all die Verwandten sind im Hause, und die Nachbarn gackern schon davon wie die Perlhühner. Und da habe ich an Sie gedacht, Miß Melly, Sie müssen uns helfen.«

»Ach, Mammy, wie kann ich mich denn da hineinmischen!« »Wenn Sie es nicht können, wer kann es dann?«

»Aber was soll ich nur dabei tun, Mammy?«

»Ich weiß nicht, Miß Melly, aber etwas können Sie sicher tun. Sie können Mister Rhett zureden, vielleicht hört er ja auf Sie. Er hält soviel von Ihnen, Miß Melly, und Sie wissen es vielleicht nicht, aber immer wieder hat er gesagt, Sie sind die einzige vornehme Dame, die er kennt.«

In großer Verwirrung stand Melanie auf. Ihr schauderte bei dem Gedanken, Rhett zu begegnen. Wie sollte sie dem Manne etwas abringen, der vor Schmerz wahnsinnig war! Das Herz blutete ihr, wenn sie sich vorstellte, daß sie nun in das hellerleuchtete Zimmer gehen sollte, wo sein geliebtes kleines Mädchen lag. Was sollte sie tun? Womit konnte sie Rhett in seinem Kummer trösten und zur Vernunft bringen? Einen Augenblick stand sie unschlüssig da, und durch die geschlossene Tür drang das helle Lachen ihres Jungen an ihr 0hr. Eiskalt durchfuhr sie plötzlich der Gedanke, auch er könne sterben. Wenn nun ihr Beau es wäre, der oben läge, sein kleiner Körper kalt und starr, sein frohes Gelächter für immer verstummt?

»0 Gott«, rief sie ganz laut in ihrer Angst, und im Geist drückte sie ihr Kind fest ans Herz. Wie gut konnte sie Rhett alles nachfühlen! Wenn Beau stürbe ... niemals könnte sie ihn fortbringen und in Sturm und Regen und Finsternis allein lassen!

»Der arme, arme Kapitän Butler! Auf der Stelle gehe ich zu ihm.«

Eilig ging sie ins Eßzimmer zurück, sagte Ashley ein paar Worte ins 0hr und erschreckte ihren kleinen Jungen fast damit, wie sie ihn ungestüm an sich preßte und seine blonden Locken inbrünstig küßte.

0hne Hut lief sie aus dem Hause, die Serviette hielt sie noch immer in der Hand, Mammys alte Beine konnten ihr kaum folgen. Als sie in Scarletts Halle war, nickte sie kurz der Familie zu, die in der Bibliothek versammelt war, die verängstigte Miß Pittypat, die stattliche alte Mrs. Butler, Will und Suellen. Rasch ging sie hinauf, Mammy keuchte hinter ihr her. Einen Augenblick blieb sie vor Scarletts verschlossener Tür stehen, aber Mammy zischelte: »Ach Gott, Missis, lieber nicht!«

Melanie durchschritt den Flur ein wenig langsamer und stand vor Rhetts Zimmer. Einen Augenblick zauderte sie, als wolle sie am liebsten wieder umkehren. Dann aber nahm sie sich zusammen wie ein Soldat vor der Schlacht, klopfte an und rief leise: »Bitte, lassen Sie mich ein, Kapitän Butler. Ich möchte Bonnie noch einmal sehen.«

Rasch öffnete sich die Tür. Mammy wich in den dunklen Flur zurück und sah Rhetts Gestalt riesengroß und dunkel vor den leuchtenden Kerzen stehen. Er schwankte, man roch den Whiskydunst in seinem Atem. Einen Augenblick sah er auf Melanie hernieder, dann nahm er sie beim Arm, zog sie herein und schloß die Tür.

Mammy sank erschöpft auf einen Stuhl, der nahe der Tür stand, ihr unförmiger Körper quoll nach allen Seiten über. Sie saß ganz still, weinte und betete vor sich hin. Hin und wieder hob sie den Saum ihres Kleides und wischte sich die Augen. Aber so angestrengt sie auch horchte, von drinnen drang kein Wort heraus, nur ein leises, häufig unterbrochenes Summen.

Nach einer endlosen Weile öffnete sich die Tür, und Mellys bleiches abgespanntes Gesicht zeigte sich.

»Rasch, bring mir eine Kanne Kaffee und etwas Butterbrot.«

Wenn der Teufel hinter ihr her war, konnte Mammy so flink wie ein geschmeidiges Sklavenmädchen von sechzehn Jahren sein. Ihre Begier, in Rhetts Zimmer zu gelangen, beflügelte sie bei ihrer Arbeit, aber ihre Hoffnung wurde enttäuscht, denn Melanie öffnete die Tür nur einen Spalt breit und nahm ihr das Tablett ab. Lange spitzte Mammy die scharfen 0hren, aber wieder konnte sie nichts verstehen. Sie hörte nur das Geklapper des Geschirrs und Melanies weiche, gedämpfte Stimme, und dann krachte eine Bettstelle wie unter einem schweren Körper, und man hörte Stiefel zu Boden fallen.

Nach einer Pause erschien Melanie an der Tür, aber soviel Mühe Mammy sich auch gab, sie konnte nicht an ihr vorbei ins Zimmer hineinschauen. Melanie sah müde aus, Tränen hingen ihr in den Wimpern, in ihren Zügen aber lag wieder die alte Klarheit.

»Geh, sag Miß Scarlett, Kapitän Butler hat nichts dagegen, daß die Beerdigung morgen stattfindet«, flüsterte sie.

»Gott sei Dank«, stieß Mammyhervor. »Wie in aller Welt ...«

»Nicht so laut! Er will schlafen. Und Mammy, sag auch Miß Scarlett, ich bleibe die ganze Nacht hier. Bring mit etwas Kaffee hierher!«

»Hierher?«

»Ja, ich habe Kapitän Butler versprochen, wenn er sich schlafen legt, wolle ich die ganze Nacht bei Bonnie wachen. Nun geh zu Miß Scarlett, damit sie sich nicht länger ängstigt.«

Mammy machte sich über den Flur auf den Weg. Unter ihrem schweren Körper erzitterte der Fußboden, in ihrem erlösten Herzen aber sang es »Hallelujah.« Nachdenklich blieb sie vor Scarletts Tür stehen, in ihrem Kopf gärte es vor Dankbarkeit und Neugier.

»Wie Miß Melly das wohl gemacht hat? Das soll nun einer begreifen! Die Engel streiten wohl auf ihrer Seite. Ich will es Miß Scarlett sagen, daß morgen die Beerdigung ist. Daß aber Miß Melly bei der kleinen Miß wacht, sage ich ihr lieber nicht. Das wird Miß Scarlett gar nicht recht sein.«

Die Welt war aus dem Gleichgewicht. Eine trostlose, beklemmende Verworrenheit drang von allen Seiten wie ein dichter, finsterer Nebel vor und zog sich tückisch um Scarlett zusammen. Diese Verworrenheit ihres ganzen Daseins ging ihr noch tiefer als der Schmerz um Bonnies Tod, dessen erste unerträgliche Seelenqual schon einem Gefühl der müden Ergebung Platz gemacht hatte. Die unheimliche Ahnung kommenden Unheils aber wollte nicht weichen. Ihr war, als laure etwas Schwarzverhülltes dicht hinter ihr und als verwandelte sich, wo sie auch hintrat der feste Boden unter ihren Füßen in Triebsand.

Derartige Ängste hatte sie noch nie erlebt. Ihr Leben lang hatte sie mit beiden Füßen fest auf der Erde gestanden und sich nur vor dem Sichtbaren gefürchtet, vor Unbill, Hunger, Armut und vor dem Verlust von Ashleys Liebe. Gefühle zu zergliedern, lag ihr nicht; dennoch versuchte sie es jetzt, aber umsonst. Ihr Lieblingskind hatte sie verloren - das wollte sie ertragen, wie sie schon mehr des Niederschmetternden ertragen hatte. Sie hatte ja ihre Gesundheit wieder, sie besaß so viel Geld, wie sie sich nur wünschen konnte. Auch ihren Ashley hatte sie immer noch, wenn sie ihn auch jetzt immer seltener sah. Nicht einmal die Befangenheit, die seit Melanies unseliger Überraschungsgesellschaft zwischen ihnen herrschte, konnte sie anfechten. Das ging vorüber. Nein, nicht Schmerz, nicht Hunger, nicht den Verlust ihrer Liebe fürchtete sie. Das hätte sie nie so zu Boden gedrückt wie dieses Gefühl völliger Verworrenheit, diese fressende Angst, die dem Grauen ihres alten bösen Traumes so schrecklich ähnelte, dem Traum von einem dichten, wallenden Nebel, in dem sie atemlos umherirrte, ein verlaufenes Kind, das eine Zuflucht sucht und nicht findet.

Sie dachte daran zurück, wie Rhett ihr immer die Ängste weggelacht hatte. Sie spürte im Geiste wieder den Trost, den sie an seiner bre iten braunen Brust und in seinen starken Armen gefunden hatte. Sie wendete sich ihm wieder zu. Seit Wochen zum erstenmal sah sie ihn richtig an. Da ward sie einer Veränderung inne und erschrak. Dieser Mann hatte das Lachen verlernt. Von ihm war kein Trost zu erwarten.

Nach Bonnies Tod war sie so empört über ihn gewesen, so tief in ihren eigenen Schmerz versunken, daß sie es nicht über sich gebracht hatte, mehr als einige höfliche Worte vor den Dienstboten an ihn zu richten. Allzu unverwischbar war ihr Bonnies flinkes Getrappel und sprudelndes Gelächter noch in der Erinnerung, als daß sie hätte bedenken können, wie schmerzvoll, schmerzvoller vielleicht noch als sie, auch er an alles zurückdachte.

In diesen Wochen waren sie zuvorkommend wie Fremde einander begegnet, die in dem unpersönlichen Raum eines Hotels zusammentreffen, unter einem Dache wohnen und miteinander zu Tisch gehen, ohne je einen Gedanken auszutauschen.

In ihrer Angst und Einsamkeit hätte sie die Schranke jetzt gern durchbrochen, aber er wahrte den Abstand, als sei ihm daran gelegen, nur das 0berflächlichste mit ihr zu bereden. Nun, da der Zorn verraucht war, wollte sie ihm gern sagen, daß sie ihm an Bonnies Tod keine Schuld gab. In seinen Armen wollte sie sich ausweinen und ihm gestehen, auch sie sei auf des Kindes Reitkünste über die Maßen stolz gewesen und über die Maßen nachsichtig gegen seine kleinen Schmeicheleien. Gern hätte sie sich nun vor ihm gedemütigt und gestanden, daß sie ihm nur aus ihrer eigenen, bitteren Herzensnot die furchtbare Anklage ins Gesicht geschleudert habe, um ihm weh zu tun und damit ihr eigenes Leid zu beschwichtigen. Aber der richtige Augenblick dafür wollte sich nicht einstellen.

Rhett schaute sie aus seinen schwarzen ausdruckslosen Augen an und gab ihr nicht die Gelegenheit, zu reden. Und je länger sie sich damit trug, desto schwerer wollte ihr die Bitte um Verzeihung über die Lippen kommen, und schließlich unterblieb sie ganz.

Warum das wohl sein mußte? Rhett war ihr Mann, sie hatten das Bett miteinander geteilt, sie hatten ein Kind gezeugt und geboren und es allzufrüh der Finsternis zurückgeben müssen, sie waren unlösbar aneinander gebunden. Trost gab es für sie nur bei dem Vater dieses Kindes, in dem Austausch von Erinnerungen und gemeinsamen Schmerzen, der zue rst vielleicht weh tut und dennoch lindernd und heilsam sein konnte. Nun aber stand es so zwischen ihnen, daß sie ebensogut einem völlig Fremden hätte in die Arme sinken können.

Er blieb nur selten zu Hause. Saßen sie einmal zusammen beim Abendessen, so war er meistens betrunken, aber anders als früher. Ehedem war sein Wesen unter dem Alkohol immer noch schärfer und bissiger geworden, er hatte von boshaften, witzigen Bemerkungen gesprüht, über die sie wider Willen hatte lachen müssen. Jetzt war er unwirsch und stumm und betrank sich oft im Laufe des Abends bis zur Sinnlosigkeit. Manchmal hörte sie ihn im Morgengrauen zum Hintergarten hereinreiten und bei den Dienstboten anklopfen, damit Pork ihm die Hintertreppe hinaufhelfe und ihn zu Bett bringe. Ihn zu Bett bringen, Rhett Butler, der ohne mit der Wimper zu zucken alle anderen immer unter den Tisch getrunken und dann ins Bett gepackt hatte!

Er war jetzt nachlässig in seinem Äußeren und durchaus nicht mehr elegant und gepflegt wie früher. Der entsetzte Pork mußte ihm jedesmal kräftig zureden, ehe er sich zum Abendessen ein reines Hemd anzog. Der Whisky verriet sich auch in seinen Zügen. Eine ungesunde Gedunsenheit verwischte die harten Linien seines scharfgeschnittenen Kinns, und unter seinen blutunterlaufenen Augen hingen schwere Tränensäcke. Der große Körper mit den festen Muskeln wurde schlaff und weich und zeigte Ansätze zur Beleibtheit.

0ftmals kam er überhaupt nicht nach Hause oder schickte gar Bescheid, er werde auswärts übernachten. Natürlich war es möglich, daß er irgendwo betrunken in einer Kneipe schnarchte, aber Scarlett war immer überzeugt, er halte sich bei Belle Watling auf. Einmal war sie Belle in einem Laden begegnet. Sie war jetzt eine verwelkte, vulgär aussehende Frau, von deren Schönheit nicht mehr viel übrig war. Dennoch hatte sie unter ihrer Schminke und all ihrem Putz etwas Kerngesundes und fast Mütterliches. Anstatt die Augen niederzuschlagen oder aber sie frech anzugaffen, wie andere lockere Frauenzimmer es taten, wenn sie einer Dame be gegneten, erwiderte Belle nur einfach und ruhig ihren musternden Blick. Still und fast mitleidig prüfend sah sie sie an, und Scarlett mußte erröten.

Aber zum Schimpfen und Schelten, zu Forderungen und Vorwürfen konnte sie sich jetzt ebensowenig entschließen wie zu der Bitte um Verzeihung für das Unrecht, das sie ihm bei Bonnies Tod angetan hatte. Etwas wie ein tatenloses, verstörtes Staunen hielt sie im Bann, das ihr selbst unbegreiflich war und sie so unglücklich machte, wie sie sich noch nie gefühlt hatte, so einsam, wie sie noch nie gewesen war. Vielleicht hatte sie bis jetzt nie die Zeit gehabt, ganz einsam zu sein. Nun war sie einsam und fürchtete sich. Sie hatte niemanden, zu dem sie gehen konnte, niemanden außer Melanie. Sogar Mammy, ihr Stab und ihre Stütze, war für immer nach Tara zurückgekehrt.

Mammy hatte für ihre Abreise keine deutliche Erklärung gegeben. Traurig hatte sie Scarlett aus ihren müden alten Auge angeblickt, als sie um das Reisegeld bat, und hatte auf Scarletts Fragen und Tränen nur die eine Antwort gehabt: »Mir ist, als sagte Miß Ellen zu mir: >Mammy, komm nach Hause, deine Arbeit ist getan.< Darumwill ich nun nach Hause gehen.«

Rhett hatte diesem Gespräch zugehört, er hatte Mammy das Geld gegeben und ihr den Arm gestreichelt.

»Du hast recht, Mammy. Miß Ellen hat ganz recht. Du hast deine Arbeit hier getan. Geh nach Hause und gib mir Bescheid, wenn du irgend etwas brauchst.« Als Scarlett sie von neuem ausfragen wollte, fiel er ihr ins Wort: »Du verstehst das nicht. Halt' sie nicht. Wie sollte denn jetzt ein Mensch noch in diesem Hause bleiben mögen?«

Seine Augen flackerten dabei so grell und wild, daß Scarlett erschrocken zurückfuhr.

»Dr. Meade, wäre es möglich, daß er ... daß er den Verstand verloren hat?« fragte sie den Arzt, als ihre Ratlosigkeit sie dorthin getrieben hatte.

»Nein«, erwiderte der Doktor, »aber er säuft wie ein Schlauch, und er wird sich zu Tode saufen, wenn es so weitergeht. Er hat das Kind liebgehabt, Scarlett, und möchte wohl gern vergessen. Ich rate Ihnen gut, Scarlett, schenken Sie ihm wieder ein Kind, so bald wie möglich.«

»Ach«, dachte Scarlett erbittert, als sie das Sprechzimmer verließ, »das ist leichter gesagt als getan.« Gern hätte sie noch ein Kind gehabt, noch mehrere Kinder, wenn sie damit Rhetts Augen ihr unheimliches Flackern nehmen und die schmerzliche Leere ihres eigenen Herzens ausfüllen könnte. Einen Jungen von Rhetts dunkler männlicher Schönheit und ein kleines Mädchen, ach noch ein kleines Mädchen, hübsch und lustig, voll fröhlichen Trotzes, nicht wie die fahrige kleine Ella. Wenn Gott ihr eins ihrer Kinder nehmen mußte, warum - ach, warum konnte es dann nicht Ella sein? Ella war ihr kein Trost nach Bonnies Hinscheiden. Aber Rhett wollte offenbar keine Kinder mehr haben. Wenigstens kam er nie in ihr Schlafzimmer, obwohl die Tür nicht mehr abgeschlossen war, sondern meist sogar einladend offenstand. Ihm war wohl nicht daran gelegen. Ihm lag an nichts mehr als amWhisky und an jener rothaarigen Person.

Sein witziger Spott war bitter geworden, seine Ausfälle hatten etwas Unmenschliches, seitdem der Humor sie nicht mehr milderte. Nach Bonnies Tode hatten viele Damen aus der Bekanntschaft, deren Herz er durch sein reizendes Verhältnis zu seiner Tochter gewonnen hatte, den Wunsch, ihm eine Freundlichkeit zu erweisen. Voller Teilnahme redeten sie ihn auf der Straße an oder sagten ihm über ihre Hecke hinweg, wie sie mit ihm empfänden. Aber mit Bonnie, der im Grunde all sein liebenswürdiges Wesen gegolten hatte, waren auch seine guten Manieren wieder dahin. Schroff und unhöflich ließ er die wohlmeinenden Damen mit ihrem Beileid stehen.

Aber seltsamerweise ließen sie sich dadurch nicht kränken. Sie verstanden ihn oder glaubten, ihn zu verstehen. Wenn er in der Dämmerung so betrunken heimritt, daß er sich kaum noch im Sattel hielt und jedem, der ihn ansprach, nur ein finsteres Gesicht wies, sagten die Damen: »Armer Kerl« und verdoppelten ihre Freundlichkeit und Güte ihm gegenüber. Er tat ihnen von Herzen leid, wie er da völlig gebrochen nach Hause ritt, und zu Hause erwartete ihn Scarlett als einziger Trost!

Alle wußten sie ja, wie kalt und herzlos sie war, und alle waren entgeistert, wie leicht sie über Bonnies Tod hinwegzukommen schien. Welche Willensanstrengung es sie aber kostete, diesen Schein zu wahren,danach fragte niemand. Für Rhett hatte die ganze Stadt das wärmste Mitgefühl, und er gab nichts darum, ja, er bemerkte es kaum. Für Scarlett aber empfand man nur Abneigung, und diesmal hätte sie um das Mitgefühl ihrer alten Freunde viel gegeben.

Keiner von ihnen suchte sie mehr auf, außer Tante Pitty, Melanie und Ashley. Nur die »neuen Leute« kamen in ihren glänzenden Equipagen vorgefahren, versicherten sie angelegentlich ihres Mitgefühls und erzählten ihr, um sie auf andere Gedanken zu bringen, Klatsch, der sie nicht im geringsten interessierte. Alle die »neuen Leute« waren ihr von Herzen fremd. Sie kannte sie ja nicht und konnte sie auch niemals kennenlernen. Von allem, was sie aber selber erlebt hatte, ehe sie sich sicher und geborgen in ihrem fürstlichen Hause niederlassen konnte, hatten sie keine Vorstellung; was sie aber selber erlebt hatten, ehe sie sich, angetan mit steifem Brokat, von schönen Pferden in ihrer eleganten Chaise spazierenfahren ließen, davon sprachen sie nicht gern. Sie wußten nichts von Scarletts Kämpfen und Entbehrungen, nichts von all dem Schweren, womit das prächtige Haus und die schönen Kleider, das kostbare Silber und die glänzenden Gesellschaften erkauft waren. Diese »neuen Leute« hatten keinen Begriff davon und fragten nicht danach. Sie kamen von Gott weiß woher und lebten immer nur an der 0berfläche. Keinerlei Erinnerung an Krieg, Hunger und Daseinskampf hatte Scarlett mit ihnen gemein - auch nicht die rote Heimaterde, in der sie wurzelte.

Gern hätte sie jetzt in ihrer Einsamkeit die Nachmittage mit Maybelle und Fanny, mit Mrs. Elsing und Mrs. Whiting, ja sogar mit der herrschgewaltigen Mrs. Merriwether verplaudert - mit jeder beliebigen nachbarlichen Freundin von ehedem. Sie waren ja mit allem vertraut, was sie selbst durchgemacht hatte. Krieg, Feuersbrunst und Entsetzen hatten sie miterlebt und den vorzeitigen Tod geliebter Angehöriger. Sie waren in Lumpen gegangen, hatten gehungert und den Wolf vor der Tür lauem sehen. Sie hatten sich alle aus Trümmern ihr Leben neu erbaut.

Tröstlich wäre es, sich mit Maybelle zu unterhalten. Auch sie hatte ein kleines Kind begraben, das ihr auf der Flucht vor Sherman gestorben war. Fannys Gesellschaft täte ihr wohl, auch sie hatte in den schwarzen Tagen des Kriegsrechts ihren Mann verloren. Und welch grimmiges Vergnügen wäre es, mit Mrs. Elsing zusammen über alte Erinnerungen zu lachen - über das Gesicht, mit dem sie damals auf ihr Pferd einhieb, als sie am Tage von Atlantas Fall durch Five Points galoppierte und alles, was sie an Vorräten glücklich erbeutet hatte, ihr aus dem Wagen polterte. Schön wäre es, mit Mrs. Merriwether, die jetzt von ihrer Bäckerei sorglos lebte, Erinnerungen austauschen zu dürfen. Zu sagen: »Wissen Sie noch, wie wir uns den Kopf zerbrachen, woher wir ein Paar Schuhe nehmen sollten? Wie stehen wir jetzt da!«

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Ja, das wäre schön. Jetzt begriff sie, warum zwei frühere Konföderierte, sobald sie zusammentrafen, sich mit Genuß über den Krieg unterhalten konnten, voller Stolz und Sehnsucht. Die Zeiten hatten die Herzen erprobt, und man war durchgekommen. Das waren Veteranen. Auch Scarlett war eine Veteranin, aber sie hatte keine Kriegskameraden, mit denen sie die alten Schlachten noch einmal durchleben konnte. Ach, könnte sie doch wieder mit Menschen ihrer Art zusammen sein, die das gleiche durchgemacht hatten und wußten, wie weh es tat - und daß es doch überhaupt erst den Menschen ausmachte!

Aber die Freunde waren ihr entglitten, sie wußte nicht wie. Sie erkannte, daß sie selbst die Schuld daran trug. Bisher hatte sie nie Verlangen nach ihnen empfunden - erst jetzt, seitdem Bonnie tot war und sie einsam und angstvoll an ihrem spiegelnden Eßtisch einem braunen, betrunkenen Fremden gegenübersaß, der vor ihren Augen zugrunde ging.

61

Scarlett befand sich in Marietta, als Rhetts dringendes Telegramm kam. In zehn Minuten ging ein Zug nach Atlanta, und sie erwischte ihn noch. Als einziges Gepäck hatte sie ihren Pompadour bei sich. Wade und Ella ließ sie mit Prissy im Hotel zurück.

Atlanta war nur zwanzig Meilen entfernt. Endlos holperte der Zug durch den feuchten Herbstnachmittag und hielt an jedem Seitenweg, um Fahrgäste aufzunehmen. Rhetts Depesche hatte Scarlett einen Todesschrecken eingejagt. Vor Ungeduld hätte sie bei jedem Aufenthalt laut schreien mögen. Durch die Wälder mit ihrem müden, matten Goldton ging es nur langsam an roten Hängen vorbei, die noch immer von Schützengräben

durchschnitten waren, an alten Geschützstellungen und

unkrautverwachsenen Granattrichtern vorüber, die Straße entlang, auf der Johnstons Leute sich Schritt für Schritt den bitteren Rückzug erkämpft hatten. Jede Station und jede Wegkreuzung, die der Zugführer ausrief, trug den Namen einer Schlacht, bedeutete die Stätte eines Gefechts. Früher hätten sie in Scarlett schreckliche Erinnerungen ausgelöst, jetzt aber hatte sie keinen Gedanken dafür übrig.

Rhetts Telegramm hatte gelautet:

»Mrs. Wilkes krank, sofort kommen.«

Die Dämmerung war schon hereingebrochen, als der Zug in Atlanta einfuhr. Ein leichter Septemberregen verhüllte die Stadt. Matt leuchteten die Gaslaternen, gelbe Flecken im Nebel. Rhett war mit dem Wagen am Bahnhof. Der Anblick seines Gesichts erschreckte sie noch mehr als sein Telegramm. So ausdruckslos hatte sie es noch nie gesehen.

»Sie ist doch nicht ...«, rief sie ihm entgegen.

»Nein, sie lebt noch.« Rhett half ihr in den Wagen. »Zu Mrs. Wilkes, so schnell Sie können«, sagte er zum Kutscher.

»Was fehlt ihr denn? Ich wußte nicht, daß sie krank war. Vorige Woche sah sie noch ganz wohl aus. Ihr ist doch nichts zugestoßen? Ach, Rhett, es kann doch nicht so ernst sein ...«

»Sie liegt im Sterben«, sagte Rhett, und seine Stimme war so ausdruckslos wie sein Gesicht. »Sie möchte dich noch sehen.«

»Melly? Nein, doch nicht Melly? Was ist denn nur mit ihr geschehen?« »Sie hat eine Fehlgeburt gehabt.«

»Eine Fehlgeburt ... aber Rhett ... sie ...«, stammelte Scarlett. Auch das noch! Es verschlug ihr den Atem.

»Hast du denn nicht gewußt, daß sie ein Kind erwartete?«

Scarlett konnte nicht einmal den Kopf schütteln.

»Ach ja, sie hat es niemandem gesagt. Es sollte eine Überraschung sein. Aber ich habe es gewußt.«

»Du wußtest es? Sie wird es dir doch nicht erzählt haben?«

»Das brauchte sie nicht. Ich wußte es. Sie war die letzten zwei Monate so ... glücklich, das konnte gar keinen anderen Grund haben.«

»Aber Rhett, der Doktor hat doch gesagt, ein zweites Kind wäre ihr Tod.«

»Es ist auch ihr Tod«, sagte Rhett, und dann zum Kutscher: »Um Gottes willen, können Sie nicht schneller fahren?«

»Aber Rhett, sie kann doch nicht daran sterben! Ich habe es doch auch überlebt ...«

»Sie ist nicht so kräftig wie du. Kraft hat sie überhaupt nie gehabt. Sie hatte immer nur Herz.«

Mit einem Ruck hielt der Wagen vor dem niedrigen kleinen Haus. Rhett half Scarlett heraus. Zitternd vor Angst und plötzlich sehr einsam, faßte sie ihn am Arm.

»Du kommst doch mit?«

»Nein«, sagte er und stieg wieder in den Wagen.

Sie flog die Treppe hinauf, lief über die Veranda und stieß die Tür auf. Da standen im gelben Lampenschein Ashley, Tante Pitty und India. Scarlett dachte: »Was hat India hier zu suchen? Melanie hat ihr doch verboten, den Fuß je wieder über ihre Schwelle zu setzen.« Als die drei sie erblickten, standen sie auf, Tante Pitty biß sich auf die bebenden Lippen, um die Fassung zu bewahren. India sah ihr tiefbekümmert und ohne Haß ins Gesicht, Ashley hatte den stumpfen Ausdruck eines Schlafwandlers, und als er auf sie zukam und ihr seine Hand auf den Arm legte, sprach er auch wie im Schlaf.

»Sie hat nach dir verlangt. Sie will dich sehen.«

»Darf ich jetzt zu ihr?« Sie ging auf die geschlossene Tür von Melanies Zimmer zu.

»Nein, jetzt ist Dr. Meade bei ihr. Gut, daß du gekommen bist.«

»So schnell ich konnte.« Scarlett legte Hut und Mantel ab. »Der Zug ... ist sie denn wirklich ... es geht ihr doch besser, nicht wahr, Ashley? So rede doch! Mach nicht solch Gesicht! Sie ist doch nicht ernstlich ...«

»Sie hat immer wieder nach dir gefragt.« Ashley schaute ihr in die Augen, und in seinen Blicken las sie die Antwort auf ihre Frage. Das Herz stand ihr still, dann hub etwas in ihrer Brust an zu hämmern, eine sonderbare Furcht, stärker als Angst, stärker noch als das Leid. »Es kann nicht wahr sein!«, dachte sie ungestüm und suchte die Furcht zurückzudrängen. »Ein Arzt kann sich irren, es kann nicht, wahr sein, ich kann es nicht glauben. Sonst müßte ich ja schreien. Ich muß an etwas anderes denken.«

»Es ist nicht wahr«, sagte sie heiser und blickte in die drei eingefallenen Gesichter, als fordere sie sie zum Widerspruch auf. »Warum hat Melanie es mir nicht gesagt? Hätte ich es gewußt, ich wäre niemals nach Marietta gegangen.«

Da wachten Ashleys Augen auf und blickten gequält vor sich hin.

»Sie hat es keinem erzählt, Scarlett, dir am allerwenigsten. Sie fürchtete, du würdest schelten. Sie wollte warten, bis keine Gefahr mehr wäre, und euch dann alle überraschen und die dummen Ärzte auslachen. Sie war so glücklich. Du weißt ja, wie ihr Herz daran hing, wie sie sich ein kleines Mädchen wünschte. Alles ging ja so gut, bis ... und ohne jeden Grund kam dann ...«

Leise öffnete sich die Tür zu Melanies Zimmer. Dr. Meade kam heraus und schloß sie wieder. Einen Augenblick stand er stumm da - den grauen Bart tief auf die Brust gesenkt, und sah die vier Menschen an, die, als die Tür ging, zu erstarren schienen. Zuletzt fiel sein Blick auf Scarlett Als er ihr entgegenkam, sah sie den Gram in seinen Augen, dazu Widerwillen und Verachtung, und schuldbewußt pochte ihr das erschrockene Herz.

»Da sind Sie endlich«, sagte er.

Ehe sie antworten konnte, ging Ashley auf die geschlossene Tür zu. »Noch nicht«, sagte Dr. Meade. »Sie will erst Scarlett sprechen.«

»Doktor«, sagte India und legte ihm die Hand auf den Arm. Ihre Stimme war ganz tonlos und wirkte dabei noch flehender als ihre Worte.

»Lassen Sie mich einen Augenblick zu ihr. Seit heute morgen bin ich hier und warte ... lassen Sie mich einen Augenblick hinein, ich will ihr sagen, ich muß ihr sagen, daß ich unrecht gehabt habe ...«

Sie sah dabei weder Ashley noch Scarlett an. Dr. Meade warf einen kalten Blick auf Scarlett.

»Wir wollen sehen, Miß India«, sagte er kurz. »Aber nur, wenn Sie mir Ihr Wort geben, daß Sie sie nicht mit Ihrem Bekenntnis anstrengen werden. Sie weiß, daß Sie unrecht hatten, und es beunruhigt sie nur, wenn Sie sie deshalb umVerzeihung bitten.«

Pitty fing schüchtern an: »Bitte, Dr. Meade ...«

»Miß Pitty, Sie schreien mir ja nur und fallen in 0hnmacht.«

Pitty reckte die rundliche kleine Gestalt und gab dem Doktor seinen Blick zurück. Keine Träne war in ihren Augen, sie war ganz Würde.

»Also gut, Kind, aber einen Augenblick noch«, sagte der Doktor freundlicher. »KommenSie, Scarlett.«

Auf Zehenspitzen gingen sie durch die Halle nach der geschlossenen Tür. Da packte der Doktor Scarlett fest an der Schulter.

»Hören Sie zu, meine Beste«, flüsterte er kurz, »daß Sie mir keine Szene machen, keine Geständnisse am Totenbett, oder, bei Gott, ich drehe Ihnen den Hals um. Sehen Sie mich nicht so unschuldig an, Sie wissen, was ich meine. Miß Melly soll leicht hinübergehen, Sie aber brauchen sich nicht Ihr Gewissen dadurch zu erleichtern, daß Sie ihr etwas über Ashley sagen. Von mir hat noch keine Frau etwas auszustehen gehabt, aber wenn Sie jetzt nicht den Mund halten, bekommen Sie es mit mir zu tun!«

Ehe sie antworten konnte, öffnete er die Tür, schob sie hinein und schloß dann hinter ihr zu. Das kleine Zimmer mit seinen billigen Nußbaummöbeln lag im Halbdunkel, die Lampe war mit einer Zeitung abgedeckt. Es war so klein und schlicht wie das Zimmer eines Schulmädchens, das schmale Bett mit dem niedrigen Kopfende, die einfachen gerafften Tüllgardinen, der frisch gewaschene, verblichene Flickenteppich auf dem Boden, das alles war so anders als Scarletts eigenes üppiges Schlafzimmer mit den gewaltigen geschnitzten Möbeln, den Brokatvorhängen und dem Teppich mit dem Rosenmuster.

Melanie lag im Bett, ihre flache mädchenhafte Gestalt verlor sich fast unter der Steppdecke. Zwei schwarze Zöpfe lagen zu beiden Seiten ihres Gesichts, die geschlossenen Augen waren tief in violette Ringe gebettet. Scarlett lehnte sich an die Tür und konnte nicht weiter. Selbst in diesem Halbdunkel wirkte Melanies Gesicht wachsgelb, alles Blut des Lebens war herausgeströmt. Die Nase war wie zusammengekniffen. Bis jetzt hatte Scarlett gehofft, daß der Doktor sich irrte, nun aber wußte sie, wie es stand. Während des Krieges hatte sie zuviel Gesichter mit diesem eingekniffenen Zug um die Nase gesehen. Sie wußte, was es unweigerlich zu bedeuten hatte.

Melanie lag im Sterben. Das war nicht zu fassen. Es war unmöglich, Melanie durfte nicht sterben. Gott konnte es nicht zulassen. Scarlett hatte sie doch so bitter nötig. Bislang war es ihr nie in den Sinn gekommen, daß sie Melanie brauchte, jetzt aber ging ihr die Wahrheit auf, überwältigend bis in den tiefsten Grund ihrer Seele. Auf Melanie hatte sie sich verlassen wie auf sich selbst, und hatte es nie gewußt. Nun sollte Melanie sterben, und nun wußte Scarlett, daß sie sie nicht entbehren konnte. Jetzt, während sie sich auf Zehenspitzen der stillen Gestalt näherte und das Entsetzen ihr ans Herz griff, wurde ihr bewußt, daß Melanie ihr Schwert und ihr Schild, ihr Trost und ihre Kraft gewesen war.

»Ich halte sie fest, ich kann sie nicht lassen«, dachte sie bei sich und sank mit raschelnden Röcken neben dem Bett auf die Knie. Sie ergriff die schlaffe Hand, die auf der Decke lag, und erschrak über ihre Kälte.

»Ich bin es, Melanie«, sagte sie.

Melanies Augen öffneten sich ein klein wenig und fielen dann wieder zu, als wäre sie nun überzeugt und beruhigt, daß es wirklich Scarlett war. Nach einer Pause holte sie Atem und flüsterte:

»Versprichst du mir ...«

»Alles!«

»Beau ... sorgst du für ihn?«

Scarlett konnte nur nicken, es würgte ihr in der Kehle, und zum Zeichen ihres Versprechens drückte sie sanft die Hand, die sie in der ihren hielt.

»Ich vermache ihn dir.« Die Spur eines Lächelns umspielte ihren Mund. »Ich habe ihn dir schon einmal vermacht ... weißt du noch ... vor seiner Geburt.«

Und ob sie es noch wußte! Konnte sie denn jene Stunde jemals vergessen? Als wäre der schreckliche Tag leibhaftig wieder da, so deutlich spürte sie die stickige Hitze des Septembernachmittags und ihre Angst vor den Yankees, vernahm den Marschtritt der Truppen auf dem Rückzug und Melanies Stimme, die ihr das Kind anvertraute für den Fall, daß sie sterben sollte - und sie erinnerte sich, daß sie damals Melanie gehaßt hatte und gehofft, sie möge sterben.

»Ich habe sie getötet«, dachte sie in abergläubischer Angst. »Sooft habe ich mir gewünscht, sie möge sterben, daß Gott es gehört hat, und nun straft er mich.«

»Ach, Melly, sprich nicht so! Du kommst noch durch ...«

»Nein, versprich es mir.«

Scarlett schluckte.

»Das ist doch selbstverständlich. Er soll sein wie mein eigenes Kind.« »Universität?« fragte Melanies schwache, kaumhörbare Stimme.

»Gewiß! Universität, Harvard, Europa, alles, was er will ... und ... ein Pony ... Musikstunden ... ach, bitte, bitte, Melanie nimm alle Kraft zusammen!«

Es wurde wieder still. Sie sah an Melanies Gesicht, wieviel Mühe es sie kostete, weiterzusprechen.

»Ashley«, sagte sie, »Ashley und du ...« Ihre Stimme verlor sich und verstummte.

Da, als Ashleys Name fiel, stand Scarlett das Herz still, kalt wie ein Stein. Melanie hatte von Anfang an alles gewußt. Scarlett ließ den Kopf auf die Decke sinken. Ein Schluchzen, das ihr im Halse festsaß, sprengte ihr schier die Kehle. Melanie wußte es! Scarlett war jetzt darüber hinaus, sich zu schämen. Als einziges Gefühl blieb ihr die wilde Gewissensqual, daß sie all die langen Jahre hindurch diesem sanften Herzen weh getan hatte. Melanie hatte es gewußt und hatte doch immer als eine treue Freundin zu ihr gehalten. Ach, könnte sie doch all die Jahre noch einmal leben! Sie würde nie wieder auch nur einen Blick mit Ashley tauschen.

»0 Gott«, betete sie hastig, »bitte, bitte, laß sie nicht sterben! Ich will alles wiedergutmachen. Gut will ich zu ihr sein, solange ich lebe, ich will kein Wort mehr mit Ashley sprechen, wenn du sie nur wieder gesund machst.«

»Ashley«, sagte Melanie wieder matt und langte mit den Fingern nach Scarletts gesenktem Kopf. Mit Daumen und Zeigefinger zupfte sie sie mit der geringen Kraft eines kleinen Kindes am Haar. Scarlett wußte, was das zu bedeuten hatte. Sie sollte Melanie ins Auge schauen, aber sie konnte es nicht. Sie konnte nicht Melanie an den Augen ablesen, daß sie es wußte.

»Ashley«, hauchte Melanie wieder. Scarlett nahm sich zusammen. Wenn sie dereinst beim Jüngsten Gericht Gott ansah und in seinen Augen das Urteil über sich las, es konnte nicht so furchtbar sein wie dies. Gequält hob sie den Kopf.

Sie sah nur die immer gleichen dunklen, liebevollen Augen, die tief eingesunken und schon vom Tode überschattet waren, den immer gleichen zarten Mund, der müde in Schmerzen um Atem rang. Nichts von Vorwurf, nichts von Anklage, nichts von Furcht, nur die Sorge, daß die Kraft zum Sprechen ihr schwinde.

Scarlett war einen Augenblick zu betäubt, um auch nur ei ne Erleichterung zu fühlen. Dann aber, als sie Melanies Hand fester faßte, durchflutete sie ein warmes Dankgefühl gegen Gott, und zum erstenmal seit ihrer Kindheit sprach sie ein demütiges uneigennütziges Gebet.

»Ich danke dir, Gott. Ich bin es nicht wert, aber ich danke dir, daß du es sie nicht hast wissen lassen.« »Was ist mit Ashley, Melly?«

»Du ... sorgst du für ihn?«

»Ja, gewiß.«

»Er erkältet sich ... so leicht.«

Eine Weile herrschte Schweigen.

»Kümmerst dich umsein Geschäft ... du verstehst doch?«

»Ich verstehe, ich helfe ihm.« Dann, mit großer Anstrengung: »Ashley ist ... so unpraktisch.«

Nur der Tod konnte Melanie das entreißen.

»Sorge für ihn, Scarlett ... aber ... laß es ihn niemals merken.«

»Ich sorge für ihn, und ich sorge für sein Geschäft, und er soll es niemals merken. Nur gute Ratschläge will ich ihm geben.«

Es gelang Melanie, ein wenig zu lächeln, triumphierend fast, als ihre Augen Scarletts Blicke nun wieder begegneten. So wurde der Pakt geschlossen. Eine Frau übergab der andern die Pflicht, Ashley Wilkes vor einer allzu rauhen Welt zu beschirmen, ohne daß er dessen innewerde und sein Mannesstolz darunter leide.

Jetzt beruhigte sich das müde Gesicht wieder, als wäre mit Scarletts Versprechen ihre Seele getröstet.

»Du bist so tüchtig ... so tapfer ... warst immer so gut zu mir ...«

Da brach sich in Scarlett das Schluchzen endlich Bahn, und sie hielt sich die Hand vor den Mund, um es nicht hemmungslos wie ein Kind heraus zuschreien: »Ein Satan bin ich gewesen! Bitteres Unrecht habe ich dir angetan! Für dich habe ich nichts getan. Es war alles, alles nur für Ashley.«

Rasch stand sie auf und grub ihre Zähne in den Daumen, um sich wieder in die Gewalt zu bekommen. Rhetts Worte fielen ihr ein: »Sie hat dich lieb, das Kreuz mußt du nun auf dich nehmen.« Von nun ab wog das Kreuz noch schwerer. Schlimm genug, daß sie auf jede Art getrachtet hatte, Melanie ihren Mann wegzunehmen; nun aber legte die Frau, die ihr, solange sie lebte, blind vertraute, ihr auch noch sterbend die gleiche Liebe und das gleiche Vertrauen aufs Gewissen. Nein, sie durfte nichts verraten, durfte ihr nicht einmal sagen: »Nimm alle Kraft zusammen und bleib leben!« Kampflos und leicht, ohne Tränen, ohne Kummer mußte sie sie scheiden lassen.

Die Tür öffnete sich. Dr. Meade stand auf der Schwelle und winkte gebieterisch. Scarlett unterdrückte ihre Tränen, beugte sich über das Bett und legte sich Melanies Hand an die Wange.

»Gute Nacht«, sagte sie ruhiger, als sie es für möglich gehalten hätte. »Versprich mir ...«, hauchte es ganz, ganz leise.

»Alles, mein Liebling.«

»Kapitän Butler ... sei gut zu ihm. Er liebt dich so sehr.«

»Rhett?« dachte Scarlett bestürzt. Sie konnte sich nichts dabei vorstellen.

»Ja, gewiß«, erwiderte sie mechanisch, streifte die Hand der Sterbenden leise mit den Lippen und legte sie zurück aufs Bett.

»Sagen Sie den Damen, sie sollen hereinkommen«, flüsterte ihr der Doktor zu, als sie zur Tür hinausging.

Durch den Schleier ihrer Tränen sah sie India und Pitty ihm in das Krankenzimmer folgen, die Röcke eng an sich gedrückt, damit sie nicht raschelten. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Das Haus war ganz still. Von Ashley war nichts zu sehen. Wie ein ungezogenes Kind, das in die Ecke gestellt ist, legte Scarlett den Kopf an die Wand und preßte die Hand gegen die schmerzende Kehle.

Dort hinter der Tür ging nun Melanie dahin und mit ihr die Kraft, auf die sie sich die vielen Jahre verlassen hatte, ohne es zu wissen. Warum erkannte sie erst jetzt, wie sehr sie Melanie liebte und brauchte? Wer hätte auch in dieser kleinen unscheinbaren Frau eine Säule der Kraft vermutet? In Melanie, die vor Fremden bis zu Tränen schüchtern war und sich scheute, auch nur ihre eigene Meinung laut zu äußern, die sich fürchtete, alten Damen zu mißfallen, Melanie, die nicht den Mut hatte, eine Gans zu verscheuchen? Und dennoch ...

Im Geiste versetzte sich Scarlett um Jahre zurück in den stillen heißen Nachmittag auf Tara, da der graue Pulverdampf über einer Leiche im blauen Rods schwebte und Melanie mit Charles' schwerem Säbel in der Hand oben an der Treppe stand. Es fiel Scarlett wieder ein, wie sie damals gedacht hatte: »Zu dumm! Sie kann den Säbel nicht einmal aus der Scheide ziehen!« Aber jetzt wußte sie, wäre es nötig gewesen, Melanie wäre die Treppe hinuntergestürzt und hätte den Yankee erschlagen oder wäre selber dabei umgekommen.

Ja, damals hatte Melanie mit dem Säbel in der kleinen Faust bereitgestanden, umfür sie zu kämpfen.

Und jetzt, da sie trauervoll zurücksah, erkannte Scarlett, wie Melanie immer mit dem Schwerte in der Hand neben ihr gestanden hatte, so selbstverständlich wie ihr eigener Schatten, wie sie sie liebgehabt und mit blinder, leidenschaftlicher Treue für sie gekämpft hatte gegen die Yankees, gegen Feuer, Hunger und Armut, gegen das Urteil der Menschen und sogar gegen die eigene geliebte Familie.

All ihren Mut und ihr Selbstvertrauen fühlte Scarlett langsam verrinnen, als ihr aufging, daß das Schwert, das sie vor der Welt geschützt hatte, jetzt auf immer in der Scheide stak.

»Melanie ist meine einzige Freundin gewesen«, dachte sie in ihrer Verlassenheit, »neben Mutter die einzige Frau, die mich wirklich geliebt hat. Und sie ist auch wie Mutter. Jeder, der sie kannte, hat sich ihr an den Rock gehängt.«

Auf einmal war ihr, als läge Ellen dort hinter der verschlossenen Tür und verließe die Welt zum zweitenmal. Sie stand wieder auf Tara, und die Welt brandete um sie her. Sie aber war untröstlich in der Erkenntnis, daß sie dem Leben nicht gewachsen war ohne die unerklärliche und unüberwindliche Kraft der Schwachen, Sanften und Zarten.

Unschlüssig und angstvoll stand sie in der Halle. Vom Wohnzimmer her warf das flackernde Kaminfeuer große trübe Schatten auf die Wände ringsum. Kein Laut ließ sich hören. Die Stille drang in sie ein wie feiner eisiger Regen. Ashley! Wo war Ash ley?

Sie ging ins Wohnzimmer wie ein frierendes Tier, das das Feuer sucht, aber er war nicht da. Sie mußte ihn finden. Melanies Kraft hatte sie erst entdeckt in dem Augenblick, da sie sie verlor, aber Ashley war noch da. Ashley war stark und weise, bei ihm war Trost. In Ashley und seiner Liebe lag die Kraft, an die sich ihre Schwäche lehnen konnte, der Mut, der ihre Angst beruhigte, die Linderung für ihren Gram.

Er mußte wohl in seinem Zimmer sein. Auf Zehenspitzen ging sie durch die Halle und klopfte leise an. Da keine Antwort erfolgte, öffnete sie die Tür. Ashley stand am Toilettentisch und betrachtete ein Paar von Melanies geflickten Handschuhen. Zuerst nahm er den einen und schaute auf ihn, als hätte er ihn noch nie gesehen, dann legte er ihn sachte wieder hin, als wäre er aus Glas, und nahm den anderen zur Hand.

Mit bebender Stimme sagte sie: »Ashley.« Er wendete sich langsam um und sah sie an. Alle seine verträumte Unnahbarkeit war aus seinen grauen Augen verschwunden, sie waren weit geöffnet und trugen keine Maske, Angst sah sie darin, die ihrer eigenen glich, Hilflosigkeit, die noch schwächer war als die ihre, tiefere Ratlosigkeit, als sie selbst je empfunden hatte. Das Grauen, das sie soeben verspürt, verstärkte sich, als sie sein Gesicht sah. Sie trat zu ihm.

»Mir ist bange«, sagte sie. »Ach, Ashley, halte mich, mir ist so bange!«

Er wendete sich ihr nicht zu, er starrte vor sich hin und packte den Handschuh fest mit beiden Händen. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und flüsterte: »Was ist?«

Seine Augen forschten inständig in ihrem Gesicht, suchten, suchten verzweifelt nach etwas, was er nicht darin fand. Endlich sprach er, und es war nicht seine Stimme.

»Mich verlangte nach dir«, sagte er. »Ich wollte zu dir laufen ... laufen wie ein Kind, das sich trösten lassen will ... und nun finde ich ein Kind, das sich noch mehr fürchtet als ich und zu mir gelaufen kommt.«

»Du? Du kannst dich doch nicht fürchten«, rief sie ihm zu. »Dich hat nie etwas geängstigt. Du warst doch immer so stark ...«

»Wenn ich jemals stark war, dann nur, weil sie hinter mir stand«, sagte er mit brechender Stimme, schaute auf den Handschuh hernieder und strich die Finger glatt. »Nun geht alle Kraft, die ich gehabt habe, mit ihr dahin.«

Seine Stimme klang so verzweifelt, daß sie die Hand sinken ließ und vor ihm zurückwich. In dem drückenden Schweigen, das nun eintrat, spürte sie, daß sie ihn eigentlich zum erstenmal in ihrem Leben verstand.

»Aber«, sagte sie langsam. »Du liebst sie doch, Ashley, nicht wahr?« Es kostete ihn Mühe, zu sprec hen.

»Sie ist der einzige meiner Träume, der gelebt und geatmet hat und vor der Wirklichkeit bestand.«

»Träume«, dachte sie, und die alte Gereiztheit wollte sich wieder regen. »Immer Träume, nie ein wenig gesunder Menschenverstand!«

Mit schwerem und ein wenig bitterem Herzen sagte sie: »Du bist ein Tor gewesen. Ashley. Hast du denn nicht gesehen, daß sie millionenmal soviel wert ist wie ich?«

»Scarlett, bitte! Wenn du wüßtest, was ich durchgemacht habe, seitdem der Doktor ...«

»Was du durchgemacht hast! Meinst du, ich ... ach, Ashley, seit Jahren hättest du wissen müssen, daß du sie liebst und nicht mich. Warum hast du das nicht gewußt? Alles wäre dann anders gekommen, ganz anders. Du hättest es erkennen müssen und mich nicht zappeln lassen mit all deinem Gerede von Ehre und Verzicht! Hättest du es mir vor Jahren gesagt ... so oder so hätte ich es ertragen. Aber bis jetzt, bis Melly stirbt, hast du gebraucht, um dahinterzukommen, und nun ist es zu spät. Ach, Ashley, so etwas muß doch der Mann wissen ... die Frau kann es nicht. Es hätte dir doch sonnenklar sein müssen, daß du sie all die Zeit geliebt und mich nur begehrt hast... wie Rhett die Watling.«

Unter ihren Worten zuckte er zusammen, doch schaute er ihr immer noch in die Augen mit einem Blick, der um Schweigen, um Trost flehte. Jeder Zug in seinem Gesicht gab ihr recht. Schon die gebeugten Schultern zeigten ihr, daß er sich selbst so grausam quälte, wie sie selber es nie vermochte. Stumm stand er vor ihr, den Handschuh in der Faust, als wäre es eine verständnisvolle Hand, und in der Stille, die nun folgte, fiel alle Entrüstung von ihr ab. Das Mitleid kam über sie, mit einem Anflug von Verachtung. Sie machte sich bittere Vorwürfe. Einen geschlagenen wehrlosen Mann trat sie mit Füßen und hatte doch Melanie versprochen, für ihn zu sorgen.

»Kaum habe ich es ihr versprochen, da sage ich ihm gemeine verletzende Worte, die überhaupt nicht gesagt zu werden brauchen. Er weiß, wie es ist, und geht daran zugrunde«, dachte sie untröstlich. »Er ist eben kein erwachsener Mensch. Er ist ein Kind wie ich und ganz krank vor Angst, weil er sie nun verliert. Melanie wußte, was kommen mußte ... Melanie hat ihn viel besser gekannt als ich. Darum auch nannte sie ihn und Beau in einem Atemzug, als sie mir sagte, daß ich für sie sorgen sollte. Wie kann Ashley dies je überstehen? Ich überstehe es, ich halte alles aus. Ich habe schon viel aushalten müssen. Er aber kann es nicht, er hält nichts aus ohne sie.«

»Vergib mir, Lieber«, sagte sie sanft und streckte die Arme aus. »Ich weiß, wie weh es tut. Aber sie weiß ja nichts, ihr ist nie der kleinste Verdacht gekommen ... so gut hat Gott es mit uns gemeint.«

Rasch kam er auf sie zu und umfaßte sie und wußte kaum, was er tat. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, legte ihre warme Wange tröstend gegen die seine und strich ihm über das Haar.

»Weine nicht, Lieber. Ihr zuliebe mußt du tapfer sein. Gleich wird sie dich sehen wollen, dann mußt du tapfer sein. Sie darf nicht merken, daß du geweint hast, sonst quält sie sich.«

Er hielt sie so fest umschlungen, daß sie kaum atmen konnte, und flüsterte mit halberstickter Stimme: »Was soll ich tun? Ich kann nicht ... ich kann nicht ohne sie leben.«

»Ich auch nicht«, dachte sie und sah die langen Jahre ohne Melanie vor sich, die nun kommen sollten, und schloß schaudernd die Augen. Aber mit aller Kraft nahm sie sich zusammen. Jetzt mußte sie für Ashley sorgen. Einst, da sie auf Tara erschöpft und halb betrunken im Mondenschein gelegen, war ihr schon einmal die Erkenntnis gekommen: »Lasten sind für Schultern da, die stark genug sind, sie zu tragen.« Ja, ihre Schultern waren stark und Ashleys nicht. So nahm sie denn die Last auf die Schultern, und mit einer Ruhe, die sie keineswegs wirklich verspürte, küßte sie ihm die nasse Wange, ohne Fieber, ohne Leidenschaft und Verlangen, ganz kühl und sanft.

»Wir kommen schon durch ... so oder so«, sagte sie.

Jäh wurde eine Tür nach der Halle geöffnet, Dr. Meades Stimme ertönte scharf und dringend:

»Ashley! Schnell!«

»Mein Gott, sie ist tot«, dachte Scarlett, »und Ashley war nicht bei ihr, umAbschied zu nehmen.«

»Schnell!« rief sie ihn an und rüttelte ihn, denn er starrte wie betäubt vor sich hin. »Schnell!«

Sie drängte ihn zur Tür hinaus. Von ihrem Wort elektrisiert, lief er in die Halle hinaus, den Handschuh immer noch fest in der Hand. Ein paar rasche Schritte, dann hörte sie die Tür gehen.

»Mein Gott«, sagte sie noch einmal. Langsam ging sie ans Bett, setzte sich darauf und ließ den Kopf in die Hände sinken. Auf einmal fühlte sie sich so müde wie noch nie im Leben. Als dann die Tür ins Schloß fiel, riß die Spannung plötzlich ab, die sie aufrechtgehalten hatte. Sie war zu Tode erschöpft und keines Gefühls mehr mächtig. Nicht Kummer und Gewissensbisse empfand sie mehr, nicht Furcht und Schaudern. Sie war nur müde. Das Hirn tickte ihr dumpf und mechanisch wie die Uhr auf dem Kamin.

Ein Gedanke nur stieg aus ihrer Stumpfheit empor. Ashley liebte sie nicht, hatte sie in Wirklichkeit auch nie geliebt, und diese Erkenntnis tat nicht weh. Eigentlich sollte es doch weh tun. Untröstlich sollte sie sein und gebrochenen Herzens mit dem Schicksal hadern. Lange, lange hatte sie sich auf seine Liebe gestützt, auf vielen dunklen Wegen war sie ihr Halt gewesen. Und doch war es so, er liebte sie nicht, und ihr war es gleichgültig. Es war ihr gleichgültig, weil auch sie ihn nicht liebte. Sie liebte ihn nicht, und darum konnte nichts von all seinen Worten und Taten sie mehr schmerzen.

Sie legte sich aufs Bett und rückte den Kopf müde auf dem Kissen zurecht. Vergeblich wehrte sie sich gegen den Gedanken, vergeblich sagte sie sich: »Aber ich liebe ihn doch, ich habe ihn Jahre und Jahre geliebt. Liebe kann doch nicht in einem Augenblick zur Gleichgültigkeit werden!«

Aber Liebe konnte sich wandeln und hatte es getan.

»Er war von jeher überhaupt nur in meiner Einbildung vorhanden«, dachte sie matt. »Ich habe etwas geliebt, was ich mir zurechtgemacht habe, was von vornherein tot war wie Melly jetzt. Ein schönes Gewand habe ich gemacht und mich darin verliebt. Als Ashley dahergeritten kam, ein hübscher Junge, nur ganz, ganz anders, da habe ich ihm das Gewand angezogen und es ihn seither tragen lassen, ob es ihm paßte oder nicht. Wer er in Wirklichkeit war, das habe ich nie gesehen. Die ganze Zeit hindurch habe ich das schöne Gewand geliebt, ihn aber nicht.«

Und nun mußte sie über die Jahre zurückblicken und sah sich in dem grüngeblümten Barchentkleid im Sonnenschein auf Tara stehen, hingerissen von dem jungen Reiter und seinem blonden Haar, das in der Sonne glänzte wie ein silberner Helm. Jetzt erkannte sie deutlich, daß er eigentlich nur eine Kinderlaune von ihr war, so unerheblich wie die Aquamarin- 0hrringe, die sie als verwöhntes kleines Mädchen Gerald abgeschmeichelt hatte. Sobald sie sie besaß, war ihr Wert dahin, wie alles - bis auf Geld - seinen Wert verlor, wenn man es erst einmal hatte. So wäre es ihr auch mit ihm ergangen, hätte sie in jenen ersten längst vergangenen Tagen die Genugtuung gehabt, seine Hand ausschlagen zu können. Hätte sie ihn je in der Gewalt gehabt und ihn Feuer fangen sehen, hätte er eifersüchtig gegrollt und gefleht wie die anderen Jungen, die Betörung wäre ihr vergangen wie Morgendunst vor der Sonne, sobald ihr ein anderer Mann begegnet wäre ...

»Wie töricht bin ich gewesen!« dachte sie bitter. »Nun muß ich dafür bezahlen. Nun ist es soweit, wie ich es mir oft gewünscht habe. Melanie sollte sterben, damit ich ihn haben könnte. Nun ist sie tot, nun habe ich ihn und will ihn nicht mehr. Um seiner verwünschten Ehre willen wird er mich fragen, ob ich mich von Rhett scheiden lassen und ihn heiraten will. Heiraten? Nicht geschenkt nähme ich ihn. Und doch habe ich ihn nun mein Leben lang auf dem Halse. Solange ich lebe, muß ich darauf achthaben, daß er nicht verhungert und daß man ihm nicht zu nahetritt. Er ist noch ein Kind mehr, das mir am Rock hängt. Meinen Liebsten habe ich verloren und dafür ein Kind mehr. Hätte ich es nicht Melanie versprochen ... es machte mir nichts, ihn nie wiederzusehen.«

Sie hörte draußen leise Stimmen, ging an die Tür und sah unten im Flur die verängstigten Schwarzen stehen, Dilcey mit dem schlafenden Beau auf dem Arm, an dem sie sichtlich schwer trug, 0nkel Peter in Tränen, Cookie, die sich das breite, nasse Gesicht mit der Schürze trocknete. Alle drei sahen sie Scarlett an und fragten sie stumm, was sie nun tun sollten.

Im Wohnzimmer standen India und Tante Pitty und hielten einander wortlos bei der Hand, und dieses eine Mal war von India alle Steifheit gewichen. Gleich den Sklavenn blickten auch sie flehend zu Scarlett auf, d aß sie ihnen eine Weisung gebe. Sie ging ins Wohnzimmer, die beiden kamen hinter ihr her.

»Ach, Scarlett«, begann Tante Pitty mit bebender Kinderstimme.

»Sprich kein Wort, oder ich fange an zu schreien«, sagte Scarlett. Sie hatte die Hände in die Seite gestemmt, die überreizten Nerven schärften ihren Ton, der Gedanke, sie solle jetzt von Melanie sprechen und die unvermeidlichen Anordnungen treffen, die ein Todesfall nach sich zieht, preßte ihr von neuem die Kehle zusammen. »Kein Wort, hört ihr?«

Vor ihrem herrischen Ton wichen sie mit hilflos verletztem Ausdruck zurück. »Ich darf vor ihnen nicht weinen«, dachte sie. »Ich darf mich nicht gehenlassen, dann weinen sie auch, und dann fangen die Schwarzen an zu heulen, und wir werden alle verrückt. Ich muß mich zusammennehmen. Es gibt soviel zu tun. Den Bestattungsunternehmer muß ich bestellen und die Beerdigung festsetzen, ich muß dafür sorgen, daß das Haus saubergemacht wird, ich muß zur Stelle sein und für alle Leute freundliche Worte finden, die an meinem Halse weinen wollen. Ashley kann es nicht, Pitty und India können es auch nicht. Ich muß es tun. Ach, immer wieder schwere Lasten, immer die Lasten der andern!«

Sie schaute India und Pitty in die verstörten Gesichter und war zerknirscht. Melanie hätte es nicht gefallen, daß sie so scharf mit den Menschen umging, die sie so liebhatten.

»Seid nicht böse«, brachte sie mühsam hervor. »Es kommt nur daher, daß ich ... verzeih, Tantchen, daß ich unfreundlich war. Ich gehe einen Augenblick auf die Veranda. Ich muß jetzt allein sein. Dann komme ich wieder und wir ...«

Sie streichelte Tante Pitty und lief an ihr vorüber zur Haustür. Wäre sie eine Sekunde länger dageblieben, mit ihrer Selbstbeherrschung wäre es vorbei gewesen. Sie mußte allein sein. Weinen mußte sie, sonst brach ihr das Herz.

Sie trat auf die dunkle Veranda und zog die Tür hinter sich zu. Die feuchte Nachtluft kühlte ihr das Gesicht. Der Regen hatte aufgehört, sie hörte nur ab und zu das Wasser aus der Dachrinne tropfen, sonst keinen Laut. Die Welt war in dichten, eisigen Nebel gehüllt, der den Hauch des sterbenden Jahres in sich trug. Auf der Straße waren alle Häuser dunkel bis auf eins, das Licht der Lampe kämpfte vergeblich gegen den Nebel an. Goldene Tröpfchen glitzerten im Schein. Ihr war, als läge die ganze Welt in einer regungslosen Hülle von grauem Dunst. Die ganze Welt schwieg.

Sie lehnte den Kopf an einen Pfosten der Veranda und wollte weinen, aber es kamen keine Tränen. Dieses Unglück war für Tränen zu groß. Ihr Körper bebte. Ihr Herz hallte noch wider von dem Krachen, mit dem die beiden unbezwinglichen Burgen ihres Lebens donnernd eingestürzt waren. Eine Weile stand sie da und versuchte die Kraft ihres alten Zauberspruchs: »Morgen denke ich über all das nach, morgen, wenn ich es besser ertrage«, aber der Zauber hatte seine Kraft verloren. An zwei Dinge mußte sie jetzt denken - an Melanie, wie innig sie sie brauchte und liebte, an Ashley und ihren Eigensinn, der sie blind gegen das gemacht hatte, was er in Wirklichkeit war. Daran zu denken aber tat morgen und an jedem kommenden Tag ihres Lebens genauso weh wie jetzt. »Ich kann nicht wieder hinein und mit ihnen sprechen«, dachte sie. »Jetzt kann ich Ashley nicht trösten, heute abend nicht mehr! Morgen früh komme ich zeitig und tue alles, was getan werden muß, und sage die Trostworte, die sie von mir erwarten. Heute abend kann ich es nicht. Ich gehe nach Hause.«

Es waren nur fünf Häuserblocks bis nach Hause. Sie wollte nicht darauf warten, daß der schluchzende Peter den Einspänner anspannte oder Dr. Meade sie nach Hause fuhr. Weder den Tränen des einen noch den schweigenden Vorwürfen des andern fühlte sie sich gewachsen. Rasch lief sie ohne Hut und Mantel die dunklen Verandastufen hinunter in die nebelige Nacht hinein. Sie ging um die Ecke und dann weiter langsam zur Pfirsichstraße hinauf. Sie schritt durch die nasse schweigende Welt, sogar ihre Schritte waren lautlos wie im Traum.

Während sie so hinaufstieg, die Brust beklommen von ungeweinten Tränen, überkam sie ein träumerisches Gefühl, als hätte sie an diesem trüben frostigen 0rt unter ähnlichen Umständen schon einmal geweilt, nicht nur einmal, sondern oft. »Zu albern«, dachte sie furchtsam und beschleunigte ihren Schritt. Es waren ihre Nerven, die ihr diesen Streich spielten. Aber das Gefühl wollte nicht weichen und erfüllte unmerklich ihre ganze Seele.

Unsicher spähte sie um sich. Das Gefühl nahm zu, unheimlich und doch vertraut. Witternd hob sie den Kopf wie ein Tier, wenn Gefahr im Anzüge ist. »Es ist nur die Abspannung«, suchte sie sich zu beruhigen, »und die Nacht ist so seltsam. Einen so dichten Nebel habe ich noch nie gesehen ... außer ... außer ...«

Da wußte sie es, und die Angst preßte ihr das Herz zusammen. Ja, jetzt wußte sie es. Hundert Male war sie im Traum durch solchen Nebel geflohen, durch ein gespenstisches Land ohne vertraute Merkzeichen, dicht in kalten Nebel eingehüllt, der von drohenden Geistern und Schatten wimmelte. Träumte sie wieder, war ihr Traum nun Wirklichkeit geworden?

Einen Augenblick entglitt ihr die Wirklichkeit, sie wußte nicht, wo sie war. Das alte Traumgefühl durchwogte sie stärker als je, ihr Herz hämmerte rasend. Wieder stand sie mitten in der Stille des Todes wie damals auf Tara. Alles, worauf es in der Welt ankam, war verschwunden, das Leben lag in Trümmern, das Grauen heulte wie ein Sturmwind in ihrem Herzen. Das Entsetzen legte Hand an sie, und sie fing an zu laufen. Wie sie hundertmal im Traum gelaufen war, so lief sie auch jetzt und floh blindlings dahin, von sinnloser Angst getrieben, in dem grauen Nebel nach dem sicheren Hafen suchend, der irgendwo lag.

So ging sie die dämmerige Straße hinauf, vorgestreckten Kopfes und pochenden Herzens. Die kalte Nachtluft benetzte ihr Antlitz, die Bäume drohten zu ihr herab. Irgendwo in dieser feuchten, stillen Wüste lag der Zufluchtsort! Keuchend stürzte sie weiter hinauf, die nassen Röcke schlugen ihr kalt um die Enkel, die Lunge wollte ihr bersten, das festgeschnürte Korsett preßte ihr die Rippen ins Herz.

Dann tauchte vor ihren Augen ein Licht auf, eine ganze Reihe von trüben, aber wirklichen Lichtern. In ihrem Alpdruck hatte sie sonst nie ein Licht gesehen, nur immer grauen Nebel. Ihr Denken klammerte sich an dieses Licht. Es bedeutete Geborgenheit, Wirklichkeit, Menschen. Sie blieb stehen, krampfte die Hände zusammen und riß sich mit Gewalt aus ihrer Betäubung. Unverwandt starrte sie auf die Reihe von Gaslampen, die ihrem Hirn das Zeichen gegeben hatten. Hier war die Pfirsichstraße, hier war Atlanta und nicht die graue Welt der Geister und des Schlafes. Ganz außer Atem sank sie auf einen Prellstein nieder und suchte ihre Nerven in die Gewalt zu bekommen.

»Ich bin ja wie eine Irre gelaufen«, dachte sie. »Wo wollte ich denn hin?« Da saß sie, die Hand auf dem Herzen, schaute die Pfirsichstraße hinauf und atmete ruhiger. Dort oben lag ihr Haus, hell, als sei in jedem Fenster Licht, über das der Nebel keine Macht hatte. Daheim! Etwas wie Ruhe kam über sie. Nach Hause. Das war also, wohin sie gewollt hatte. Nach Hause zu Rhett.

Bei dieser Erkenntnis schienen Ketten von ihr abzufallen und mit ihnen die Angst, die sie verfolgt hatte seit jener Nacht, da sie tödlich erschöpft nach Tara gekommen und die Welt zu Ende gewesen war. Damals war alles dahin gewesen, alle Sicherheit, Kraft und Weisheit, alle Zärtlichkeit und alles Verständnis, was in Ellen den Segen ihrer Mädchenzeit verkörpert hatte. Wohl hatte sie inzwischen die äußere Sicherheit erlangt, aber in ihren Träumen war sie immer noch das geängstigte Kind, das nach der verlorenen Geborgenheit jener entschwundenen Welt auf der Suche war.

Nun erkannte sie den Hafen, den sie in ihren Träumen gesucht, die Stätte des Schutzes, die der Nebel ihr stets verhüllt hatte. Es war nicht Ashley ... nie im Leben! In ihm war nicht mehr Wärme als im Irrlicht, nicht mehr Sicherheit als auf dem Flugsand. Es war Rhett, der starke Arme hatte, sie zu beschützen, eine Brust, an der sie ihren müden Kopf bergen konnte, ein spöttisches Lachen, vor dem ihre Sorgen klein wurden, und ein Verständnis, das wie sie die Wirklichkeit wirklich sah und nicht durch die Schleier hohler Begriffe von Ehre und 0pfer entstellte. Er liebte sie! Warum hatte sie nicht erkannt, daß er trotz aller Boshaftigkeit, die ihr das Gegenteil weismachen sollte, sie liebte? Melanie hatte es erkannt und ihr mit dem letzten Atemzug ans Herz gelegt: »Sei gut zu ihm.«

»Ach«, dachte sie bei sich, »Ashley ist nicht der einzige törichte verblendete Mensch. Auch ich hätte sehen müssen.«

Jahrelang hatte sie nun die steinerne Mauer von Rhetts Liebe im Rücken gehabt und so selbstverständlich hingenommen wie Melanies Liebe, in dem eitlen Wahn, sie schöpfe alle Kraft aus sich selbst. Wie sie erst jetzt erkannt hatte, daß Melanie ihr überall zur Seite gestanden, so ging ihr nun auf, daß auch Rhett stets schweigend und hilfsbereit hinter ihr gestanden hatte. Rhett auf dem Basar, wie er ihr die Ungeduld an den Augen ablas und sie zum Tanze führte, Rhett, der ihr die Knechtschaft der Trauer sprengte, Rhett, der sie durch die Feuersbrunst von Atlanta geleitete, Rhett, der ihr das Geld lieh, mit dem sie ihre Existenz gründete, Rhett, der sie tröstete, wenn sie in der Nacht aus Alpdrücken erwachte ... das alles tat doch kein Mann, wenn er eine Frau nicht bis zum Wahnsinn liebte!

Von den Bäumen tropfte die Nässe auf sie herab, aber sie spürte es nicht. Der Nebel umhüllte sie, und sie achtete nicht darauf. Sie dachte an Rhetts braunes Gesicht, seine weißen Zähne und seine dunklen prüfenden Augen, und ein Zittern durchlief sie.

»Ich liebe ihn!« Auch dies nahm sie ohne viel Verwunderung hin, wie ein Kind, das sich etwas schenken läßt. »Wie lange schon, weiß ich nicht, aber es ist so. Wäre nicht Ashley gewesen, ich hätte es längst erkannt. Ich bin überhaupt nie fähig gewesen, die Welt zu sehen, wie sie ist, weil immer Ashley mir im Wege stand.«

Sie liebte ihn, den Taugenichts, den Schurken, der keine Gewissensbisse und keine Ehre kannte, wenigstens nicht die Ehre, die Ashley besaß. »Verwünscht sei Ashleys Ehre«, dachte sie. »Ashleys Ehre hat mich immer im Stich gelassen. Ja, vom ersten Augenblick an, da er nicht aufhörte, mich zu besuchen, obwohl er wußte, daß er Melanie heiraten würde. Rhett aber hat mich nie im Stich gelassen. Auch nicht nach jenem furchtbaren Abend von Mellys Gesellschaft, als er mir den Hals hätte umdrehen sollen. Selb st als er mich in der Nacht auf der Landstraße verließ, wußte er, daß mir nichts geschehen würde. Er wußte, irgendwie käme ich durch. Auch im Gefängnis, als er so tat, als wolle er mich für das Darlehen bezahlen lassen. Er hätte mich nicht genommen, er wollte mich nur prüfen. Immer und immer hat er mich geliebt, und ich bin schlecht gegen ihn gewesen. Immer wieder habe ich ihm weh getan, und er war zu stolz, es sich anmerken zu lassen. Und als Bonnie starb ... ach, wie konnte ich nur!«

Entschlossen stand sie auf. Noch vor einer halben Stunde hatte sie gemeint, sie habe alles auf der Welt verloren, was das Leben lebenswert machte, Ellen, Gerald, Bonnie, Mammy, Melanie und Ashley. Alle hatte sie sie verlieren müssen, ehe sie zu der Erkenntnis kam, daß sie Rhett liebte, weil er stark war und skrupellos, leidenschaftlich und erdhaft wie sie selbst.

»Ich will ihm alles sagen«, nahm sie sich vor. »Er wird mich verstehen, er hat mich immer verstanden. Ich will ihm sagen, wie töricht ich gewesen bin und daß ich ihn liebe und alles wiedergutmachen will.«

Auf einmal fühlte sie sich stark und glücklich. Ihr bangte nicht mehr vor Nebel und Dunkelheit. Frohlockenden Herzens spürte sie, ihr werde nun nie wieder bange sein. Einerlei, was für Nebel ihre Zukunft umwallten, sie wußte, wo ihre Zufluchtsstätte war. Rasch machte sie sich auf den Weg nach Hause. Sie raffte die Röcke zusammen und begann leichtfüßig zu laufen, aber nicht aus Angst. Nun lief sie, weil am Ende der Straße Rhetts Arme sie erwarteten.

Die Haustür war nur angelehnt. Atemlos kam Scarlett in die Halle gelaufen und blieb einen Augenblick unter den glitzernden Prismen des Kronleuchters stehen. Bei all seiner Helligkeit war das Haus ganz still. Es war aber nicht die friedliche Stille des Schlummers, sondern eine müde, schlaflose Stille, die nichts Gutes verhieß. Auf den ersten Blick sah sie, daß Rhett sich weder im Salon noch in der Bibliothek befand, und ihr sank das Herz. Wenn er nun fort war ... bei Belle oder wo er sonst die vielen Abende zubrachte! Damit hatte sie nicht gerechnet.

Sie war schon ein paar Stufen hinaufgestiegen, um ihn zu suchen, als sie sah, daß die Tür zum Eßzimmer geschlossen war. Ihr Herz zog sich zusammen vor Scham, als sie der vielen Abende dieses Sommers gedachte, da Rhett dort allein gesessen und getrunken hatte, bis er berauscht war, und Pork kommen mußte, um ihn mit sanfter Gewalt ins Bett zu bringen. Ihre Schuld war es gewesen, aber es sollte anders werden. Alles sollte von nun an anders werden. »Lieber Gott, laß ihn heute abend nicht betrunken sein! Wenn er zuviel getrunken hat, glaubt er mir nicht und lacht mich aus, und das bricht mir das Herz.«

Leise öffnete sie die Tür und spähte hinein. Er rekelte sich in seinem Stuhl am Tisch, eine volle Karaffe stand vor ihm, aber der Krist allstöpsel war noch darauf, und das Glas war unbenutzt. Gottlob, er war nüchtern! Sie machte die Tür auf und mußte an sich halten, nicht zu ihm zu laufen.

Als er aber zu ihr hinsah, hielt sie etwas in seinem Blick auf der Schwelle zurück und verschlug ihr die Worte.

Unverwandt sah er sie aus schweren müden Lidern mit dunklen Augen an, in denen kein Funke sprühte. 0bwohl ihr das Haar bis auf die Schultern herabfiel, ihre Brust sich atemlos hob und senkte und ihr Kleid mit Schmutz bespritzt war, veränderte seine Miene sich nicht. Nichts von Überraschung, keine Frage, keine spöttisch verzogenen Lippen. Zusammengesunken saß er auf seinem Stuhl, der Anzug warf unordentliche Falten, jede Linie kündete von dem Verfall eines schönen Körpers, der Verrohung eines edle n Gesichts. Trunk und Ausschweifung hatten ihr Werk an dem scharf geprägten Profil getan. Dies war nicht mehr der Kopf eines jungen Heidenfürsten auf frisch gemünztem Golde, sondern ein schlaffer, müder Cäsar auf einem abgegriffenen Kupferstück. Er betrachtete sie, wie sie mit der Hand auf dem Herzen dastand, ruhig, fast freundlich, und es ängstigte sie.

»Kommher, setz dich«, sagte er. »Sie ist tot?«

Sie nickte und kam zaudernd näher, ihr Herz wurde unsicher bei diesem fremden Ausdruck in seinem Gesicht. 0hne aufzustehen, schob er mit dem Fuß einen Stuhl für sie zurecht, und sie sank darauf nieder. Lieber wäre ihr gewesen, er hätte nicht gleich von Melanie angefangen. Sie wollte jetzt nicht von ihr sprechen und die Seelenängste der letzten Stunden nochmals durchleben. Sie konnten ja ihr ganzes Leben lang noch von Melanie reden. So wild trieb sie das Verlangen, ihm zuzurufen: »Ich liebe dich!«, daß sie nur diese eine Nacht, nur diese eine Stunde zu haben vermeinte, um Rhett zu sagen, was ihr auf der Seele brannte. Aber in seinem Gesicht lag etwas, was sie hemmte, und plötzlich schämte sie sich, von Liebe zu sprechen, wo Melanie kaumerkaltet war.

»Gott gebe ihr Frieden«, sagte er bekümmert. »Sie war der einzige durch und durch gütige Mensch, den ich gekannt h abe.«

»0 Rhett«, jammerte sie. Seine Worte stellten ihr alles Gute, was Melanie für sie getan hatte, allzu lebhaft vor die Seele. »Warum bist du nicht mitgekommen! Es war furchtbar ... ich hatte dich so nötig.«

»Ich hätte es nicht ertragen«, sagte er schlicht und schwieg einen Augenblick. Dann setzte er wieder mühsam an und sagte: »Eine ganz große Dame.«

Sein düsterer Blick ging über ihren Kopf hinweg, und in seinen Augen erkannte sie dasselbe wieder, was sie an dem Abend, da Atlanta fiel, im Flammenschein darin gesehen hatte, damals, als er ihr sagte, er wolle sich der rückflutenden Armee anschließen: das Staunen eines Menschen, der sich selbst genau kennt und dennoch mit einer Spur von Selbstverspottung unerwartete Regungen und Bindungen in sich entdeckt.

Seine schwermütigen Augen blickten über ihre Schultern hinweg, als sähe er Melanie schweigend aus dem Zimmer gehen. In seinem Gesicht lag, wie es von ihr Abschied nahm, kein Kummer und kein Schmerz, sondern nur ein grüblerisches Staunen über sich selbst, nur das jähe Wiederaufleben eines Gefühls, das seit seiner Knabenzeit erstorben war. Er sagte noch einmal: »Eine ganz große Dame.«

Scarlett erschauerte, und die Glut erlosch in ihrem Herzen, die schöne Wärme, die sie auf beschwingten Flügeln nach Hause getrieben hatte. Ihr dämmerte, was in Rhetts Gemüt vorging, als er von diesem einzigen Menschen Abschied nahm, den er auf der Welt hochgeachtet hatte, und wieder überkam sie das trostlose Gefühl der Unwiederbringlichkeit so mächtig, daß es weit über die Gestalt der Toten hinauswuchs. Sie konnte nicht ganz nachfühlen und erkennen, was er empfand, doch ihr war, als hätten auch sie leise raschelnde Kleider gestreift in einer letzten zarten Liebkosung. Durch Rhetts Augen hindurch sah sie es vorüberziehen - nicht eine Frau, sondern eine Sagengestalt, die Verkörperung der sanften, selbstlosen und doch stahlharten Frau, auf die der Süden im Kriege gebaut und in deren stolze liebevolle Arme er nach der Niederlage heimgekehrt war.

Sein Blick kam zurück, seine Stimme hatte einen anderen Ton, kühl und leichthin sagte er:

»Nun ist sie also tot. Jetzt hast du es gut, nicht wahr?«

»Wie kannst du nur so etwas sagen!« Der Pfeil hatte getroffen, rasche Tränen traten ihr in die Augen. »Du weißt doch, wie ich sie geliebt habe!«

»Nein, das kann ich nicht behaupten. Es kommt mir ganz unerwartet, und es macht dir in Anbetracht deiner Vorliebe für minderwertige Naturen Ehre, daß du sie endlich zu würdigen weißt.«

»Wie kannst du nur so reden? Selbstverständlich habe ich gewußt, was ich an ihr hatte. Du aber nicht. Du hast sie nicht so gekannt wie ich! Du hast nicht den Sinn dafür, zu verstehen, wie gut sie war ...«

»So? Mag sein ...«

»Sie dachte an alle, nur nicht an sich selbst. Ja, und mit ihren letzten Worten sprach sie von dir.«

In seinen Augen leuchtete es von echtem Gefühl auf, als er sich rasch zu ihr umwendete.

»Was hat sie gesagt?« »Ach, jetzt nicht, Rhett.« »Sag!«

Sein Ton war kühl, aber seine Hand, die nach ihrem Gelenk griff, tat ihr weh. Sie wollte es ihm nicht sagen, auf diesem Wege hatte sie nicht von ihrer Liebe anfangen wollen, aber gegen seinen Griff kam sie nicht auf.

»Sie hat gesagt ... sie hat gesagt ... >Sei gut zu Kapitän Butler, er liebt dich so sehr.«

Er sah sie groß an und ließ ihre Hand los. Dann senkten sich die Lider, sein Gesicht war dunkel und leer. Plötzlich stand er auf und ging ans Fenster, zog die Vorhänge auf und schaute gespannt hinaus, als gäbe es draußen etwas anderes zu sehen als blinden Nebel.

»Hat sie sonst noch etwas gesagt?« fragte er, ohne sich umzuwenden.

»Sie hat mich gebeten, für den kleinen Beau zu sorgen, und ich habe versprochen, er soll sein wie mein eigener Junge.«

»Was sonst noch?«

»Sie sagte ... Ashley ... sie bat mich, ich möge mich auch um ihn kümmern.«

Einen Augenblick schwieg er, dann lachte er leise.

»Es ist wohl sehr bequem, die Einwilligung der ersten Frau zu haben, nicht wahr?«

»Was soll das heißen?«

Er drehte sich um, und in all ihrer Verwirrung überraschte es sie, daß in seinem Gesicht keinerlei Spott zu finden war. Es lag kaum mehr Anteil darin als in dem Gesicht eines Menschen, der sich den letzten Akt einer nicht besonders unterhaltsamen Komödie ansieht.

»Ich sollte denken, das ist deutlich genug. Miß Melly ist tot. Beweise hast du genug, um gegen mich auf Scheidung zu klagen. Dein Ruf ist nicht mehr derart, daß eine Scheidung dir noch viel schaden könnte. Von Religion ist dir nicht viel geblieben, auf die Kirche kommt es also nicht an. Nur zu. Der Traum verwirklicht sich, und Miß Mellys Segen habt ihr obendre in.«

»Scheidung?« rief sie. »Nein, nein!« Ihre Gedanken gingen wild durcheinander, sie sprang auf, stürzte auf ihn zu und packte ihn am Arm. »Ach, das ist ja alles ganz falsch! Entsetzlich falsch! Ich will mich nicht scheiden lassen, ich ...« Sie brach ab, denn sie fand keine Worte mehr.

Er faßte sie unters Kinn, hob ihr das Gesicht sacht in den Lampenschein und blickte ihr gespannt in die Augen. Sie schaute zu ihm empor, in ihren Augen lag ihr ganzes Herz. Ihre Lippen bebten, als sie zu sprechen versuchte, aber die Worte gehorchten ihr nicht Sie suchte in seinen Zügen nach einer Antwort auf ihr Gefühl, suchte, ob nicht ein Funke von Hoffnung und Freude darin aufspringe. Jetzt mußte er doch wissen, wie es in ihr aussah! Aber ihre suchenden verlangenden Augen fanden nichts, nur die matte dunkle Leere, die sie so oft zurückgescheucht hatte. Er ließ ihr Kinn los, wendete sich ab und sank wieder müde in seinen Stuhl. Die Glieder streckte er von sich, das Kinn fiel ihm auf die Brust, seine Augen blickten unter den schwarzen Brauen teilnahmslos und nur sachlich forschend zu ihr auf.

Sie folgte ihm und stand mit ineinandergekrampften Fingern vor ihm.

»Du hast dich geirrt«, fing sie wieder an und fand endlich Worte. »Rhett, heute abend, als ich es erkannte, bin ich den ganzen Weg nach Hause gerannt, umes dir zu sagen. Ach, Lieber, ich ...«

»Du bist müde«, sagte er und beobachtete sie noch immer. »Du solltest lieber zu Bett gehen.«

»Aber ich muß es dir sagen!«

»Scarlett«, erwiderte er trostlos, »ich will nichts hören. «

»Aber du weißt ja nicht, was ich dir sagen will.«

»Mein Herz, es steht deutlich genug auf deinem Gesicht geschrieben. Irgend etwas, irgend jemand hat dich zu der Einsicht gebracht, daß der unselige Mr. Wilkes eine taube Nuß ist, so taub, daß nicht einmal du davon satt wirst. Und das gleiche Etwas hat dir mich plötzlich in ein neues verlockendes Licht gesetzt.« Er seufzte ein wenig. »Jetzt hat es keinen Zweck mehr, davon zu reden.«

Scharf zog sie den Atem vor Überraschung ein. Er hatte sie bisher immer mühelos durchschaut. Immer hatte sie ihm deshalb gegrollt, doch nach dem ersten Schreck darüber, daß sie ihm nichts zu verhehlen vermochte, fühlte sie sich jetzt erlöst und von Herzen froh. Er verstand sie, ihr Vorhaben wurde ihr auf wunderbare Weise erleichtert. Es hatte keinen Zweck, davon zu reden! Natürlich war er bitter geworden, weil sie ihn so vernachlässigt hatte, natürlich mißtraute er der plötzlichen Wandlung ihres Herzens. Jetzt mußte sie ihn mit Güte umwerben, mit Liebe überzeugen. Wie gern wollte sie das!

»Liebster, ich will es dir alles sagen.« Sie stützte sich auf die Armlehne seines Stuhles und beugte sich über ihn. »Ich war auf falschen Wegen, auf dummen und törichten ...«

»Scarlett, laß das. Demütige dich nicht vor mir, das kann ich nicht ertragen. Laß uns zum Andenken an unsere Ehe wenigstens ein klein wenig Würde und Haltung übrig. Erspar uns dies Letzte.«

Jäh richtete sie sich auf. Dies Letzte? Was meinte er damit? Dies Letzte? Dies war ja das Erste, jetzt fing es erst an!

»Ich will es dir aber sagen«, begann sie hastig, als fürchtete sie, er könne ihr die Hand auf den Mund legen, damit sie schweige. »Ach, Rhett, Geliebter, ich liebe dich ja so sehr. Seit Jahren muß ich dich geliebt haben und war nur so dumm, daß ich es nicht wußte. Du mußt mir glauben.«

Er sah sie an, wie sie da vor ihm stand, mit einem Blick, daß es ihr bis ins innerste Herz drang. Wohl lag Glauben in seinen Augen, Teilnahme aber kaum.

Wollte er denn wirklich noch jetzt boshaft gegen sie sein, sie quälen und ihr mit eigener Münze heimzahlen?

»Gewiß, ich glaube dir«, sagte er endlich, »aber wie steht es mit Ashley Wilkes?«

»Ashley?« Sie machte eine ungeduldige Bewegung. »An ihm liegt mir schon seit Ewigkeiten nichts mehr. Es war ein Traum aus meiner Mädchenzeit, von dem ich mich nicht losmachen konnte. Rhett, mit keinem Gedanken hätte ich mehr an ihn gedacht, hätte ich eher gewußt, was er in Wirklichkeit ist. Er ist ja nur ein hilfloses, verzagtes Geschöpf bei all seinen Worten von Wahrheit und Ehre ...«

»Nein«, sagte Rhett, »wenn du ihn durchaus sehen willst, wie er ist, so sieh ihn auch richtig. Er ist nur ein Gentleman, gefangen in einer Welt, in die er nicht gehört, und er versucht nun, nach den Gesetzen einer vergangenen Welt das wenige daraus zu machen, was er vermag.«

»Ach, Rhett, laß uns nicht von ihm sprechen. Was liegt jetzt an ihm? Freust du dich denn nicht, jetzt, da ich ...«

Als seine müden Augen sie ansahen, brach sie verlegen ab, verschämt wie ein Mädchen vor ihrem ersten Verehrer. Wenn er es ihr doch nur leichter machen wollte! Ach, wenn er doch nur die Arme ausbreiten würde, damit sie ihm dankbar den Kopf an die Brust legen konnte! Ruhten ihre Lippen erst auf den seinen, so würden sie beredter sein als all ihr Gestammel. Aber als sie ihn anschaute, erkannte sie, daß er nicht aus Bosheit so kühl war. Völlig ausgebrannt sah er aus, als könne von allem, was sie sagte, nichts mehr Eindruck auf ihn machen.

»Freuen«, sagte er. »Einst hätte ich Gott mit Fasten gedankt, wenn ich solche Worte aus deinem Munde gehört hätte. Aber jetzt liegt mir nichts mehr daran.«

»Dir liegt nichts daran? Rhett, was redest du? Natürlich liegt dir daran! Du hast mich doch lieb! Melly hat es ja gesagt.«

»Sie hatte recht, soweit sie es begreifen konnte. Aber, Scarlett, ist dir nie der Gedanke gekommen, daß auch die standhafteste Liebe sich einmal erschöpft?«

Sprachlos sah sie ihn an. Ihr Mund war zum »0« gerundet, aber sie brachte keinen Laut hervor.

»Meine ist nun erschöpft«, fuhr er fort. »An Ashley Wilkes und deiner wahnsinnigen Starrköpfigkeit, mit der du wie eine Bulldogge festhältst, was du dir in den Kopf gesetzt hast ... daran hat sie sich erschöpft.«

»Liebe kann sich doch nicht erschöpfen.«

»Deine Liebe zu Ashley hat es auch getan.«

»Aber ich habe ihn in Wirklichkeit doch gar nicht geliebt!«

»Jedenfalls hat es bis heute abend so ausgesehen. Scarlett, ich schelte nicht, ich klage dich nicht an. Die Zeiten sind vorbei. Deshalb erspare mir auch, was du zu deiner Erklärung und Verteidigung sagen willst. Wenn du imstande bist, mir ein paar Minuten zuzuhören, ohne mich zu unterbrechen, will ich dir gern auseinandersetzen, was ich meine, obwohl ich gar keinen Anlaß zu Erklärungen sehe. Es ist doch alles so einfach.«

Sie setzte sich, grell fiel das Gaslicht auf ihr bleiches verstörtes Gesicht. Sie sah in die Augen, die sie so gut und doch so wenig kannte, und lauschte seiner ruhigen Stimme, zunächst ohne das geringste Verständnis. Dies war das erstemal, daß er von Mensch zu Mensch mit ihr sprach, schlicht, wie andere Menschen, auch ohne Stichelei und Spötterei, ohne Rätsel.

»Bist du denn nie auf den Gedanken gekommen, daß ich dich geliebt habe, wie ein Mann eine Frau nur lieben kann? Schon jahrelang, ehe ich dich endlich bekam? Während des Krieges bin ich fortgegangen und habe versucht, dich zu vergessen, aber ich konnte es nicht und mußte immer wieder zu dir zurück. Nach dem Kriege kam ich, auf die Gefahr hin, verhaftet zu werden, zurück, um dich zu suchen. Ich hatte dich so lieb, daß ich vielleicht Frank Kennedy erschossen hatte, wenn er damals nicht gestorben wäre. Ich liebte dich, aber du durftest es nicht wissen. Du verfährst unmenschlich mit dem, der dich liebt. Du läßt dir seine Liebe gefallen und schlägst sie ihm wie eine Peitsche umden Kopf.«

Aus alledem hörte sie nur heraus, daß er sie liebte, und hatte an dem leisen Nachhall von Leidenschaft in seiner Stimme plötzlich wieder ein erregtes Gefallen. Sie hielt den Atem an, lauschte und wartete.

»Ich wußte, daß du mich nicht liebtest, als wir heirateten, ich wußte ja von Ashley, aber ich Tor hatte geglaubt, ich könnte es erreichen, daß du mich mit der Zeit liebgewännest. Lach mich nur aus, wenn du willst. Sieh, ich wollte für dich sorgen, dich verwöhnen, dir schenken, was du dir wünschtest. Ich wollte dich heiraten, dich beschützen und dir in allem, was dich glücklich machte, deine Freiheit lassen, wie ich es dann später bei Bonnie getan habe. Du hattest es so schwer gehabt, Scarlett. Niemand wußte besser als ich, was du durchgemacht hattest. Du solltest nun nicht länger kämpfen. Ich wollte es dir abnehmen. Spielen solltest du wie ein Kind, denn du warst ja ein tapferes, banges, eigensinniges Kind, und das bist du wohl auch jetzt noch. So starrköpfig und so empfindungslos kann nur ein Kind sein.«

Seine Stimme klang ruhig und müde, aber es lag etwas darin, was sie undeutlich an etwas erinnerte. Eine solche Stimme hatte sie schon einmal gehört, an einem anderen Wendepunkt ihres Lebens. Wo war das doch gewesen? Die Stimme eines Mannes, der ohne Erregung, ohne Schwanken und ohne Hoffnung sich selbst und seine Welt ins Auge faßte?

Ach ja ... Ashley war es gewesen, damals in dem winterlichen, sturmdurchfegten 0bstgarten auf Tara, als er vom Leben und seinen Schattenspiel in einer müden Unbewegtheit sprach, die hoffnungsloser klang als bittere Verzweiflung. Wie ihr damals ein Grauen angekommen war, so machte ihr jetzt auch Rhetts Ton das Herz bleischwer. Seine Stimme, seine Art noch mehr als seine Worte beunruhigten sie und zeigten ihr, daß die freudige Erregung, die sie soeben empfunden hatte, zur Unzeit gekommen war. Hier stimmte etwas nicht. Sie wußte nicht, was es war, aber gespannt hörte sie ihm zu, und ihre Augen hingen an seinem braunen Gesicht, ob er nicht etwas sage, was ihr die Angst wieder vertriebe.

»Es lag doch auf der Hand, daß wir füreinander bestimmt waren. Aus deiner ganzen Bekanntschaft konnte nur ich dich lieben, nachdem ich dich erkannt hatte, wie du wirklich bist, hart, habgierig, gewissenlos wie ich. Ich liebte dich und versuchte mein Heil. Ich dachte, Ashley würde in deinem Herzen allmählich verblassen.« Er zuckte die Achseln.

»Ich habe alles versucht, was mir einfiel, und nichts schlug an. Und ich liebte dich so sehr, Scarlett. Hättest du es nur zugelassen, ich hätte dich so sanft und zärtlich geliebt, wie ein Mann eine Frau nur lieben kann. Aber du durftest es nicht wissen, sonst hättest du mich für schwach gehalten und meine Liebe gegen mich ausgespielt. Und immer und überall war Ashley. Es machte mich wahnsinnig. Ich konnte nicht Abend für Abend mit dem Bewußtsein mit dir am Tisch sitzen, daß du wünschtest, an meinem Platz säße er. Ich konnte dich nicht in der Nacht in den Armen halten und zugleich wissen ... einerlei, jetzt liegt nichts mehr daran. Ich begreife kaum noch, wie es mir hat weh tun können. Siehst du, das hat mich zu Belle getrieben. Es liegt eine gewisse tierhafte Beruhigung darin, eine Frau bei sich zu haben, die einen ohne Rückhalt liebt und Hochachtung vor einem hat, weil man ein so feiner Gentleman ist, wenn sie auch eine ungebildete Dirne sein mag. Es tröstet die Eitelkeit. Du warst nie sehr tröstlich, liebe Scarlett.«

»Ach, Rhett«, fing sie an. Daß er die Rede auf Belle gebracht hatte, machte sie vollends unglücklich. Aber er winkte ihr zu schweigen, und fuhr fort.

»Dann kam die Nacht, da ich dich hinauftrug ... da dachte ich ... da hoffte ich ... und hoffte so sehr, daß ich mich schämte, dir am nächsten Morgen zu begegnen, aus Angst, ich hätte mich geirrt und du liebtest mich doch nicht. Ich hatte solche Angst, du könntest mich auslachen, daß ich davonging und mich betrank. Als ich zurückkam, zitterte ich am ganzen Leibe. Wärest du mir nur halbwegs entgegengekommen und hättest mir das kleinste Zeichen gegeben, ich hätte dir die Füße geküßt. Aber es geschah nichts.«

»Aber Rhett, ich habe ja so nach dir verlangt damals, aber du warst so schrecklich! Ja, nach dir verlangt habe ich! Ich habe zum erstenmal gewußt, damals, daß ich dich liebhatte. Ashley war mir seither verleidet, du aber warst so schrecklich zu mir, daß ich ...«

»Nun ja«, sagte er, »dann haben wir uns also mißverstanden. Und jetzt liegt nichts mehr daran. Ich erzähle es dir nur, damit du dir nie wieder Gedanken über all das zu machen brauchst. Als du krank warst, krank durch meine Schuld, stand ich draußen vor deiner Tür und hoffte, du würdest mich rufen. Aber du riefst mich nicht. Da sah ich ein, was für ein Tor ich gewesen war, und alles war vorbei.«

Er schwieg und schaute durch sie hindurch in ein Jenseits, wie Ashley es so oft getan hatte, und sah etwas, was sie nicht sah. Ihr blieb nichts übrig, als ihm wortlos in sein gramvolles Gesicht zu schauen.

»Aber dann kam Bonnie, und es war doch noch nicht alles aus. Ich gefiel mir in dem Gedanken, Bonnie seist du, du als kleines Mädchen, unberührt von Armut und Krieg. Sie glich dir ganz, sie war eigensinnig, tapfer, lustig und temperamentvoll. Ich konnte sie verziehen und verwöhnen, wie ich dich verwöhnen wollte. Aber sie war nicht wie du ... sie hatte mich lieb. Für mich war es ein Segen, daß ich die Liebe, die du nicht wolltest, ihr schenken konnte. Nun hat sie alles mit sich weggenommen.«

Auf einmal tat er ihr so von ganzem Herzen leid, daß sie ihren eigenen Kummer und die bange Frage, worauf seine Worte wohl hinauswollten, darüber vergaß. Zum erstenmal im Leben tat ihr jemand leid, ohne daß sie ihn zugleich verachten mußte, weil es das erstemal war, daß sie überhaupt einen anderen Menschen von fern zu verstehen begann. Sie konnte seine schroffe Verschlossenheit verstehen, weil sie ihrer eigenen so sehr glich, seinen widerhaarigen Stolz, der ihn zwang, seine Liebe zu verbergen, damit sie umGottes willen nicht zurückgestoßen werde.

»Ach, Geliebter!« Sie trat herzu und hoffte, er werde doch seine Arme ausbreiten und sie auf seine Knie ziehen. »Geliebter, ich bin so tief unglücklich, aber ich will es alles wiedergutmachen. Nun wissen wir voneinander, können glücklich sein ... Rhett, sieh mich an, Rhett! Es können noch Kinder ... nicht wie Bonnie, sondern ...«

»Nein, danke«, sagte Rhett, als lehnte er ein angebotenes Stück Brot ab. »Zumdrittenmal setze ich mein Herz nicht aufs Spiel.«

»Rhett, sprich doch nicht so! Ach, wie kann ich es dir nur begreiflich machen. Ich habe dir doch gesagt, wie leid es mir tut.«

»Liebling, du bist ein Kind. Du meinst, wenn du sagst >Verzeih<, dann seien die Wunden und Irrungen von Jahren geheilt und alles sei vergessen und gut ... Nimm mein Taschentuch, Scarlett, ich habe noch nie erlebt, daß du in irgendeiner schweren Stunde deines Lebens ein Taschentuch bei dir gehabt hättest.«

Sie nahm das Taschentuch, putzte sich die Nase und setzte sich wieder. Er wollte sie also nicht in die Arme nehmen. Allmählich wurde ihr klar, daß alles, was er von seiner Liebe sagte, nichts mehr bedeutete. Es war ein Märchen aus vergangener Zeit, das er sich betrachtete, als hätte er es nicht selber erlebt. Das war furchtbar. Fast gütig sah er sie mit seinen nachdenklichen Augen an.

»Wie alt bist du, Kind? Du hast es mir nie sagen wollen.«

»Achtundzwanzig«, sagte sie undeutlich in ihr Taschentuch hinein.

»Das ist kein Alter. Du bist noch sehr jung dafür, daß du die ganze Welt gewonnen und deine Seele dabei verloren hast, findest du nicht auch? Mach nicht ein so angstvolles Gesicht. Ich meine damit nicht, daß du wegen deiner Affäre mit Ashley in die Hölle kommst, ich meine es nur bildli ch. Seitdem ich dich kenne, hast du zweierlei gewollt: Ashley und so viel Geld, daß dir die ganze übrige Welt gestohlen bleiben konnte. Reich genug bist du jetzt, der Welt hast du deutlich deine Meinung gesagt, und Ashley kannst du haben, wenn du willst. Aber es sieht mir nicht so aus, als ob du nun zufrieden seiest.«

Sie ängstigte sich, aber es war nicht die Angst vor dem Höllenfeuer. Sie dachte: »Meine Seele ist ja Rhett, und ihn verliere ich. Wenn ich ihn aber verliere, ist mir alles andere nichts mehr wert. Wenn ich ihn nur hätte, wäre es mir sogar recht, wieder arm zu sein. Dann schadete es nichts, wenn mich wieder fröre und hungerte. Er kann doch nicht sagen wollen ... nein, das kann er nicht!«

Sie trocknete sich die Augen und sagte in ihrer Herzens angst:

»Rhett, wenn du mich einmal so sehr geliebt hast, so muß doch irgend etwas davon noch übrig sein.«

»Zweierlei, sehe ich, ist mir aus allem geblieben. Gerade das, was dir am meisten verhaßt ist ... Mitleid, und eine seltsame Regung von Güte.«

Mitleid! Güte? »0 mein Gott«, dachte sie verzweifelt, »alles andere, nur nicht Mitleid und Güte.« Jedesmal, wenn sie diese beiden Gefühle für jemand empfunden hatte, so waren sie von Verachtung begleitet gewesen. Verachtete er sie auch? Alles wäre ihr lieber als das, selbst seine zynische Kühle aus der Kriegszeit, die trunkene Tollheit, die ihn, mit ihr auf dem Arm, die Treppe hinauf jagte, damals in der Nacht, als seine rohen Hände ihr weh taten, oder auch die bissigen Worte, die, wie sie jetzt erkannte, nur der verschämte Ausdruck einer wirklichen Liebe gewesen waren. Alles, nur nicht die unpersönliche Güte, die ihm jetzt deutlich auf dem Gesicht geschrieben stand!

»Du willst also damit sagen, daß ich alles zertrümmert habe ... und daß du mich nicht mehr liebst .«

»So ist es.«

»Aber«, sagte sie hartnäckig wie ein Kind, das immer noch meint, wenn es seinen Wunsch ausspreche, sei er schon erfüllt, »ich liebe dich doch!«

»Dann ist das dein Unglück.«

Geschwind blickte sie auf, ob wohl Spott hinter diesen Worten steck te, aber nein, er stellte nur die Tatsache fest. Allein, die Tatsache wollte und konnte sie nimmermehr glauben. Mit ihren schrägen Augen, die in herzbrechendem Eigensinn glühten, sah sie ihn an. Der harte Umriß ihres Unterkiefers, der sich plötzlich in ihren weichen Wangen abzeichnete, war ganz Geralds.

»Mach keinen Unsinn, Rhett! Ich kann dich ...«

In spöttischem Entsetzen hob er die Hand, die schwarzen Brauen zogen sich empor zu ihrem alten höhnischen Halbrund.

»Mach nicht ein gar so energisches Gesicht, Scarlett. Du jagst mir Angst ein. Ich sehe, du hast vor, deine stürmischen Gefühle für Ashley auf mich zu übertragen, und mir bangt um meine Freiheit und meine Gemütsruhe. Nein, Scarlett, ich lasse mich nicht verfolgen wie der unglückselige Ashley. Übrigens fahre ich weg.«

Ihr zitterte das Kinn, Sie verbiß es sich mit Gewalt. Weg? Nur das nicht! Wie konnte sie ohne ihn weiterleben? Alle waren sie weggegangen, an denen ihr lag, bis auf Rhett. Er durfte es nicht. Aber wie sollte sie ihn halten? Gegen seine kühle Überlegenheit, seine gleichmütigen Worte war sie machtlos.

»Ich gehe weg. Ich wollte es dir sagen, wenn du aus Marietta zurückkamst.«

»Duverläßt mich?«

»Spiel nicht die tragische verlassene Frau, Scarlett, die Rolle steht dir schlecht. Du willst also keine Scheidung, nicht einmal eine Trennung. Gut, dann komme ich so oft zurück, daß es kein Gerede gibt.«

»Was schert mich das Gerede«, rief sie trotzig. »Dich will ich, nimm mich mit!«

»Nein«, erwiderte er. Es klang unwiderruflich. Sie war nahe daran, in kindische, ungestüme Tränen auszubrechen. Auf den Boden hätte sie sich werfen mögen und fluchen und schreien und mit den Füßen trampeln. Aber ein Rest von Stolz und Vernunft hielt sie zurück. »Wenn ich das tue«, dachte sie, »lacht er mich nur aus und schaut ruhig zu. Ich darf nicht heulen, ich darf nicht betteln, ich darf nichts tun, was seine Verachtung erregt. Er muß mich wenigstens achten, auch wenn er mich nicht mehr liebt« Sie warf das Kinn empor und brachte ganz ruhig heraus: »Wohin fährst du?«

Etwas wie Bewunderung blitzte in seinen Augen auf, als er antwortete.

»Vielleicht nach England ... oder nach Paris; vielleicht auch nach Charleston, ummich mit den Meinen auszusöhnen.«

»Aber du haßt sie doch! So oft hast du über sie gelacht, und nun ...« Er zuckte die Achseln.

»Ich lache auch heute noch über sie, aber ich bin des Herumstreichens müde, Scarlett. Ich bin jetzt fünfundvierzig, in dem Alter beginnt der Mensch einiges zu schätzen, was er in der Jugend leichtsinnig verworfen hat, Familienzusammengehörigkeit, Ehre und Sicherheit. Die Wurzeln gehen tief ... nein! Ich widerrufe nichts, ich bereue nichts, was ich getan habe. Ich habe mein Leben verteufelt genossen, so sehr, daß es anfängt, langweilig zu werden, und ich mich nach etwas anderem umsehe. Mi ch verlangt nach dem äußeren Schein des Altvertrauten, nach tief verschlafener Ehrbarkeit, nach der Ehrbarkeit anderer Leute, mein Herz, nicht nach meiner eigenen; nach der ruhigen Würde, die das Leben unter den vornehmen Leuten haben kann, nach der heiteren Anmut vergangener Jahre. Als ich jene Zeiten durchlebte, ist mir ihr gelassener Zauber nicht aufgegangen ...«

Wieder war Scarlett in dem windigen 0bstgarten auf Tara, wieder hatten Rhetts Augen denselben Ausdruck wie damals Ashleys. Ashleys Worte klangen ihr so deutlich in den 0hren, als spräche jetzt er und nicht Rhett. Einzelne Worte kamen ihr wieder, und wie ein Papagei plapperte sie aus der Erinnerung nach: »Ein Ebenmaß lag darüber wie über der griechischen Kunst.«

Rhett fragte scharf: »Wie kommst du darauf? Gerade das habe ich ja ausdrücken wollen.«

»Das hat ... Ashley einmal von den alten Zeiten gesagt.«

Er zuckte die Achseln, in seinen Augen erlosch der Glanz wieder.

»Immer wieder Ashley«, sagte er und verstummte. Dann begann er von neuem.

»Scarlett, wenn du fünfundvierzig Jahre alt bist, verstehst du vielleicht, was ich meine, und hast dann am Ende all die unechte Vornehmheit und die neureichen Manieren und billigen Gefühle satt. Allerdings zweifle ich auch wieder daran. Dich wird wohl immer der Glanz noch mehr locken als das Gold. Aber ich kann nicht darauf warten und will es auch nicht. Es interessiert mich nicht. Ich will in alten Städten und alten Ländern herumspüren, ob nicht dort noch etwas von den alten Zeiten übriggeblieben ist. Ja, so sentimental bin ich. Atlanta ist mir zu roh und zu neu.«

»Hör auf«, sagte sie plötzlich. Sie hatte kaum zugehört und jedenfalls nichts in sich aufgenommen, aber sie hatte nicht länger die Kraft, seine Stimme ohne jeden Klang von Liebe über sich ergehen zu lassen.

Er schwieg und sah sie belustigt an.

»Verstehst du, was ich meine?« fragte er und stand auf.

Mit der uralten Gebärde des Flehens streckte sie ihm die offenen Hände entgegen, und wieder lag ihr ganzes Herz in ihrem Gesicht.

»Nein, ich weiß nur, daß du mich nicht mehr liebst und daß du weggehst. Ach, Lieber, wenn du gehst, was fange ich nur an?«

Einen Augenblick schwankte er, als erwöge er, ob nicht eine freundliche Lüge wohltätiger wäre als die Wahrheit. Dann zuckte er die Achseln.

»Scarlett, es hat mir nie gelegen, Scherben aufzusammeln und zusammenzukleben und mir einzureden, das geflickte Ganze sei so gut wie neu. Was zerbrochen ist, ist zerbrochen. Lieber denke ich daran zurück, wie es in seinen besten Augenblicken war, als daß ich es kitte und mir die Bruchstellen ansehe, solange ich lebe. Wenn ich jünger wäre ... vielleicht ...«, seufzte er. »Ich bin zu alt, um an solche Gefühlsseligkeiten wie an den reinen Tisch und den neuen Anfang zu glauben. Ich bin zu alt, die Last der beständigen Lüge auf mich zu nehmen, die ein Leben höflicher Illusionslosigkeit mit sich bringt. Ich könnte nicht mit dir leben und aufrichtig gegen dich sein. Nicht einmal jetzt vermag ich dir etwas vorzulügen. Ich wollte wohl, ich könnte es mir sehr zu Herzen nehmen, was du tust und was aus dir wird, aber es geht nicht.«

Er seufzte kurz auf und sagte leichthin, aber weich:

»Mein Kind, es ist mir ganz gleichgültig!«

Schweigend sah sie ihm nach, wie er die Treppe hinauf schritt und meinte, sie müsse an dem Schmerz in ihrer Kehle ersticken. Dann verklang droben im Flur mit seinen Schritten das letzte, woran in dieser Welt noch ihr Herz hing. Jetzt wußte sie, daß nichts, kein Argument des Gefühls noch der Vernunft, diesen kühlen Kopf von seiner Entscheidung abbringen würde. Wort für Wort hatte er bitter ernst gemeint, so leichthin er auch einiges gesprochen hatte. Sie spürte es deutlich, weil sie in ihm das Unbeirrbare und Unerbittliche erkannte, das sie in Ashley vergebens gesucht hatte.

Von den beiden Männern, die sie geliebt, hatte sie keinen verstanden und darum beide verloren. Undeutlich dämmerte es ihrem Bewußtsein, daß sie Ashley nie geliebt und Rhett nie verloren hätte, hätte sie sie je verstanden. Hatte sie überhaupt einen Menschen jemals verstanden?

Eine barmherzige Stumpfheit senkte sich auf sie. Aber aus langer Erfahrung wußte sie, daß ihr alsbald der bittere Schmerz auf dem Fuße folgen mußte, gleichwie zerrissenes Gewebe unter dem Messer des Chirurgen einen kurzen Augenblick unempfindlich bleibt, ehe die Qual ei nsetzt.

»Ich will jetzt nicht daran denken!« Verzweifelt nahm sie auch jetzt wieder ihre Zuflucht zu der alten Zauberformel. »Denke ich jetzt darüber nach, daß ich ihn verloren habe, so werde ich wahnsinnig. Ich tue es morgen.«

»Aber«, schrie ihr Herz dann auf in seinem frischen Weh und verdrängte den Zauber, »aber ich kann ihn so nicht gehen lassen! Ich muß ihn zurückhalten, es muß doch ein Mittel geben ...«

»Ich will jetzt nicht daran denken!« sagte sie laut vor sich hin und suchte ihr Herz vor dem aufsteigenden Schmerze zu schützen. »Ich will ... ich will ... ja, morgen will ich heimfahren nach Tara!« Und ihre Lebensgeister regten sich leise von neuem.

Einst war sie in Angst und Demütigung nach Tara zurückgekehrt und aus seinen schützenden Mauern stark und siegbereit wieder hervorgegangen. Was ihr einmal gelungen war, mußte wieder gelingen - so es Gott gefiel! Wie das zugehen sollte, darüber dachte sie freilich nicht nach. Nur eine Atempause wollte sie für ihren Schmerz, eine ruhige Stätte, sich die Wunden zu lecken, einen Hafen, einen neuen Feldzugsplan ungestört zu entwerfen. Als sie so an Tara dachte, war ihr, als lege sich eine leise kühlende Hand auf ihr wundes Herz. Sie sah das weiße Haus vor sich, wie es grüßend aus dem rötlichen Herbstlaub schimmerte; die Stille der ländlichen Dämmerung kam über sie gleich einem Segen, sie spürte den Tau, der felderweit auf die grünen, weiß besternten Stauden herniedersank, und vor ihrem Auge stand die blutrote Erde mit der düsteren Schönheit der Kiefern auf den wogenden Hügeln.

Dieses Bild gab ihr Trost und neue Kraft, und unmerklich schwand die qualvolle, wilde Reue. Einzelheiten tauchten deutlicher vor ihr auf - die dunkle Zedernallee, die nach Tara hinaufführte, die Jasminbüsche, deren saftiges Grün sich von den weißen Mauern abhob, die wehenden weißen Vorhänge. Und Mammy war da! Plötzlich empfand sie ein inbrünstiges Verlangen nach Mammy, wie früher, da sie noch ein kleines Mädchen war, und sehnte sich danach, ihren Kopf an die breite Brust zu legen und die rauhe schwarze Hand auf ihrem Scheitel zu fühlen. Mammy, das letzte, was sie noch mit den alten Zeiten verband!

Mit dem Trotze ihrer Vorfahren, die auch niemals eine unausweichliche Niederlage hinnahmen, warf sie das Kinn empor. Sie konnte Rhett zurückgewinnen. Sie wußte, daß sie es konnte. Es hatte noch keinen Mann gegeben, den sie nicht hätte gewinnen können, wenn sie es sich vorgenommen hatte.

»Morgen auf Tara will ich über das nachdenken. Dann werde ich es ertragen. Morgen wird mir schon einfallen, wie ich ihn mir wieder erobere. Schließlich, morgen ist auch ein Tag.«

(Video) ►Fackeln im Sturm◄ Staffel 1, Folge 6 "Deutsch"

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Author: Delena Feil

Last Updated: 20/05/2023

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